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Gehirnimplantate – Krankheit als Einfallstor?

Die Furcht vor einem „Brave New World“-Szenario sei durchaus gerechtfertigt, findet unser Gastautor Manuel Güntert. Und zwar gerade weil es wahrscheinlich ist, dass Menschen sich im Zweifelsfall für technische Möglichkeiten entscheiden würden. Daher sei jetzt ein guter Zeitpunkt, sich wichtigen Fragen zu stellen. Ein Essay über Gehirnimplantate, moralische Fragen und darüber, was heute schon möglich ist.

Text: Manuel Güntert

Am 16. August 2022 hat das World Economic Forum WEF auf seiner Website einen Artikel von Kathleen Philips, der Vizedirektorin des R&D Technologiekonzerns, publiziert. Dieser beschreibt, wie Erweiterungstechnologien die Art, wie wir (zusammen-)leben, grundlegend verändern können. Umgehend und fast ausschließlich ist er von alternativen Medien aufgegriffen worden. Dort ist er, äußerst vorsichtig ausgedrückt, nicht nur wohlwollend besprochen worden. Das wiederum hat das offenbar sensible WEF veranlasst, die ursprüngliche Version mit einer Warnung vor gezielten Fehlinterpretationen und Fehlinformationen zu versehen.

Was nun hat den Anlass zu diesem kleinen Sturm im alternativen Wasserglas gegeben? Zäumen wir das Pferd von hinten auf. Der Artikel schließt mit den Worten, dass es um Technologie geht, die uns unterstützt und die imstande ist, unsere Lebensqualität insgesamt zu verbessern. Die Weise, wie die versprochene Optimierung erwirkt werden soll, wird den – nicht unberechtigten – Grund zu Erregung gegeben haben. Delikat ist der Artikel einmal deshalb, weil er die Frage aufwirft, ob und unter welchen Umständen wir uns einen sogenannten „Chip“ in den Kopf pflanzen lassen; noch delikater wird er dadurch, dass er den Hebel bezüglich technischer Erweiterungen zu einem frühen Zeitpunkt ansetzen will: Durch visuelle und akustische Leitungen sollen Überschussanreize bei Kindern ausgeblendet werden, was ihnen helfen soll, den schulischen Standard-anforderungen gerecht zu werden.

Ein Eingriff in den Charakter eines Menschen? 

Philips nennt dann ein explizites Beispiel. Es ist durchaus wünschenswert, dass legasthenischen Kindern neue Chancen eröffnet werden, indem man sie mit Gehirnimplantaten ausstattet, die in Echtzeit Übersetzungsleistungen vornehmen. Umgekehrt weist sie auch darauf hin, dass Legasthenie als charakteristischer Zug einer Person zu betrachten ist. So offenbart sich eine erste Zwiespältigkeit: Das betroffene Kind könnte von einer Optimierung profitieren, dabei würde aber ein persönlichkeitskonstituierendes Merkmal ausgemerzt. Das ist auch oder gerade dann heikel, wenn es sich um ein eher unerwünschtes Merkmal handelt. Überdies zeigt sich eine persönliche Stärke oft gerade im Umgang mit eigenen Schwächen.

Müssen wir als Gesellschaft menschliche Limitierungen in Hinsicht auf das Lernen oder das Altern akzeptieren – wenn wir sie denn aufheben können?

Das Thema wird auch in allgemeiner Form behandelt. Gehirnimplantate sollen es uns erlauben, in unsere Körper zu blicken, um uns sein „Operationssystem“ aufzuzeigen. Visionen, die der Futurist Ray Kurzweil schon in seinem Klassiker über die nahende Singularität ausgebreitet hat, scheinen immer mehr in der gelebten Wirklichkeit anzukommen. Die durch Implantate hergestellten Verbindungen können helfen, Symptome von Epilepsie, Parkinson oder Depressionen zu lindern. Philips verweist auf ein Gerücht, das besagt, eine elektronische Stimulation des Vagus-Nervs sei eine Wundertherapie für Depressionen. Solche Entwicklungen werfen die folgende Grundsatzfrage auf: Müssen wir als Gesellschaft menschliche Limitierungen in Hinsicht auf das Lernen oder das Altern akzeptieren – wenn wir sie denn aufheben können?

