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Können wir geben? Über die Singularität der Gabe

Von Manuel Güntert

Vor geraumer Zeit habe ich an dieser Stelle einen Artikel über die Möglichkeit eines rein moralischen Handelns publiziert. Er baut auf Überlegungen aus dem Buch „Falschgeld“ des französischen Philosophen Jacques Derrida auf. Dieser wirft dort die Frage auf, ob wir geben können. Um darzulegen, weshalb diese scheinbar so triviale Angelegenheit von eminenter Bedeutung ist, soll noch einmal auf seine Argumentation eingegangen werden. Für Derrida ist es Bedingung der Existenz der Gabe, dass das Gegebene der Gabe nicht zu dem Gebenden zurückkehrt. Dazu darf sie nicht zirkulieren, nicht getauscht werden, auf keinen Fall darf sie sich verschleißen lassen im Prozess des Tausches, in der kreisförmigen Zirkulationsbewegung einer Rückkehr zum Ausgangspunkt. Dem „ewigen Spiel“ von Gabe und Gegengabe müsste also Einhalt geboten werden, denn ist die Gabe, wenn es sie gibt, nicht auch gerade das, was die Ökonomie unterbricht?[1]

Deshalb wäre es nötig, dass der Gabenempfänger nicht zurückgibt, nicht begleicht, nicht tilgt, nicht abträgt, keinen Vertrag schließt und niemals in ein Schuldverhältnis tritt. Die Unterbrechung des Kreislaufes muss absolut sein. Letztlich darf der Gabenempfänger die Gabe nicht einmal als Gabe an-erkennen. Wenn er sie als Gabe an-erkennt, wenn die Gabe ihm als solche erscheint, wenn das Präsent ihm als Präsent präsent ist, genügt diese bloße An-erkennung, um die Gabe zu annullieren. Die Anerkennung annulliert, weil sie der Sache selbst ein symbolisches Äquivalent zurückgibt. Um die Gabe als solche zu unterminieren, reicht es, dass der andere die Gabe wahrnimmt, und zwar nicht einmal in dem Sinne, wie man eine günstige Gelegenheit wahrnimmt, nein, er muss bloß ihre Gabennatur als solche wahrnehmen, den Sinn oder die Intention, den intentionalen Sinn der Gabe, damit dieses bloße Erkennen der Gabe als Gabe, noch bevor es zu einer Anerkennung als Dankbarkeit wird, die Gabe als Gabe annulliert. Die bloße Identifikation als Gabe scheint sie zu zerstören.

Die Gabe als Gabe dürfte letztlich nicht als Gabe erscheinen, weder dem Gabenempfänger noch dem Geber: Gabe als Gabe kann es nur geben, wenn sie nicht als Gabe präsent ist. Sobald der Empfänger annimmt, sobald er nimmt, gibt es keine Gabe mehr. Folglich gibt es keine Gabe, wenn es keine Gabe gibt, aber eine Gabe gibt es auch dann nicht, wenn es eine Gabe gibt, die vom anderen als Gabe gewahrt oder bewahrt wird; in jedem Fall existiert und erscheint die Gabe nicht. Wenn sie erscheint, erscheint sie nicht mehr.[2] Eine reine, von jedem Empfänger unberührte Gabe gäbe es einzig dann, wenn sie von ihrem Empfänger unberührt bliebe. Sie dürfte nicht als Gabe angenommen werden, ja überhaupt keine Gabe sein.[3] Die Gabe ist damit das, was von Anfang an unmöglich ist. Da es sie nicht geben kann, ohne dass in ihr Gegebenwerden bereits eine Rückgabe irgendwelcher Art involviert ist, gibt es die Gabe nicht.

Dass es immer und zwingend Rück-Gabe gibt, bedeutet nichts anderes, als dass diese Rück-Gabe der Gabe in den Konsequenzen, die sie notwendig zeitigt, vorangeht. Ob der Geber das nun will oder nicht: Die Gabe ist, bevor sie gegeben wird, von der immer erfolgenden Rückgabe bedingt. Die Kausalitäten erscheinen einem nur verkehrt: Da die Gabe gar nicht anders kann, als auf ihre Erwiderung hin gegeben zu werden, ist sie als das nur vermeintlich Erste tatsächlich von Anfang an von der Rück-Gabe bedingt.[4] Diese löst sie erst und eigentlich aus. Wird die Gabe von irgendjemanden als solche erkannt, hat sie ihr Dasein als solche bereits verwirkt. Um aber überhaupt sein zu können, was zu sein, sie beabsichtigt, muss sie zwingend als solche erscheinen, also von jemanden erkannt werden. Die Gabe wird folglich bereits vom Gedanken an sie annulliert.

