Der Mensch Rudolf Steiner und die Anthroposophie sind umstritten. Die einen sehen in ihr eine Heilslehre, die anderen Humbug. Wer also war der Mann, der die Anthroposophie begründete? Wie kam er zu seinem Denken? Und wieso kommt die Welt davon nicht los?
Text: Thomas Vašek
Rudolf Steiners Anhänger schwärmten von seinen dunklen Augen, seinem durchdringenden Blick. Manche verehrten ihn als Propheten, als Eingeweihten, der Zugang zu einer höheren Wirklichkeit besaß. Für andere war er nur einer von vielen Spinnern und Sektierern, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit neuen Heilslehren herumliefen. Was mit Vorträgen vor einer Handvoll Zuhörern begann, das ist heute eine Erfolgsmarke im globalen Sinngeschäft. Von der Waldorfpädagogik über den biodynamischen »Demeter«-Landbau bis zur alternativen Medizin, von der Weleda-Kosmetik bis zur Privatuniversität Witten/Herdecke, deren Gründungsgeschichte mit der Anthroposophie verbunden ist: Kaum eine andere Lehre hat auf derart viele Bereiche des praktischen Lebens gewirkt wie Steiners »Anthroposophie«. Auch deshalb ist es hoch an der Zeit, sich mit dieser Lehre kritisch auseinanderzusetzen.
Seit Jahren schwelt die Diskussion über Methoden und Lehrinhalte der Waldorfpädagogik, es gab Rassismusvorwürfe und Skandale um rechtsextreme Lehrer. Bei all diesen Debatten geht es letztlich immer auch um die Anthroposophie selbst, die trotz all ihrer Erfolge umstritten ist bis zum heutigen Tag. Die einen halten sie für ein ganzheitliches Lebenskonzept, das eine Alternative bietet zum Materialismus unserer Zeit, die anderen für nebulöse Esoterik mit weltfremden und antimodernen Zügen. Es geht um die Grenzen der Erkenntnis, um das Verhältnis zwischen Rationalität und Spiritualität, zwischen dem Bedürfnis nach Sinnstiftung und dem Geltungsanspruch der modernen Wissenschaft.
Weder darf man Steiner unkritisch als Idealisten und Gutmenschen verklären, wie das in manchen bildungsbürgerlichen Milieus noch immer geschieht, noch seine Lehren einfach nur ideologiekritisch verdammen. Vielmehr müssen wir versuchen zu verstehen, was die Anthroposophie eigentlich lehrt, worin ihre Faszination besteht – und wo genau die problematischen Aspekte liegen. Die Schwierigkeiten beginnen schon bei der Frage, was Anthroposophie überhaupt ist: eine Philosophie, eine spirituelle Lehre, eine Weltanschauung oder gar eine Religion?
Wer Steiners bislang mehr als 350 Bände umfassendes Gesamtwerk irgendwo aufschlägt, kann darin erkenntnistheoretische Überlegungen ebenso finden wie spirituelle Unterweisungen und kosmologische Theorien, pädagogische und sozialreformerische Ansätze wie auch okkultes »Geheimwissen« aus unvordenklicher Zeit. Mal berichtet Steiner direkt aus der »Akasha-Chronik«, einem ominösen »Weltgedächtnis«, das Eingeweihten die Wahrnehmung vergangener Ereignisse erlaubt. Mal schildert er detailreich die »Geisterwelt« zwischen Tod und Wiedergeburt, als wäre er gerade dort gewesen. Beweise für all diese übersinnlichen »Tatsachen« gibt es nicht. Seine Erkenntnisse hat er, so heißt es, in höheren Welten »geschaut«.
Es ist nicht leicht, Steiners Denken rational zu begreifen, seinen inneren Zusammenhang zu verstehen. Erst in den letzten Jahren hat die kritische wissenschaftliche Aufarbeitung begonnen. Dank exzellenter Biografien wissen wir heute um einiges mehr über Steiners verschlungenen Lebens- und Denkweg, über seine Sozialisation als österreichisches Eisenbahnerkind, seine Beschäftigung mit dem deutschen Idealismus, seine Tätigkeit als Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, sein Leben als Berliner Bohemien und atheistischer Anarchist, seine spätere Hinwendung zu den Geheimlehren der »Theosophischen Gesellschaft« und einem esoterischen Christentum und schließlich die Jahre als Guru der Anthroposophie.
