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Alles fließt

Die Welt verändert sich, jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde. Und doch tun wir uns selbst oft schwer mit Veränderungen. Wie kann Wandel gelingen?

Text: Greta Lührs

Zum Jahreswechsel ziehen viele Bilanz: Wie war das letzte Jahr? Habe ich das getan, geschafft, ausgelebt, was ich mir vorgenommen hatte? Am Silvesterabend fällt man sich in die Arme, beflügelt vom Sektrausch, und denkt an das neue Jahr, das nun vor einem liegt – weiß und unbeschrieben. Im nächsten Jahr wird alles anders, ich ändere mein Leben! Ich werde endlich mehr Zeit für mich haben, mir ein erfüllendes Hobby suchen und mich nicht mehr so sehr unter Druck setzen. Das neue Jahr scheint verheißungsvoll. Als könnte man eine Reset-Taste drücken: Man bekommt eine neue Chance. Alle Altlasten sind (kurz) wie weggeblasen, alles scheint möglich. Doch dieses Gefühl hält höchstens ein paar Wochen an. Schnell kehrt der Alltag zurück und mit ihm die Erkenntnis, dass die Zeit gar keinen Sprung gemacht hat, sondern einfach weitergelaufen ist. Der Neuanfang war doch keiner, sondern nur ein weiteres Glied in der Kette. Wieso fällt uns Veränderung so schwer, obwohl wir sie uns wünschen?

Wir fühlen uns manchmal wi e erstarrt, und doch ist Veränderung allgegenwärtig. Allein unser Körper wandelt sich im Laufe unseres Lebens gewaltig; erst wächst er, später schrumpft er wieder zusammen. Wachstum ist ohne Veränderung nicht denkbar. Schließlich müssen die Zellen ihren bisherigen Zustand aufgeben und einen neuen annehmen, um den Organismus größer werden zu lassen. Aristoteles bezeichnet die Bewegung als belebendes Prinzip. Was sich bewegt, lebt, was stillsteht, ist tot. So sei alles Werdende im Wandel, bis es irgendwann vergeht. Eine ähnliche Auffassung findet man auch bei Hegel, der meint, die Veränderung sei »die Manifestation dessen, was das Dasein an sich ist«. Die stetige Veränderung auf kleinster Ebene ist uns nicht bewusst – sie läuft im Hintergrund ab und fällt uns erst wieder auf, wenn wir jemanden nach vielen Jahren wiedersehen und er uns mit den Worten begrüßt: »Du hast dich aber verändert!« Laut Historischem Wörterbuch der Philosophie bezeichnet der Wandel einen »kontinuierlichen Vorgang, der zwei verschiedene Zustände eines und desselben Gegenstandes zu zwei verschiedenen Zeitpunkten verbindet«.

Am Ende des Veränderungsprozesses steht die Rückkehr zur Normalität.

Für Philosophen liegt in der Veränderung eine besondere Krux. Denn wie kann sich etwas verändern und dabei gleich bleiben? Gerade für die menschliche Identität ist die Beantwortung dieser Frage bedeutungsschwer: Sind wir als Erwachsene die gleiche Person, die wir schon als Kind waren, obwohl wir uns in so vieler Hinsicht verändert haben? Folgt man der Definition, ist der Prozess des Wandels die Brücke, die zwei verschiedene Versionen derselben Person, das Kind und den Erwachsenen, in Beziehung setzt. Veränderung ist ein Prozess, in dem wir mittendrin stecken – das macht sie so schwer greifbar. Wenn wir im Allt ag von Veränderung sprechen, meinen wir eher nicht die organische Ebene, die sich unserem Einfluss entzieht, sondern Veränderungen, die wir gezielt bewirken können. Unser Verhältnis zur Veränderung ist dabei zwiespältig. Einerseits fürchten wir uns, heute mehr denn je, vor Monotonie. Wir langweilen uns schnell, verspüren den Drang, etwas zu ändern, Neues auszuprobieren. Andererseits, und das wird besonders an den guten Vorsätzen fürs neue Jahr deutlich, schaffen wir uns Routinen, in denen wir uns sicher und geborgen fühlen. Veränderung ist anstrengend, alles so zu lassen, wie es gerade ist, bequem. Und das, obwohl wir von allen Seiten dazu aufgerufen werden, die Dinge in die Hand zu nehmen. Endlich Sport zu machen, mit dem Rauchen aufzuhören, den ungeliebten Job zu kündigen, eine ausgeliebte Beziehung zu beenden, nachhaltiger zu leben …

Die Liste an möglichen Veränderungen ist unendlich. »Du musst dein Leben ändern«, mahnt der Philosoph Peter Sloterdijk von einem seiner Buchtitel herab. Darin beschreibt er den Menschen als Übenden, der dazu strebt, sich zu verbessern. Heute erscheint der Gedanke, etwas nicht zu verändern, sondern beim Alten zu belassen, antiquiert. Wie Sloterdijk schreibt, stehen wir unter »Vertikalspannung« und werden skeptisch, wenn es an einer Sache nichts mehr zu optimieren gibt. Das soll vor allem mit den vielen Möglichkeiten zusammenhängen, die uns ständig fürchten lassen, etwas zu verpassen. Dem modernen Menschen wird nachgesagt, so sehr die Monotonie vermeiden zu wollen, dass er sich auf feste Strukturen nicht mehr einlässt. Weder Beziehungen noch Jobs oder Wohnorte hielte man heute lange durch, das Leben sei keine konstante Linie, sondern ein Hin- und Herspringen von einer Station zur nächsten. Stellt man sich die Bereitwilligkeit zur Veränderung wie eine Skala vor, ist der »flexible Mensch« (Richard Sennett) das eine Extrem und der Spießer das andere. Letzterer verficht nämlich den Konservatismus und möchte, dass sich rein gar nichts ändert.

