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Es war einmal

Manche Statistiker behaupten, man müsse einen Affen nur lange genug vor einer Schreibmaschine sitzen lassen, und irgendwann werde er den Text von »Hamlet« tippen. Im Jahr 2002 probierten es englische Forscher aus und stellten einen alten Computer in ein Gehege mit sechs Schopfmakaken. Die Affen umringten den Computer, streichelten ihn, bewarfen ihn mit Steinen, bissen hinein und entleerten sich auf ihn. Nach einer Weile verstanden sie die Sache mit den Tasten und den Buchstaben und begannen zu tippen. Das Ergebnis veröffentlichten die Forscher in einem Band mit dem Titel »Notes Towards the Complete Works of Shakespeare«. Ein Auszug: aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaldvvvvvvnvvvvvvvvvacvvvvvvvvjkjssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssss-ssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssss-ssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssss-ssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssssss-sssssssssssaaavalavggggggggggggg –

Text: Tobias Hürter

Von da ist es noch ein bemerkenswert weiter Weg zu Shakespeare. Irgendwann um das Jahr 1600 setzte sich der englische Dichter und Theaterbesitzer, dessen Gene als Homo sapiens zu 94 Prozent mit denen der Makaken übereinstimmen, an seinen Schreibtisch, tunkte die Feder in die Tinte und schrieb ein Stück über das Leben, das Leid, die Wut und die Verzweiflung eines dänischen Königssohns, der niemals wirklich gelebt hat: eben Hamlet. Eines der größten Kunstwerke der Geschichte, sagen viele. Es war nicht wie bei den Affen, es war kein statistischer Zufall. William Shakespeare fühlte, bangte und haderte mit jenem fiktiven Prinzen. Er legte all das in sein Stück. Und seither lesen Abermillionen Menschen all das und noch mehr wieder aus dem Stück heraus. Menschen erzählen Geschichten, wohl immer schon. Die ältesten Überlieferungen, älter als die Schrift, sind Mythen. Christen finden Trost und Orientierung in Erzählungen aus dem Leben Jesus’ von Nazareth – auch wenn nicht wenige dieser Erzählungen Bibelforschern zufolge erfunden sind. Im Kino weinen und lachen Menschen zu in Hollywood produzierten Bildern. Eltern lesen ihren Kindern »Harry Potter« und »Pettersson und Findus« vor.

Menschen denken sich
Geschichten aus. Sie finden
Trost und Orientierung in
ihnen. Warum, ist ein
Rätsel. Vielleicht einfach,
weil sie Menschen sind.

Überhaupt ist für Kinder das Leben ein großes Erzählen. Ein Stock wird zum Schwert, ein Stein ist ein Schatz, und die ganze Welt ist voller Drachen und Elfen, die für Erwachsene unsichtbar sind. Und nachts, wenn wir schlafen, erzählen wir uns alle selbst Geschichten: Wir träumen. Warum tun wir das? Warum verbringen wir so viel Zeit im Reich der Fabeln? Eine Theorie besagt, dass Menschen sich in Geschichten die Wünsche erfüllen, die ihnen im wirklichen Leben versagt bleiben. Dagegen spricht allerdings, dass viele dieser Geschichten eher das Gegenteil von Wunschfantasien sind. Schon Aristoteles in seiner »Poetik« erkannte das Paradox: Literatur macht uns Freude, aber sie dreht sich meist um besonders freudlose Dinge. Gefahr, Verzweiflung, Massaker, Mord, Vergewaltigung. Auf den Bestsellerlisten stehen oft Thriller ganz oben, im Abendprogramm wird am laufenden Band gemordet, Shakespeares Bühnen sind übersät von Leichen. Ödipus sticht sich vor Selbsthass die Augen aus, Medea schlachtet ihre Kinder ab. Eine etwas bescheidenere Rolle misst die Eskapismus-Theorie Geschichten zu: Sie bieten uns Zuflucht vor der harten Realität. Im Reich der Fantasie
sind wir Regisseur! Aber so ganz stimmt auch das nicht. Dass eine Geschichte ausgedacht ist, heißt nicht, dass sie beliebig ist. Es gibt gute und schlechte Geschichten, stimmige und unstimmige, bedeutende und belanglose. Es scheint, als haben Fiktionen ihre eigene Art von Wahrheit. So gibt es eine Reihe psychoanalytischer Studien zu Hamlet – als wäre er ein Mensch aus Fleisch und Blut.

