Ein neues Jahrzehnt ist angebrochen. Wir schreiben das Jahr 2020. Doch niemand begrüßt die – rein optisch – eindrucksvolle Zahlenreihe mit Applaus. Von Euphorie nicht viel zu spüren. Zwar gibt es in Berlin nun ein „Haus der Zukünfte“, das „Futurium“, in dem man visionäre Lebensmodelle entdecken und ausprobieren kann. Doch wer hat schon Bock auf morgen? Im März 2020 wird das Coronavirus zum allesbeherrschenden Thema. Flüchtlingsdrama und Rechtsextremismus müssen warten, wenn Live-Blogs und Soziale Medien von ausverkauftem Toilettenpapier künden. Gerade noch lief das Chaos der Welt durch das adrette Raster des Cyberspace. Gerade noch ergingen sich Feuilletonisten und Podcaster in schlauen Reden über „die neuen Zwanziger“.
Alle erwarteten den „Realitätsschock“ (Sascha Lobo) in der virtuellen Zukunft. Prepper stockten Waffen, Vorräten, Schutzkleidung auf, die EU verbarrikadierte ihre Außengrenzen, Trump baute seine Mauer. Man sah Gretas ernstes Kindergesicht, verfolgte die Börse und berechnete Risiken. Aber niemand rechnete mit dem Unerwarteten. Dass ein China entsprungener Virus binnen zwei Monaten die hypermobile Welt, in der zwei Millionen Leute täglich den Flieger nehmen, in eine kollektive Lähmung zwingen würde. Vielleicht endet nun eine Zeit, in der sich trotz der andauernden Aktualitäten anscheinend kaum etwas ändert. Kürzlich noch ließ sich die Welt wie eine ununterbrochene Serie konsumieren, wie ein kontinuierlicher und somit fast langweiliger Stream wechselnder Katastrophen. Die Zeit-Raum des Internet überwölbte das raumzeitlich strukturierte Gefüge historischer Abläufe. „Geschichte“ versank im Meer der Stories. Alles geschah gleichzeitig, gegenläufig, gleichförmig. Gerade noch regierte eine hyperaktuelle, stetig „sich verbreiternde Gegenwart“, wie Hans-Ulrich Gumbrecht es formulierte. Es war ein Jetzt, das gefühlt so weit reichte wie der Cyberspace. In die endlose Zukunft einer unendlichen Vergangenheit. Im Jahr Null von Corona scheint diese Erzählung plötzlich passé. Ein brandneues, hochansteckendes Virus hat in Lichtgeschwindigkeit die absurdeste aller Disruptionen bewirkt. Plötzlich scheint Zukunft in die „breite Gegenwart“ einzubrechen.
Alles passiert in diesem Augenblick. Die Verbreitung des Virus reproduziert sich in Echtzeit im Netz. Die Unsicherheit lässt sich nicht kontrollieren. Die breite Gegenwart wird schmal. Sie verengt sich auf den wiederkehrenden Moment des Händewaschens, einer vorsintflutlichen und zugleich hochaktuellen Anwendung, gegen die jede App mit ihrem innovativen, intuitiven Design alt aussieht. Nun drängt, was man lässig „VUCA“ nannte, wovon man sich aber eigentlich immer am meisten fürchete, gewaltsam in den Vordergrund: das Vieldeutige, Paradoxe und Absurde. Wer weiß? Keiner weiß, was kommt. Vielleicht ist es gar nicht Corona, sondern ein ganz anderes, noch gefährlicheres Virus, das dem „Fortschritt“ einen Schlag versetzen wird. Einem Fortschritt, der längst nicht mehr wirklich glaubwürdig ist, obwohl sich weite Teile von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft das Besser, Weiter, Schneller nicht abgewöhnen können. Vielleicht kann ja ein Virus bewirken, was hunderttausenden Kriegs- und Klimaflüchtlingen bisher nicht gelungen ist: Reflexion. Innehalten. Ein Bewusstsein von der Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz. Einen Sinn für das Wir. Eine METANOIA – eine Umkehr zur Zukunft?
Von Rebekka Reinhard
Dieser Text lehnt sich an die Titelgeschichte unserer neuen Ausgabe an: „Zu dumm für die Zukunft? Welche Intelligenzen wir morgen brauchen“ Mehr Infos hier.
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