Mensch und Kosmos stehen in einem geistigen Zusammenhang
Wir kennen die Kontexte, in denen sich Steiner bewegte, von der Lebensreformbewegung über den Okkultismus bis zu den Freimaurern, die vielen Einflüsse, die er in sich aufnahm, von Fichte und Schelling über den Evolutionsforscher Ernst Haeckel und Friedrich Nietzsche bis zum Anarchisten Max Stirner. Der Historiker Helmut Zander dokumentiert in seinem 1900-seitigen Werk »Anthroposophie in Deutschland« (2007), wie Steiner sein vermeintlich höheres Wissen aus theosophischen Schriften seiner Zeit destilliert hat. Es gibt die minutiöse Rekonstruktion und Kritik von Steiners philosophischem Werk in Hartmut Traubs »Anthroposophie und Philosophie« (2011). Und es gibt die ersten Bände einer kritischen Gesamtausgabe, die erstmals die Editionsgeschichte seiner Texte erhellt. Doch trotz aller Kontextualisierung bleibt Steiners Lehre immer noch ein Rätsel – und für viele eine Provokation.
Ob es uns passt oder nicht: Steiner war weder ein durchgeknallter Sektenführer noch ein Metaphysiker aus finsteren Zeiten der Voraufklärung. Er war ein Denker der modernen Welt, geprägt von Naturwissenschaft und Technik, vom evolutionären Denken seiner Zeit. Sein entscheidender Impuls kam nicht aus den okkultistischen Lehren, die er sich erst später zu eigen machte, sondern aus der deutschen idealistischen Philosophie.
Es geht Steiner um das große Ganze, um die Einheit von Mensch und Natur.
Es geht Steiner um das große Ganze, um die Einheit von Mensch und Natur. Alles in dieser Welt steht für ihn in einem universellen geistigen Zusammenhang. Unsere sinnliche Wahrnehmung liefert uns nur einen Teil der Wirklichkeit. Dahinter liegt eine übersinnliche, geistige Welt, die wir ebenso wahrnehmen können, wenn wir die Fähigkeiten dazu entwickeln. »Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte«, heißt es in Steiners »Anthroposophischen Leitsätzen«.
Steiners Ausgangspunkt ist Kants Vernunftkritik. Nach Kant können wir Gegenstände nur so erkennen, wie sie unseren Sinnen erscheinen. Der Verstand allein kann nichts anschauen. Eine übersinnliche Erkenntnis liegt »außer unserem Erkenntnisvermögen«; die Behauptung einer solchen hält Kant sogar für den »Tod aller Philosophie«. In seinem ganzen Werk, von den philosophischen Frühschriften bis zur späteren Esoterik, geht es Steiner darum, die von Kant gezogenen Grenzen zu sprengen.
In jungen Jahren entwickelte Steiner seine eigene Erkenntnistheorie. Dabei orientierte er sich an Goethes naturwissenschaftlichen Schriften. Goethe glaubte an eine geistige Verwandtschaft von Mensch und Natur. Naturphänomene erkennen wir nicht durch objektivierendes Messen, sondern indem wir sie geistig nachvollziehen, also mit ebenjenem »intuitiven« Verstand, den Kant dem Menschen nicht zuerkennen wollte. In der Morphologie von Pflanzen und Tieren suchte Goethe nach dem »Urphänomen«, nach jener einheitsstiftenden Idee, die der Formenvielfalt des Lebendigen zugrunde liegt und damit eine Höherentwicklung erst ermöglicht.
Die Existenz der höheren Welt können wir nicht beweisen, sondern nur erleben
Nach Steiner liegt die Welt nicht einfach fertig vor uns. Wir erschaffen sie erst im Vorgang des Erkennens. Wenn wir etwa einen Baum geistig erfassen, dann wird er in uns zu mehr, als er in der sinnlichen Wirklichkeit ist. Nach Steiner erfassen wir seine »Idee«, seinen gedanklichen Gehalt, sein geistiges Wesen. Nun erst leuchtet dem Baum da draußen gleichsam entgegen, was er wirklich ist. Erst damit wird er überhaupt zum Baum, den wir als solchen erkennen können. Das Wesen der Dinge verbindet sich mit unserem eigenen Wesen. Ein solches unmittelbares Erleben von geistigen Inhalten bezeichnet Steiner als »Intuition«. Das klingt nach einer Art Mystik. Steiner selbst nennt es eine »geistige Wiedergeburt der Dinge der Welt«.