Obwohl Veränderung manchmal wie ein Selbstzweck aussieht, steckt in ihr doch die Hoffnung, davon zu profitieren. Wer dem Friseur beispielsweise sagt, er würde gern »einfach mal was Neues« ausprobieren, und danach todunglücklich mit dem Ergebnis ist, freut sich vielleicht trotzdem über die Erfahrung und den eigenen Mut. Den braucht es für Veränderung. Denn sie erfordert, etwas aufzugeben, an das man sich gewöhnt hatte. Die Angst vor Verlust hemmt unsere Begeisterung, radikale Änderungen vorzunehmen. Denn natürlich garantiert uns niemand, dass wir mit dem Umzug in eine fremde Stadt und dem neuen Job glücklicher werden. Wir wägen ständig ab: Neues oder Altbewährtes? Lohnt sich der Sprung ins kalte Wasser, oder bleibe ich lieber in meiner wohlig-warmen Badewanne? Besonders Ängstliche können sich von den Existenzialisten abschauen, dass Angst eigentlich nur Angst vor der eigenen Freiheit ist. Aus der kann uns aber niemand entlassen, sie ist der Grund dafür, dass wir überhaupt in der Lage sind, unser Leben selbst zu gestalten. »Wer immer tut, was er schon kann, bleibt immer das, was er schon ist«, meinte der Autopionier Henry Ford. Wir müssen uns also hin und wieder selbst herausfordern, wenn wir uns verändern wollen.

Gewohnheiten sind darum so gefährlich, weil wir sie nicht hinterfragen. Vielleicht waren sie einmal gut, sind es aber lange nicht mehr. Wenn wir uns gegen Veränderungen sperren, verlieren wir die Verbindung zur Welt, die sich unaufhörlich weiterentwickelt. Und trotzdem müssen wir uns heute bremsen, von jedem Ratgeber, Coach und Lebenshilfe-Guru Änderungsvorschläge entgegenzunehmen. Die Kunst liegt in der Balance, zufrieden sein zu können mit dem, was man gerade hat, und es trotzdem nicht als unveränderlich anzusehen. Wie Ernst Bloch (1885–1977) in seinen Schriften zur Utopie vorbringt, ist das Denken dessen, was sein könnte, deshalb so wirkmächtig, weil es das Potenzial ans Licht bringt, das in den Dingen steckt. Dieses Potenzial wollen auch Unternehmen ausschöpfen. Die Frage, ob es Zeit für einen Wandel ist und wie man diesen verwirklicht, stellt insbesondere das Change-Management. Gerade größere Unternehmen tun sich schwer mit Veränderungen. »Never change a running system« sagt eine Binsenweisheit. Manchmal ist dies aber notwendig, um wettbewerbsfähig zu bleiben, zum Beispiel durch Modernisierung. Der Change-Manager steht also vor der Aufgabe, den Mitarbeitern die Sorgen zu nehmen und den Prozess möglichst behutsam abzuwickeln. Dabei müssen zuerst die alten Strukturen aufgebrochen werden, der Psychologe Kurt Lewin (1890–1947) nennt diesen Vorgang »Unfreezing«. In seinem 3-Phasen-Veränderungsmodell folgt dann die Bewegungsphase, in der die Veränderung umgesetzt wird. Danach muss das Neue als Status quo »eingefroren« werden. Am Ende des Veränderungsprozesses steht also die Rückkehr zur Normalität. So wie man sich nach einem Umzug in einer neuen Wohnung einlebt. Ganz ohne Alltag geht es eben nicht. Vom Change-Management lässt sich daher lernen, Veränderung als Aufgabe zu begreifen, die wir besser oder schlechter bewältigen können. Und gleichzeitig als etwas, das zum Leben dazugehört. Genau wie uns die Veränderungen auf mikroskopisch kleiner Ebene nicht bewusst sind, entziehen sich auch die großen Veränderungen oft unseres Blickes. Der Klimawandel ist ein gutes Beispiel dafür, dass Veränderung auch in die falsche Richtung gehen kann. Oder der europaweite Rechtsruck in der Politik. Gesellschaften wandeln sich kontinuierlich. Manchmal abrupt wie durch die Französische Revolution oder den Mauerfall. Andernfalls schrittweise wie bei der Digitalisierung.

Gesellschaften sind komplexe Gebilde, die aus Millionen von eigenen Köpfen bestehen. Ohne dass ein Wandel in diesen Köpfen stattfindet, ändert sich auch die Gesellschaft nicht. Ein Beispiel: Laut dem »Global Gender Gap Report 2015« wird es noch 118 Jahre dauern, bis Frauen genauso viel verdienen wie Männer. Die Einsicht, dass gleiche Arbeit gleiches Geld verdient, ist zwar schon lange verbreitet, doch in den Arbeitsverträgen ist sie offenbar noch nicht angekommen. Trotz dieser ernüchternden Prognose ist der erste Schritt zum Wandel immer die Kritik. Ohne dass Frauen für ihre Rechte protestiert hätten, wäre der Sinneswandel wohl ausgeblieben. Wer zufrieden ist, wird nicht den Drang verspüren, etwas zu ändern. Karl Marx (1818–1883), der bekanntlich die Gesellschaft komplett umkrempeln wollte, warf den Philosophen vor, die Welt nur verschieden zu interpretieren, während es doch darauf ankäme, sie zu verändern. Da ist etwas dran. Aber wer philosophiert, die Welt und sich selbst hinterfragt, hält seinen Geist offen für Veränderungen. Und so beginnt jeder Wandel. Insofern ist der gute Vorsatz fürs neue Jahr immer noch besser als gar nichts. Selbst wenn man ihn nicht ganz einhält.

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