Was im Streit zum Gegenstand wird, ist eine Meinung oder eine Erwartung. Diese Wörter sind geeignet, das zu benennen, was umstritten ist, weil sie wichtige Merkmale des Strittigen sofort augenscheinlich machen: Meinungen und Erwartungen sind niemals direkt und unmittelbar überprüfbar. Sie betreffen oft Zukünftiges, im gewissen Sinne vielleicht immer Zukünftiges. Sie sind persönlich. Und sie sind, auch wenn wir ihrer ziemlich sicher sind, niemals ganz gewiss.
Ein paar Beispiele:
„Man kann nicht mal mehr der Tageschau voll vertrauen.“
„Ich fürchte, der Trump wird auch die nächsten Wahlen gewinnen.“
„Hoffentlich gibt es bald Neuwahlen und dann kommen endlich mal andere an die Macht.“
Wenn wir mit Meinungen entsprechend des Prinzips der Nachsichtigkeit umgehen ist es Selbstverständlich, dass wir weder das Persönliche in diesen Meinungen ignorieren noch verlangen, dass es irgendwie aus den Meinungsäußerungen eliminiert werden muss. Nicht immer ist das Persönliche der Meinung schon im Satz ausdrücklich erkennbar, nicht immer steht da ein „Ich“ – aber wir können voraussetzen, dass eine Meinungsäußerung eben immer eine persönliche ist. Der erste Satz meiner Beispiele ist mit dem Satz „Ich meine, dass man nicht mal mehr der Tagesschau voll vertrauen kann“ identisch. Wenn man jemanden auf einen der Beispielsätze hin fragen würde: „Ist das deine Meinung?“ würde der wohl meistens antworten: „Ja natürlich!“
Was ist eine Meinung?
In der Geschichte der Philosophie hat die Meinung einen schweren Stand. Sie ist so etwas wie die kleine schmuddelige Schwester des Wissens. Oft spricht man von „bloßer Meinung“ und will damit sagen, dass die Meinung eine unbefriedigende, mangelhafte Form des Überzeugt-Seins ist.
Bevor ich mich an eine Aufwertung der Meinung wage, müssen wir einen genaueren Blick auf die innere Struktur der Meinung werfen. Ich hatte schon gesagt, dass die Meinung etwas unhintergebar Persönliches hat. Ich bin es, du bist es oder er ist es, der eine Meinung hat. Wenn man vom Wissen spricht, dann betont man gern seinen objektiven Charakter. Wissen ist etwas, das auch in klugen Büchern stehen kann, das gelernt werden kann und das – als Wissen der Menschheit – irgendwie ständig wächst. Es wäre ein anderes Unternehmen, diesen Begriff des Wissens kritisch zu reflektieren. Hier ist aber eines klar: So etwas ist Meinung nicht. Es ist immer Jemand, der eine Meinung hat. Auch wenn eine sagt „Wir meinen, dass…“ beansprucht sie damit, dass sie für eine Gruppe von Einzelnen spricht, die eben das meinen.
Allerdings sprechen wir davon, dass eine Meinung „herrscht“ oder „verbreitet ist“. Zudem gibt es auch noch die berüchtigte Rede vom „man meint, dass…“. Wir wollen hier für den Moment annehmen, dass diese Ausdrucksweisen nur behaupten sollen, dass die genannte Meinung von vielen Menschen vertreten wird. Genau genommen kommt hier nur eine Meinung über Meinungen zum Ausdruck: Wenn eine sagt „Man meint im allgemeinen….“ dann will sie damit zum Ausdruck bringen, dass sie meint, dass viele andere etwas meinen. Um die Konsequenzen vor herrschenden Meinungen für den Meinungsstreit wird es im nächsten Teil dieser Serie gehen.
Behauptung und Bewertung
Meinungen sind also notwendig persönlich. Damit geht einher, dass eine Meinung auch immer eine persönliche Einstellung zu ihrem eigenen Inhalt zum Ausdruck bringt. Die Meinung ist persönlich moduliert, könnte man sagen. Eine Meinung ist immer eine doppelte Aussage: Sie behauptet einen Inhalt und bewertet diesen Inhalt zugleich. Das ist die wichtige Struktur der Meinung, sie ist gleichzeitig Behauptung und Bewertung.