Für Steiner geht das Denken dem Bewusstsein voraus, es liegt jenseits von Subjekt und Objekt. Auf diese Weise wird unmittelbare, voraussetzungslose Erkenntnis möglich: Wir müssen nur einfach »drauflosdenken«, die Gegenstände geistig durchdringen. Indem wir unser Denken hinterher dabei beobachten, kommen wir zur Erkenntnis und schaffen damit erst das Objekt. Das Denken ist für Steiner das Wesen der Welt, der geistige Urgrund, der alles miteinander verbindet. Die dualistische Trennung von Geist und Materie ist aufgehoben. Grenzen der Erkenntnis gibt es nicht.
Der Mensch, das ist für Steiner ein Doppelwesen, ein »Bürger zweier Welten«, der einerseits in der sinnlichen, andererseits in der geistigen Welt lebt. Er ist nicht einfach nur Mensch, sondern »Träger einer Tätigkeit, die von einer höheren Sphäre aus mein begrenztes Dasein bestimmt«, so Steiner in seinem Hauptwerk »Philosophie der Freiheit«. Es ist diese philosophische Konzeption, die auch seine späteren esoterischen Schriften prägt.
Es ist auch der Gedanke einer spirituellen Höherentwicklung von Mensch und Kosmos.
Bis heute dauert die Diskussion an, ob Steiners Hinwendung zur Theosophie tatsächlich ein »Bruch« mit seiner goetheanisch-idealistischen Zeit war, wie der Historiker Zander in seinem Standardwerk »Anthroposophie in Deutschland« meint. Auf den ersten Blick scheinen Steiners theosophische Lehren in Werken wie »Theosophie« (1904), »Wie erlangt man Erkennt-nisse der höheren Welten?« (1904) oder »Geheimwissenschaft im Umriss« (1909) mit den früheren philosophischen Schriften wenig gemeinsam zu haben. Da ist plötzlich von Äther- und Astralleibern die Rede, die den menschlichen Körper umhüllen; da gibt es eine Reinkarnationslehre, nach der sich das geistige Ich eines Menschen im Abstand von 1000 Jahren wiederverkörpert; da präsentiert Steiner eine Kosmologie, nach der sich alles aus dem Geist entwickelt hat und wieder zum Geist zurückstrebt. Und da ist schließlich eine esoterische Christologie, die den Erlöser als kosmisches Geistwesen interpretiert. Und doch besteht eine Kontinuität zwischen Steiners »theosophischen« Schriften und seinem früheren philosophischen Werk. Es ist nicht nur Steiners »Monismus«, also der Glaube an ein einziges Grundprinzip der Welt. Es ist auch der Gedanke einer spirituellen Höherentwicklung von Mensch und Kosmos. Indem wir »Erkenntnisse der höheren Welten« erlangen, vervollkommnen wir uns nicht nur selbst, sondern tragen auch noch bei zur kosmischen Evolution.
Die Existenz der höheren, geistigen Welt können wir nach Steiner zwar nicht logisch beweisen. Aber wir können sie erleben. Wer an übersinnlichen »Tatsachen« zweifelt, der zeigt damit nur, dass es ihm an innerer Erfahrung fehlt. Auf diese Weise immunisiert sich Steiners Lehre gegen jede Kritik. Wenn Steiner von »Geisteswissenschaft« spricht, dann ist das also zutiefst irreführend und esoterisch. Über die geistige Welt sprechen können eben nur die Eingeweihten, die zu einer solchen höheren Erkenntnis fähig sind. Auf diese Weise schmettern Anthroposophen auch heute jeden Versuch ab, Steiners Lehre mit wissenschaftlicher Distanz zu betrachten. So heißt es etwa im Sammelband »Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart«, der auf die umfassende Studie des Historikers Zander antwortet, dessen Versuch, sich der Anthroposophie von außen zu nähern, sei »faktisch und hermeneutisch unmöglich«; als Historiker und Philologe sei Zander zu »hellsichtiger Geistesforschung« eben nicht fähig.
Der Erkenntnisweg beginnt mit meditativen Übungen, um die Sensitivität für übersinnliche Vorgänge in der Welt zu schärfen.