 

Warum ist die Frage wichtig, ob wir geben können?

Die Frage, warum es überhaupt relevant sein soll, ob wir geben können oder nicht, ist damit nicht geklärt. Mir beispielsweise scheint das immerhin wichtig genug zu sein, die Öffentlichkeit zum wiederholten Male damit zu penetrieren. Handelt es sich um eine zwar irgendwie nette, insgesamt jedoch eher sinnbefreite Gedankenakrobatik oder steckt da mehr dahinter? Prüfen wir das. Eine bedingungslose Ökonomie – eine Gabe ohne Gegengabe – wäre dann etabliert, wenn eine völlig reibungslose Verbindung von einem Menschen zu einem anderen gewährleistet wäre. Nur wäre dafür ein Zustand vonnöten, in dem wir gar nicht mehr wissen, ob bzw. dass wir geben, und eine Gabe, die sich nicht als solche zur Kenntnis nehmen kann, ist keine. Die Denkbewegung muss die Handlung des Gebens nachvollziehen können, tut sie das aber, kann sie gar nicht anders, als die Gabe als Gabe zu annullieren. Das leitet zum Schluss, dass der prüfende Verstand selbst das ist, was der Existenz der Gabe im Weg steht und zwar, weil er ihre Bedingungen prüft.

Derridas scharfer Verstand rechnet sehr genau, um schließlich festzustellen, dass die Rechnung nicht – ganz – aufgeht. Der Grund dafür liegt in dem, was da rechnet, selbst. Geben könnten wir folglich allenfalls dann, wenn wir von der nötigen Rechnung ablassen, hören wir aber auf zu rechnen, registrieren wir auch nicht mehr, ob wir geben können. In uns selbst, in einem jeden von uns, liegt demnach der Hinderungsgrund für das Zustandekommen von reibungslosen Abläufen zwischen uns. Doch just dasselbe rechnerische Durchdenken der Bedingungen des Gebens offenbart auch etwas tendenziell Gegenteiliges. Wenn wir gar nicht anders können, als zurückzugeben, und wir das auch dann tun, wenn wir uns glauben lassen, wir würden geben, dann ist bereits etwas da – und zwar in uns –, mit dem wir wohl umzugehen, über das wir aber nicht zu entscheiden haben. Man kann das als die Gabe verstehen. Als das uns allen Gemeinsame, als das, worauf wir alle uns beziehen müssen, wenn wir geben, steht die Gabe zwischen uns. Wenn wir geben, erzeugen und bestätigen wir immer auch jene Gabe, der wir geben. Wenn wir anders geben, bringen wir entsprechend eine andere Gabe in Existenz. Da die Gabe unumgänglich ist, bedeutet das, dass wir zwar nicht geben können – sehr wohl aber geben müssen.

So existieren wir Einzelne zwar als Hinderungsgrund von reibungslosen Abläufen, immer aber auch als deren Ermöglicher. Jeder von uns wird durch die zwischen uns stehende Gabe zu einem Garanten jenes fast reibungslosen Ablaufs gemacht, den er zugleich durch seine bloße Existenz gefährdet. Wir sind zu einem gewissen Maße immer aufeinander abgestimmt, aber wir sind es nie ganz – wären wir es, bedürfte es keiner Gabe mehr, die die Bedingungen der Abstimmungen zwischen uns herstellt. Wir kreieren folglich fortlaufend eine Gabe, die darüber verfügt, wie wir einander geben – wie wir uns einander gegenüber verhalten –, aber wir lösen uns nie völlig in dieser Gabe auf. Denn dann könnten wir geben und es gäbe keine Gabe mehr.

 

Der immer übrig bleibende Rest

Infolge dieser grundlegenden Zwiespältigkeit lässt sich das menschliche Leid als Doppelleid begreifen: Einerseits liegt es im Wissen, sich jener Ordnung anpassen zu müssen, die von der Gabe aus erwirkt wird, andererseits im Wissen, sich nie wirklich, nie ganz in diese selbe Ordnung einfügen zu können. Mit der Gabe ringen wir alle genauso, wie wir mit uns selbst ringen. Wir leben in einer Wirklichkeit, die nicht anders kann, als uns zu Maßen zu verleugnen,[5] doch ist diese unsere Verleugnung immer auch unsere Ermöglichung. Da sie auf alle anderen genauso einwirkt, wie auf uns selbst, öffnet die Gabe uns allen jene Räume, die sie auch schon wieder zu schließen droht.