Das gilt auch, wenn Bob sagt: „Ich sage das mal ganz wertfrei“ oder „Das soll gar keine Bewertung sein“. Auf jeden Fall bestätigt eine solche Versicherung, dass eine Meinungsäußerung eben normalerweise immer eine Stellungnahme zum geäußerten Sachverhalt ist. Die Versicherung, die Meinung werde wertfrei vorgetragen, zeigt zudem, dass Bob die Sache zumindest nicht egal ist. Vielleicht ist er hinsichtlich der Bewertung noch unsicher, oder er befürchtet, dass Alice, der er seine Meinung mitteilt, sich in ihrer Antwort vor allem mit der Bewertung der Sache durch Bob, und nicht so sehr mit dem Sachverhalt selbst befasst.
Der Begriff der Bewertung muss hier in einem sehr weiten Sinn verstanden werden. Es geht keineswegs nur oder immer darum, den Sachverhalt zu befürworten oder abzulehnen. Meinungen als Erwartungen drücken Sorgen oder Hoffnungen, Befürchtungen oder Wünsche aus. Häufig betrifft die Meinung etwas, das man für möglich hält. Ob der Sachverhalt tatsächlich bereits eingetreten ist, wird mit einer Meinung selten behauptet.
Die Bewertung modifiziert den Behauptungsteil der Meinung, sie macht die Äußerung zu einer individuellen, persönlichen Mitteilung. Aus einer Aussage über die Wirklichkeit wird eine subjektive Sicht, aufgeladen mit den Vorstellungen des Sprechers von einer guten Welt und der Bewertung der tatsächlichen Welt. Es wäre unsinnig, zu versuchen oder zu fordern, diese persönliche Färbung oder Modulation aus einem Gespräch herauszuhalten oder zu eliminieren – die persönliche Sicht macht ja den Streit überhaupt notwendig und gibt ihm zugleich ein Ziel. Notwendig ist vielmehr, diese persönliche Perspektive ausdrücklich zur Sprache zu bringen und Einigkeit darüber zu erzielen, wie sich die bewertende Modulation auf den Umgang des Sprechers mit der Wirklichkeit auswirkt. Diese Einigkeit dürfte zumeist wichtiger sein als die Einigkeit über Tatsachen.
Konkrete und allgemeine Behauptungen
Um das genauer zu verstehen, müssen wir mögliche Strukturen von Meinungen hinsichtlich ihres behauptenden Aspekts genauer ansehen.
Es gibt Meinungen, die einen konkreten Einzelsachverhalt betreffen, etwa die Wiederwahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten. Solche Meinungen können immer als Erwartungen aufgefasst werden, selbst wenn das Ereignis schon in der Vergangenheit liegen würde. Über die Wahl Donald Trumps bei der letzten Wahl kann natürlich kaum eine Meinungsverschiedenheit bestehen – er ist ja gewählt worden (Natürlich gibt es auf gewisse Weise auch dazu unterschiedliche Meinungen. Jemand könnte nämlich sagen: „Das kommt darauf an, was man unter „wählen“ versteht!“ – darauf kommen wir in einem späteren Teil dieser Serie zurück). Normalerweise haben wir eine Meinung bezüglich eines Ereignisses in der Vergangenheit, wenn wir über dieses Ereignis nichts Genaues wissen, aber erwarten, dass sich dazu etwas herausstellen könnte. Auch das ist also eine Erwartung. Alice kann der Meinung sein, dass Trump die Wahl manipuliert hat. Das bedeutet: Sie wäre nicht überrascht, wenn sich genau das herausstellen würde, im Gegenteil, sie wäre überrascht, und würde dies womöglich bezweifeln, wenn sich herausstellte, dass er die Wahl nicht manipuliert hätte.
Allgemeine Meinungen
Sodann gibt es Meinungen, die eine allgemeine Aussage über ein konkretes Subjekt machen. Bob könnte meinen, dass Trump ein Lügner ist, Alice könnte der Meinung sein, dass Merkel fleißig ist. Auch damit wird jeweils eine Erwartung formuliert, nämlich, dass man von Trump keine Wahrheiten und von Merkel keine Faulheit erwartet.
Schließlich gibt es allgemeine Aussagen über bestimmte Klassen von Subjekten: Bob könnte der Meinung sein, dass Politiker keine Ahnung vom alltäglichen Leben der Bürger haben. Alice könnte der Meinung sein, dass die Medien die Wahrheit herausfinden und berichten wollen. Auch in diesen Fällen drückt sich eine Erwartung aus.
An dieser Stelle muss ein wichtiges Merkmal allgemeiner Meinungen erwähnt werden, das in der herkömmlichen Logik schwer abzubilden ist: Sie sind keine All-Aussagen.