Nach Steiner kann der Mensch selbst einen Zugang zur höheren Welt finden, indem er seine geistigen Fähigkeiten schult. Der Erkenntnisweg beginnt mit meditativen Übungen, um die Sensitivität für übersinnliche Vorgänge in der Welt zu schärfen, dabei stellt man sich etwa das Werden und Vergehen einer Pflanze vor. So kann der »Geistesschüler« immer höhere Formen des geistigen Schauens entwickeln, bis er sich selbst als geistiger Mitschöpfer der Dinge begreift, sein »Einssein« mit der Welt erlebt.
Auf seinem Weg zur höheren Erkenntnis gewinnt der Mensch Einsicht in sein Schicksal und versteht, dass es die »karmische« Folge seines früheren Daseins ist; er begegnet dem »Hüter der Schwelle«, der ihn auf seine geistige Unabhängigkeit vorbereitet; schließlich enthüllt sich ihm sogar der Ablauf der kosmischen Entwicklung. Stets geht es bei Steiner um Verwandlung, Höherentwicklung, Selbsterlösung. Die meisten von uns verharren noch auf den niedrigsten, körpergebundenen Stufen des Menschseins. Durch übersinn-liche Erkenntnis können wir immer höhere Stufen des Geistigen erreichen. Für den Körper hatte Steiner wenig übrig.
Man kann seinen anthroposophischen Erkenntnisweg, bei allen »östlichen« Einflüssen, auch sehr deutsch nennen. Er hat etwas Ehrgeiziges und Diszipliniertes, verbunden mit romantischer Schwärmerei und der idealistischen Vorstellung eines geistigen Weltzusammenhangs. So gründet dann auch Steiners gesellschaftsreformerisches Konzept in seiner Vision der geistigen Welt. Die Dreigliederung des Menschenwesens (Denken, Fühlen, Wollen) korrespondiert für ihn mit der Gesellschaft, die er als sozialen Organismus begreift. In der Umbruchszeit nach dem Ersten Weltkrieg propagierte Steiner das Modell einer Dreigliederung in die Bereiche »Wirtschaftsleben«, »Öffentliches Recht« und »Geistesleben«, die nach seiner Vorstellung jeweils eigenständig sein sollten. So könne das »Geistesleben«, das Steiner für den »Kopf« des sozialen Organismus hielt, ohne völlige Selbstständigkeit seine Freiheit nicht entfalten. Was Steiner vorschwebte, war eine Art Herrschaft der Eingeweihten, die wichtigsten Ideen für das »soziale Werden« sollten »von jenseits der Schwelle« herrühren. Nach Ansicht von Historiker Zander war er »im esoterischen Kernbereich der Politik ein überzeugter Antidemokrat«; realisiert wurden jene Ideen jedoch nie.
Steiner gibt keine Gründe, er argumentiert nicht, Dialektik ist ihm fremd. Seine Erkenntnisse aus höheren Welten hat er geistig »geschaut«.
Ein analoger Gedanke der geistigen Höherentwicklung führt Steiner auch zu seiner abstrusen Theorie der »Wurzelrassen«. Der Aufstieg und Niedergang der Völker ist für Steiner ein evolutionärer Ausleseprozess, der für die menschliche Höherentwicklung notwendig ist. Eine »Rasse« steht für ihn »umso höher, je vollkommener ihre Angehörigen den reinen, idealen Menschentypus zum Ausdruck bringen«. Berüchtigt sind die Passagen, in denen er von den »degenerierten« Indianern oder den »zurückgebliebenen« Afrikanern schreibt, während die »zukünftige, die am Geiste schaffende Rasse« für ihn die weiße ist.
Kann man die Anthroposophie von Esoterik befreien?
Steiner war zwar kein rassistischer Fanatiker, viele seiner einschlägigen Aussagen entsprachen den Stereotypen seiner Zeit. Vom rassistisch-völkischen Antisemitismus distanzierte er sich sogar ausdrücklich. Auch deshalb konnten die Nazis mit der Anthroposophie nicht viel anfangen, trotz der Sympathien einiger führender Funktionäre; die »Anthroposophische Gesellschaft« wurde 1935 verboten, die meisten Waldorfschulen geschlossen.