Wer einen Roman liest, lebt mit dessen Figuren. Er bemitleidet sie, fürchtet
sich und freut sich mit ihnen. Wie geht das, wenn sie nur auf dem Papier existieren? Ein eindrucksvolles Beispiel ist »Jane Eyre«, der Roman der englischen Schriftstellerin Charlotte Brontë. Er lässt die Leser im ersten Teil die ganze triste
Kindheit jenes Waisenkindes durchleben. Manche mögen dabei mehr mitfühlen, manche weniger. Wer aber gar kein Mitleid, keine Furcht und Verzweiflung spürt, so könnte man sagen, der hat den Roman gar nicht richtig gelesen. Doch da lauert ein Paradox. Furcht bedeutet, sich vor etwas zu fürchten, das wirklich existiert: vor einer Bedrohung. Mitleid mit einer Person setzt voraus, dass diese Person wirklich leidet. Das ist die rationale Grundlage dieser Emotionen. Der amerikanische Philosoph Kendall Walton schlägt daher vor, die von Fiktionen geweckten Emotionen als »Quasi-Emotionen« zu betrachten: als Quasi-Furcht etwa und als Quasi-Mitleid. Woher aber kommt der Drang, das alles auf uns zu nehmen? Der Psychologe und Kognitionswissenschaftler Steven Pinker glaubt, dass wir in Geschichten für die Wechselfälle des Lebens üben. In seinem Buch »Wie das Denken im Kopf entsteht« argumentiert er, dass Geschichten uns mit einem Repertoire von Emotionen und Handlungsweisen für Herausforderungen, Krisen und Dilemma-Situationen ausstatten, vor die uns das Leben künftig stellen könnte. Eine ähnliche Theorie vertritt der Psychiater Allan Hobson mit Blick auf Träume: Im Schlaf legen wir das Fundament
unseres Bewusstseins, behauptet er. Wir schalten zurück in einen Zustand des »Protobewusstseins«, in dem wir die Begriffe und Emotionen, mit denen wir im Wachleben die Welt wahrnehmen, ausbilden und miteinander verknüpfen. Es mögen Hirngespinste sein und »Quasi-Emotionen«, aber sie bereiten die Neuronen und Synapsen im Gehirn auf den Ernstfall vor. Wenn Pinker und Hobson recht haben, dann ist es kein Wunder, dass Kinder einen großen Teil ihrer Zeit in Fantasiewelten
verbringen, und dass auch Erwachsene noch einen starken Hang zum Fiktiven haben. Wir brauchen Geschichten, um Sinn zu schöpfen aus dem Lärmen und Geflimmer, das die Welt an uns heranbranden lässt. Erzählen macht aus Information Weisheit – das ist die These des deutschen Philosophen Walter Benjamin (1892–1940) in seinem
Essay »Der Erzähler« (1937), in dem er analysiert, welche unterschiedlichen Strategien zur Krisenbewältigung uns die Werke von Franz Kafka, Alfred Döblin und Marcel Proust an die Hand geben.

Das gilt nicht nur für hohe Literatur. Der amerikanische Philologe und Evolutionstheoretiker Joseph Carroll hat in einer Reihe von Aufsätzen und Büchern argumentiert, dass Geschichten zur Funktion einer Gesellschaft beitragen, indem sie deren Mitglieder zu ethischem Verhalten anleiten. Mythen, Märchen und TV-Shows prägen Normen und Werte.