Wenn wir unser Handeln aus der sicheren Distanz unserer unvermeidlich kontaminierten Gedanken beobachten, dann können wir eigentlich nichts anderes erkennen, als dass wir so, wie wir (uns anderen gegenüber) geben, nicht sein können. Da die Gabe das ist, was wir gemeinsam erschaffen (müssen!), ist der verinnerlichte äußere Zwang, der von ihr ausgeht, immer und notwendig größer als wir Gebenden selbst das sind. Das ist dann der Fall, wenn uns es gelingt, verändernd auf die Gabe einzuwirken, schließlich hat sie selbst uns dazu den Anlass gegeben. Was wir über die Gabe hinaus tun, das tun wir auf ihrer Grundlage.

Wir sind immer sowohl Teil jener Gabe, die wir mit-kreieren, wie wir Teil dessen sind, was dieser selben Gabe widerstrebt. Wenngleich Konformität – aus nachvollziehbaren Gründen – in Misskredit geraten ist, und viele von uns einen gewaltigen Aufwand betreiben, allein um als nonkonform zu gelten, sollten wir uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass da etwas in uns ist, das überaus konform sein will. Demgegenüber liegt unsere Menschlichkeit nie nur in unserer Mit-Menschlichkeit, sondern immer auch in dem, was die gemeinsame Gabe nicht erfasst, in dem, was sich nicht in sie einpassen lässt, das vielleicht sogar böse ist – das wäre das Falschgeld, das wir immer in uns mit uns führen.

Da zwingend ein unpassender Rest bleibt, wäre es noch böser, das übrig bleibende Böse dennoch einpassen oder gar auslöschen zu wollen. In diesbezüglicher Versuchung sind wir jederzeit, schließlich sind wir mit einem Verstand ausgestattet, der fast gar nicht anders kann, als ständig zu berechnen, wie wir denn passgenauer geben könnten. Es wird solange eine Notwendigkeit erkannt werden, den Menschen rechnend komplett zu erfassen, wie die Rechnung nicht aufgeht. Dieses Rechnen geht stets mit einem Verlust an Menschlichkeit einher, der deshalb zu wenig bemerkt wird, weil er sich in ihrem Namen vollzieht.

Der Verstand, der das Problem des Gebens bzw. des Nicht-Geben-Könnens lösen will, ist insofern blind, als er nicht erkennt, dass er selbst dieses Problem ist. All die Versuche, es zu lösen, treiben dieses Problem in irgendeiner mutierten Form wieder hervor. Das ist schlimm genug, schlimmer freilich wäre es, es wirklich zu lösen. Infolgedessen hat es nie nur mehr oder weniger gelungene Lösungsversuche für dieses – das – Problem gegeben, sondern immer auch Streiter, die es erbittert gegen seine herannahende Lösung verteidigt haben. Und wer weiß, vielleicht stehen manche von uns in absehbarer Zukunft auf den Barrikaden, um ihr Recht auf just jenes Leiden vehement zu verteidigen, das sie sich im selben Augenblick wegwünschen – und das eventuell ohne den Widerspruch zu bemerken. Es mag ja sein, dass der schleichende Verlust des Leides irgendwann schwerer wiegt als dieses selbst…

 

Zwischenspiel: Kafkas Wahrheit

Für Kafka ist „die Wahrheit unteilbar, kann sich also selbst nicht erkennen; wer sie erkennen will, muss Lüge sein.“[6] Die grundehrliche Intention desjenigen, der die Wahrheit erkennen will, hat sie durch diesen Denkakt auch schon verhindert. Das Denken des Wahrheitswollenden ist zugleich und deshalb auch schon dafür besorgt, dass die Wahrheit nie wirklich und nie ganz das sein kann, als was sie erkannt werden will. Diese kann nur ja nur vom einem ihr Differenten aus – dem Verstand des sie Denkenden – als solche erkannt werden, so hat ihr Denker sie gerade anlässlich seines Erkennenwollens als solche unterminiert. Eine eigentlich lügnerische Absicht kann dem ehrlich Wahrheitssuchenden dabei nicht unterstellt werden, weshalb es sicher vermessen wäre, zu behaupten, dass sein Denken Lüge im Sinne einer gezielt irreführenden Intention ist. Nur kann es sich in dem, was es unvermeidlich tut, nicht davon freimachen, dass ihm in der Unmöglichkeit, den differenten Standpunkt aufzuheben, den es dabei einnimmt, zu jener Lüge zu werden, die just das verdunkelt, um was es sich bemüht. Das tatsächlich Bedrohliche entfaltet der Gedanke ja erst dann, wenn bedacht wird, was der Denker, der die Wahrheit wirklich will, im Dienste seiner eigenen Mission tun muss, wenn er sie denn konsequent ausführen, also zu Ende bringen will…