Die Antwort ist der Frage eigentlich schon enthalten, dennoch gilt es, eine nächste grundlegende Zwiespältigkeit in sie miteinzubeziehen. Diese liegt darin, dass eine Verletzung vonnöten ist, um auf diese Weise heilen zu können. Genauer: Die körperliche Integrität oder Unversehrtheit muss durchbrochen werden, um das potentiell heilende Implantat in den Körper einbetten zu können. Würde man zum jetzigen Zeitpunkt wahllos Menschen auf der Straße fragen, ob sie sich ein Implantat einsetzen lassen, das sie mit Computertechnik verbindet, müsste man sich wohl auf eine hohe Ablehnungsquote einstellen. Noch höher dürfte die Ablehnung ausfallen, wenn man wissen will, ob jemand Kinder „chippen“ lassen würde. Es dürfte wenige Themen geben, die derart geneigt sind, Empörung hervorzurufen, wie dieses.

Was sagen Betroffene selbst?

Ändert man das Zielpublikum aber und fragt man bewusst Menschen, die von einer der genannten Krankheiten betroffen sind, dürfte das Resultat anders ausfallen. Das wiederum sollte zum Anlass genommen werden, sich selbst zu fragen, ob man bereit wäre, seine Bedenken abzulegen und sich ein Implantat einsetzen zu lassen, wenn dieses hilft, eine schwere Krankheit zu bekämpfen, von der man aktuell betroffen ist. Im selben Zug können Eltern sich fragen, ob sie ihren von Legasthenie betroffenen Kindern ein Implantat einsetzen würden, wenn es diesen hilft, deren Symptome zu lindern, gar aufzuheben. Es steht doch zu erwarten, dass persönlich betroffene kranke Menschen oder betroffene Eltern in solchen Fällen eher bereit wären, die körperlichen Grenzen zu öffnen, wenn es ihnen/ihren Kindern den versprochenen Nutzen bringt.

Man könnte sich gar auf den Standpunkt stellen, dass es nachgerade irrational wäre, die zwar nicht unerhebliche, aber im Vergleich doch geringere Verletzung der körperlichen Integrität vorzunehmen, um eine ungleich belastendere Krankheit zu lindern oder zu heilen. So ist einmal davon auszugehen, dass viele Menschen es ablehnen würden, sich „einfach so“ ein Implantat einzusetzen, genauso wie davon auszugehen ist, dass sich, wenn sie oder ihre Nächsten von einer Krankheit betroffen sind, bei der dieses Abhilfe schaffen kann, ihre Bereitschaft massiv erhöhen wird. Selbst Gegner solcher Entwicklungen dürften ihre ablehnende Entscheidung dann überdenken, das vielleicht, ohne sich offen dazu zu bekennen. Weil es doch eher unvernünftig wäre, im Zustand einer Krankheit zu verbleiben, wenn effiziente Mittel vorliegen, diesen aufzuheben, würde es zwar nach wie vor vielen Menschen mulmige Gefühle bereiten, sich „chippen“ zu lassen, nichtsdestoweniger wird so, wie auch der Artikel festhält, eine natürliche Evolution fortgesetzt, der allerdings, um die Zwiespältigkeit erneut auf den Punkt zu bringen, natürlich weiterhin etwas Künstliches anhaften wird.

Die Furcht vor einem „Brave New World“-Szenario ist durchaus gerechtfertigt, und zwar gerade weil es wahrscheinlich ist, dass man sich im genannten Zweifelsfall für das Implantat entscheiden wird.