GESCHICHTEN WIRKEN ÜBERALL –
AUCH IN DER DURCH UND DURCH
SACHLICHEN WISSENSCHAFT

Der niederländische Psychologe Jèmeljan Hakemulder hat Dutzende Studien zusammengetragen, die zeigen, dass Literatur eine positive Wirkung auf die moralische Entwicklung und die Empathiefähigkeit der Leser hat. Sogar der ganze Drama- und Comedy-Trash im Fernsehen bekommt so seinen Sinn. Der deutsche Psychologe Markus Appel hat in einer Studie beobachtet, dass diese Sendungen die Entwicklung des Gerechtigkeitssinns besser befördern als Nachrichten und Dokumentationen. Geschichten wirken überall, wo Menschen am Werk sind. Auch in scheinbar durch und durch sachlichen Gebieten wie der Wissenschaft. Archäologen graben Scherben und Knochen aus und spinnen daraus Erzählungen über die ferne Vergangenheit. Manche Theorien, mit denen Physiker die fundamentale Struktur der Welt beschreiben, sind viel stärker auf ästhetische Überlegungen gestützt als auf Beobachtungen. Das heißt nicht, dass Wahrheit kein Kriterium für diese Erzählungen und Theorien ist. Archäologen und Physiker streiten heftig über die Wahrheit ihrer Theorien. Es bedeutet, dass auch wissenschaftliche Erkenntnis mehr ist als Faktensammeln.

GEFÜHLTE WAHRHEIT ZÄHLT HEUTE
MEHR ALS WAHRHEIT SELBST

Im Zeitalter von Informationstechnologie und Big Data laufen wir Gefahr zu vergessen, was Geschichten uns bedeuten. Darin könnte ein Schlüssel zum Verständnis der politischen Verwerfungen liegen, die wir zurzeit erleben: Populismus, Fundamentalismus, Terrorismus und andere Ismen. »Wir haben unsere Geschichten aus den Augen verloren«, sagt der israelische Historiker Yuval Noah Harari. Die alten politischen Geschichten sind gescheitert: »Ökonomische Liberalisierung bringt Wohlstand für alle.« – »Aufgeklärtes Denken sticht religiösen Glauben aus.« – »Alle Welt wünscht sich die Lebensformen der westlichen Industriestaaten.« Ein großer Teil dieser Geschichten mag falsch gewesen sein. Doch sie gaben uns Orientierung. Neue Geschichten fehlen – zumindest solche, die an die Stelle der alten treten könnten. »Das Ende der großen Erzählungen«, mit dessen Prophezeiung der französische Philosoph und Literaturtheoretiker Jean-François Lyotard (1924–1998) vor 40 Jahren die Postmoderne begründete – es ist da.

Gefühlte Wahrheit zählt in unserer Zeit offenbar mehr als die Wahrheit selbst. »Meines Erachtens hat dieser Kult in der Sportberichterstattung begonnen«, sagt die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston, »der arme Sportjournalist muss einen Athleten interviewen, der sich gerade verausgabt hat, vier Stunden auf dem Tennisplatz, er schwitzt und schnauft. Fragen nach einem bestimmten Set in der 37. Minute sind müßig, also fragt der Interviewer: Wie fühlen Sie sich? Irgendwie hat sich das verbreitet und den Trugschluss gestützt, dass Bauchgefühl gleich Wahrheit ist.« Ist das tatsächlich der Trugschluss? Wäre es besser, wenn Sportjournalisten nüchtern die Ereignisse auf dem Platz referieren würden? Dann würden wohl viele Zuschauer wegzappen. Die Faszination des Sports liegt nicht im »objektiven« Verlauf des Wettkampfs, sondern darin, dass da Menschen sind, die kämpfen, leiden, jubeln und trauern, die am Boden zerstört sind und im Himmel schweben – und die Fans mit ihnen. Sportberichterstattung lebt nicht von harten Fakten, sondern von Geschichten. Und das ist in Ordnung, solange niemand die Geschichten mit den Fakten verwechselt. Im Sport mögen solche Verwechslungen noch einigermaßen harmlos sein. In der Politik sind sie gefährlich. Die Perfidie eines Donald Trump und anderer Populisten liegt gerade darin, dass sie Geschichten erzählen, um mit ihnen ein brüchiges Faktenfundament zu übertünchen.