Immer wieder haben Steiner-Apologeten allerdings versucht, Steiners Rassetheorien herunterzuspielen, ebenso wie gewisse verschwörungstheoretische Züge in seinem Werk. Im Verlaufe der Reinkarnation würden die den Menschen bestimmenden Körpermerkmale ohnehin verschwinden. Die Distanzierung fällt auch deshalb so schwer, weil Steiners Rassenvorstellungen – wie alle anderen seiner Konstrukte – als hellseherisch begründete, okkulte Tatsachen gesehen werden. Jede kritische Revision einzelner Teile seines Werkes bedroht daher das große Ganze der Anthroposophie. Das zeigt sich auch in der Diskussion um die Waldorfpädagogik, die nach Ansicht ihrer Kritiker wesentlich auf »metaphysischen Inhalten beruht, deren Geltungsanspruch nach heutigen Erkenntnisstandards wissenschaftlich nicht beweisbar ist«, wie etwa der Mainzer Erziehungswissenschaftler Heiner Ullrich meint.
Einige Reformer versuchen heute, die Waldorfpädagogik aus der Ecke der Esoterik herauszuholen. Die Anthroposophie müsse sich in ihren weltanschaulichen Gehalten zurücknehmen, sagt Jost Schieren, Professor für Waldorfpädagogik an der anthroposophischen Alanus-Hochschule. In der Pädagogik habe die Anthroposophie keinen inhaltlichen, sondern methodischen Wert. Steiners Aussagen seien nicht als metaphysische Wahrheiten zu betrachten, sondern als »Phänomenologie«. So ließe sich Steiners Reinkarnations- und Karmalehre als »Denkmodell« einsetzen, das von der Selbstbestimmung des Menschen ausgeht.
Aber was soll man dann heute noch mit diesen seltsamen Lehren anfangen?
Die Frage ist allerdings, ob sich Steiners Vorstellung einer Karma-Strafe, wonach etwa ein Lügner als »schwachsinniges Kind« wiedergeboren wird, sinnvoll pädagogisch verwenden lässt. Steiner beschrieb keine Gedankenexperimente. Er behauptete eine metaphysische Realität. »Einerseits soll man alles selbst erfahren. Andererseits steht schon bei Steiner, was man alles zu erfahren hat. Das ist eine komische Mischung aus einem freiheitlichen und einem ziemlich totalitären Gedanken«, sagt etwa der Philosoph Christian Grüny, der selbst an der Privatuniversität Witten/Herdecke gelehrt hat. Der Wahrheitsanspruch, mit dem Steiner seine Lehren aufgeladen hat, lässt sich nicht einfach durchstreichen, seine Metaphysik nicht ex post zu einer »Als-ob«-Philosophie umfunktionieren. Aber was soll man dann heute noch mit diesen seltsamen Lehren anfangen?
Zweifellos gibt es ein Bedürfnis nach höheren Wahrheiten, die dem Relativismus unserer Zeit widerstehen. Eine spirituelle Weltanschauung, nach der übersinnliche Kräfte unser Dasein bestimmen, wirkt in unserer materialistisch geprägten Welt auf viele attraktiv. Und erleben wir nicht immer wieder, dass wir mit rein rationalem Denken nicht weiterkommen, während wir plötzlich ganz »intuitiv« etwas verstehen?
Steiners Provokation ist, dass er uns mit Fragen konfrontiert
Rudolf Steiner war kein Philosoph im wissenschaftlich-akademischen Sinn. In seinen Schriften gibt er keine Gründe, er argumentiert nicht, jegliche Dialektik ist ihm fremd. Seine Lehre ist weder Wissenschaft noch Philosophie, sondern irgendetwas anderes, für das der Begriff »Esoterik« vielleicht doch passt. Vieles davon ist höchst problematisch. Bei aller Skepsis sollten sich jedoch gerade Philosophen »offen halten«, wie Christian Grüny meint, statt die Anthroposophie vorschnell »vom Tisch zu wischen«.
Steiners Anhänger berufen sich bis zum heutigen Tage darauf, dass seine Lehre eben praktisch so gut »funktioniert«, obwohl kein Mensch sagen kann, warum. Vielleicht liegt Steiners eigentliche Provokation darin, dass er uns mit einem Denken konfrontiert, das rational nicht so recht nachvollziehbar ist – und das uns dennoch Fragen stellt, die unsere Vernunft, wie Kant sagt, nicht abweisen kann.
Dieser Text ist erstmals in der Ausgabe (5/2017) erschienen.
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