 

Die Gabe der Singularität – oder: Die Singularität der Gabe

Da es in der jüngeren Vergangenheit zusehends prominenter geworden ist, von Singularitäten[7] zu sprechen, die uns in gar nicht allzu ferner Zukunft erwarten – oder, je nachdem, drohen –, kann der Hinweis nicht unterbleiben, dass auch in der (unmöglichen) Gabe eine solche angelegt ist: Diese wäre dann erreicht, wenn wir endlich geben können, wenn wir also unser Falschgeld vollständig in „wahre Währung“ umgetauscht hätten. Es würde sich um eine Singularität handeln, die die Singularität überwindet, die wir in uns tragen – und damit in gewisser Weise auch sind –; um eine Singularität, die es uns erlauben würde, Kafkas Wahrheit zu erkennen, weil das überwunden wäre, was diese Wahrheit erkennen will und ihr deshalb im Weg steht. Da wir Menschen als Menschen aber nicht geben können, kann es aus den beschriebenen Gründen nicht zu dieser Singularität kommen. Falls es wider Erwarten dennoch dazu käme, hätten wir die Menschlichkeit, wie wir sie kennen, hinter uns gelassen…

Zum Autor: Manuel Güntert hat Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaften an der Universität Konstanz studiert und dort auch promoviert.

[1] Und gerade das, was dem Tausch nicht mehr stattgibt, weil es den ökonomischen Kalkül suspendiert? J. Derrida, Falschgeld. Zeit geben I. München 1993: S. 17.

[2] Ebenda: S. 24-26.

[3] G. Bennington/J. Derrida, Jacques Derrida. Ein Porträt. Frankfurt am Main 1994: S. 197.

[4] Wie man von Mauss weiß, bindet sich nicht nur, wer gibt, sondern auch, wer empfängt. M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften. Frankfurt am Main 2013: S. 153. Anzufügen wäre hier, dass Derrida den seiner Ansicht nach etwas leichtfertigen Umgang Mauss’ mit dem Begriff der Gabe kritisiert. Mauss beunruhigt es herzlich, dass die Gabe und der Tausch unvereinbar sind, dass eine getauschte Gabe nur eine Leih-„Gabe“ mit Blick auf Rück-„Gabe“ ist, was einer Annullierung der entspricht. J. Derrida, Falschgeld. Zeit geben I. München 1993: S. 54.

[5] P. L. Berger/T. Luckmann. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main 1984: S. 96.

[6] F. Kafka, (Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg). In: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlass. Frankfurt am Main 1986: S. 36.

[7]Im Fokus steht die Singularität vor allem als technologische solche. Prominent gemacht worden ist sie von Autoren wie Ray Kurzweil – im Jahre 2045 soll es soweit sein – oder auch Nick Bostrom. Der Begriff selbst stammt aus einem Artikel aus dem Jahre 1993 von Vernor Vinge, er kann aber bis in die 50er-Jahre auf Diskussionen zwischen Stanislaw Ulam und John von Neumann zurückgeführt werden. Gemeint ist die Kreation einer künstlichen Intelligenz, die der menschlichen schließlich überlegen sein und sich deren Kontrolle voraussichtlich entziehen wird. Die physische Auslöschung der Menschheit wird von Vinge schon als Möglichkeit mitgedacht und nicht einmal als die schlimmste… In diesem Text habe ich es unterlassen, ein „post-„ oder ein „trans-„ vor die entsprechenden Begriffe zu setzen, aber um meinen letzten Satz einordnen zu können, wäre die Auseinandersetzung mit unter anderem den hier erwähnten Autoren geboten, stellen sie doch Hypothesen darüber auf. Aufschlussreich wäre die Auseinandersetzung insbesondere für jene, die den antizipierten Entwicklungen eher skeptisch gegenüberstehen…

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