ES GILT, FAKTEN UND GESCHICHTEN
WIEDER ZU VERSÖHNEN

Aber auch die naheliegende Abwehrreaktion gegen diese Perfidie ist riskant: dem Mangel an Fakten mit deren Überbetonung zu begegnen. So wenig Geschichten Fakten ersetzen können, so wenig klappt es umgekehr t. Das Scheitern dieser Reaktion war gut im Wahlkampf vor dem Brexit-Referendum zu beobachten. Die Brexit-Befürworter, angeführt von Nigel Farage und Boris Johnson, erzählten Schauergeschichten von der Ausbeutung Großbritanniens durch die Europäische Union und Märchen von einem »befreiten« Königreich – gespickt mit Desinformation. Die Gegner kamen kaum hinterher, all die Finten und Lügen richtigzustellen. Am Ende standen Fakten gegen Geschichten, und die Geschichten gewannen. Einer ähnlichen Dramaturgie folgte der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf im vergangenen Jahr, in dem Hillary Clinton vergeblich versuchte, die Trump’schen Märchen mit Zahlen und Statistiken zu kontern.

Werden Fakten und Geschichten gegeneinander ausgespielt, verlieren am Ende beide, und wir landen tatsächlich in der Welt der »Postfaktizität«. Die Herausforderung ist, beide Denkweisen wieder miteinander zu versöhnen. In Platons Dialogen existierten sie noch friedlich miteinander, mal sprechen ihre Protagonisten in Mythen, mal in logischen Argumenten, und niemand bringt etwas durcheinander. Für viele Philosophen heutiger Prägung passt das Denken in Geschichten nicht so recht ins Konzept. Klarheit, Explizitheit und logische Argumente sind ihre Ideale. Mythen
sind ihnen verdächtig. »Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen«, ist ein berühmter Satz aus Wittgensteins »Tractatus logico-philosophicus«. Aber gerade Ludwig Wittgenstein (1889–1951) gibt wertvolle Fingerzeige dazu, wie die Bedeutung von Geschichten zu verstehen ist. Im »Tractatus« und in späteren Schriften kam er immer wieder darauf, dass es Dinge gibt, die sich nicht sagen, wohl aber zeigen lassen. Mit einem Bild als Vorbild, indem man auf sie deutet – oder in einer Geschichte. Wenn Marcel Proust in seinem Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« erzählt, wie ihn der Duft einer in den Tee getauchten Madeleine in seine Kindheit zurückführt, zeigt er damit das menschliche Erinnern, wie es keine theoretische Abhandlung je tun könnte. Die christliche Ethik zeigt sich in den Geschichten, die die Evangelisten vom Leben Jesu erzählen, nicht nur besser als in jedem Lehrbuch – man kann sagen, dass sich diese Ethik gar nicht in Regeln, sondern nur in Geschichten fassen lässt. Wie kann heute ein Denken aussehen, das den Ge-schichten wieder zu ihrem Recht verhilft? Einen Ansatz dazu hat Eleonore Stump entwickelt, Religionsphilosophin an der Saint Louis University in Missouri, USA. In ihrem Buch »Wandering in Darkness« untersucht sie das sogenannte Theodizee-Problem: Warum lässt Gott Menschen leiden, obwohl er
sie liebt, obwohl er allmächtig und allgütig ist? Seit Jahrhunderten grübeln Philosophen und Theologen darüber. Stump geht einen neuen Weg: Sie spielt es in Geschichten durch, von Figuren wie Hiob aus dem Alten Testament, von Kindern, die an Leukämie erkranken. Am Ende mag keine einfache Antwort stehen, aber man kann in diesen Geschichten Sinn erkennen, wo vorher nur sinnloses Leid zu sein schien. Wo die Theorie endet, fangen die Geschichten an.

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