Die Furcht vor einem „Brave New World“-Szenario ist durchaus gerechtfertigt, und zwar gerade weil es wahrscheinlich ist, dass man sich im genannten Zweifelsfall für das Implantat entscheiden wird. Dadurch kann dieses schleichend normalisiert und schließlich zur Gewohnheit werden. Falls nun in absehbarer Zukunft breitflächig registriert wird, dass diese Implantate wirklich imstande sind, die versprochene Hilfeleistung zu erbringen, dann dürfte sich daraus eine höhere Bereitschaft ergeben, sich auch ohne aktuell vorliegende Krankheiten chippen zu lassen. Implantate könnten dann tatsächlich, wie Philips annimmt, zur zukünftigen Norm werden. Zwar handelt es sich um ein Slippery-Slope-Argument, abwegig ist es dennoch nicht, dass die Gesundheit zu einem sich schleichend öffnenden Einfallstor für die dann gleichfalls immer weiter voranschreitende mensch-maschinelle Verschmelzung wird. Schließlich sollen drohende Krankheiten möglichst im Frühstadium erkannt werden, um sie präventiv zu unterbinden.

Wenngleich es absolut verständlich, sogar geboten ist, solchen Gedanken mit Widerstreben zu begegnen, geht der Autor des vorliegenden Textes wie Philips aus den genannten Gründen davon aus, dass Technologie sich in Form von Implantaten vermehrt mit dem menschlichen Körper verflechten wird, wenn sie in funktionstüchtiger Form vorliegt. Der Grund ist, im Vergleich zu der insgesamt hochdiffizilen Frage, denkbar lapidar: Eine Majorität wird sich schlicht dann gewinnen lassen, wenn der Nutzen den Schaden überwiegt.

Philips führt noch ein weiteres diesbezügliches Argument an: Eine langfristige Behandlung mit Medikamenten affiziert multiple biologische Prozesse gleichzeitig und sie ist nicht ohne Nebenwirkungen denkbar. Wer das vermeiden will, ist vielleicht auch eher geneigt, sich für ein Implantat zu entscheiden. Nebenwirkungsfrei jedoch fällt auch dieser Entschluss nicht aus: Es gilt unbedingt, sich gewahr zu sein, dass eine Entscheidung, eine Krankheit auf diesem Weg zu bekämpfen, unvermeidlich auch eine ist, die bereits mit einer gewissen Verschmelzung mit der Maschine einhergeht. Diese wiederum geht nicht minder unvermeidlich mit einer schleichenden Preisgabe des Menschlichen, Allzu-Menschlichen einher.

Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, sich mit diesen wichtigen Fragen auseinanderzusetzen

Falls sich immer mehr Menschen überzeugen lassen, bedeutet das umgekehrt keineswegs, dass keine Gegner mehr übrigbleiben werden. Da diese sich aus antagonistischer Perspektive auf gleichermaßen rational nachvollziehbare und starke Argumente berufen können wie dasjenige der Bewahrung der körperlichen Integrität und vielleicht sogar der notwendig mangelhaften Menschlichkeit selbst sowie dem Willen, sich nicht allzu sehr in die Abhängigkeit von technischen Geräten zu begeben, sind diesbezüglich schwer zu lösende Konflikte zu erwarten. Gemeint sind nicht nur Konflikte, die Menschen untereinander führen, sondern auch solche, die sie mit sich selbst austragen müssen. Gleichberechtigt allerdings stehen diese Perspektiven sich nicht gegenüber. Unabhängig davon, wie jemand sich selbst aktuell positioniert, weisen jene, die sich tendenziell bereit zeigen, die körperliche Integrität preiszugeben, um den menschlichen Körper in eine Technologieplattform zu transformieren, einen Standortvorteil auf, weil sie eher den aktuellen Entwicklungen entlang argumentieren. Dennoch spricht wenig dagegen, sich jetzt mit dieser voraussichtlich bald unvermeidbaren Frage auseinanderzusetzen.

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