„Trump ist ein Lügner“ bedeutet nicht, dass Trump immer lügt. „Politiker sind machtbesessen“ bedeutet nicht, dass alle Politiker ihre Handlungen nur am Erhalt und an der Erweiterung ihrer Macht ausrichten. Beide Sätze geben Auskunft über die Erwartungen des Sprechers: Von Trump erwartet er keine Wahrheit, von Politikern erwartet er nur Interesse an der Macht. Jeder Aussage von Trump wird er mit Misstrauen begegnen, in jeder Handlung eines Politikers wird er den Machtbezug suchen.
Sollte ein Ereignis eintreten, dass die Erwartung nicht bestätigt, so wird damit die Erwartung oder die Meinung nicht falsch. Eine Erwartung stützt sich auch nicht ausschließlich auf Erfahrungen, sie ist kein induktiver Schluss. Erwartungen werden sowohl von Erfahrungen gestützt als auch von Vorstellungen darüber, wie die Wirklichkeit ist. Ihnen liegt sozusagen eine Modellvorstellung von Wirklichkeit zugrunde. Wie auch in den Wissenschaften, müssen diese Modelle nicht durch Erfahrung gestützt sein. Modelle können ganz der kreativen Erfindergabe eines Menschen entspringen, sie sind – für den Einzelnen oder für eine Gemeinschaft – plausible Vorstellungen darüber, wie die Wirklichkeit funktioniert. Wenn man einmal zu der Überzeugung gekommen ist, dass die Wirklichkeit so funktioniert, dass Politiker machtbesessen sind, dann wird man an dieser Erwartung festhalten, auch wenn man immer wieder Politikern begegnet, die auch aus anderen Beweggründen als ihrer eigenen Machterhaltung oder -ausdehnung handeln.
Die Meinung als Hypothese
Man sieht an diesen Unterscheidungen, dass die Möglichkeiten, Meinungen zu bestätigen oder zu bezweifeln sehr verschieden sind. Das werden wir in einer der nächsten Teile genauer ansehen. Noch eines fällt aber auf: Der behauptende Aspekt einer Meinung hat immer die logische Struktur einer Hypothese. Auch Hypothesen ergeben sich aus Modellvorstellungen und Erfahrungen. Man kann umgekehrt sagen: Hypothesen sind Meinungen ohne die Modulation durch eine Bewertung oder Stellungnahme. Ein Wissenschaftler sollte hinsichtlich seiner Hypothesen keine Sorgen oder Hoffnungen haben, das würde sein wissenschaftliches Arbeiten womöglich beeinflussen. Genauer gesagt: Wissenschaften sollten über Mechanismen verfügen, durch welche die Sorgen und Hoffnungen der Wissenschaftler hinsichtlich ihrer Hypothesen unwichtig werden.
Das ist uns jedoch außerhalb der Wissenschaften nicht möglich, denn die Konsequenzen dessen, was unsere Meinungen sagen, betreffen uns. Wir können die Wirklichkeit, über die wir mit unseren Meinungen streiten, nicht mit bloßer Neugier einer Wissenschaftlerin nachdenken oder diskutieren – unser weiteres Leben, unser Zusammenleben in dieser Welt, die Frage, ob wir glücklich und zufrieden sein werden, hängt davon ab. Wir können deshalb den bewertenden Aspekt der Meinung nicht aus der Diskussion aussperren. Man kann sogar sagen, dass wir über unsere Meinungen gar nicht diskutieren würden, wenn sie nicht mit Sorgen oder Hoffnungen verbunden wären.
So gesehen sind Meinungen für unser tägliches Zusammenleben viel wichtiger als Wahrheiten. Letztere können wir den Wissenschaften zur Klärung überlassen, aber über unsere Meinungen müssen wir streiten. Dabei ist sicherlich ein Aspekt, dass wir über den Wahrheitsgehalt dessen, was die Meinung behauptet, diskutieren müssen. Wir werden sehen, dass auch das nicht so einfach ist wie in den Wissenschaften. Meinungen werden nie zu Wahrheiten, auch wenn wir uns noch so sehr bemühen. Wichtiger aber ist, dass wir über die Berechtigung von Sorgen und Hoffnungen diskutieren müssen. Und das ist noch schwieriger.
Zum Teil 4 dieser Serie: Prinzipien und die herrschende Meinung
Jörg Phil Friedrich lebt in Münster und ist Philosoph und Mitbegründer eines Softwarehauses. Er schreibt und spricht vor allem über technik- und wissenschaftsphilosophische Themen und Fragen der praktischen Philosophie (Ethik, politische Philosophie, philosophische Ästhetik).
Pingback: HOHE LUFT » Richtig streiten #2: Das Prinzip der Nachsichtigkeit
Pingback: HOHE LUFT » Richtig streiten #6: Der Beweggrund der Meinungsäußerung