Jörg Friedrich sichtet für seine Kolumne »Reflexe« aktuelle philosophische Bücher und Strömungen. In der achten Folge: Dieter Thomäs philosophiegeschichtliche Analyse des Störenfrieds.
Die politische Philosophie wird von „Figuren“ bevölkert. Da gibt es den Anderen und den Fremden, natürlich den Freund und den Feind. Diesen Figuren hat Dieter Thomä nun eine weitere hinzugefügt: Den Störenfried. Genauer gesagt: in seinem Buch „Puer Robustus“ hat er den Störenfried in der Philosophiegeschichte aufgespürt und über die Jahrhunderte begleitet, um eine Theorie des Störenfrieds zu entwickeln.
Was hat es mit diesen Figuren auf sich? Es handelt sich sozusagen um idealtypische Modelle von Menschen, die auf dem politischen Feld miteinander umgehen, die handeln, Ziele verfolgen, gegeneinander oder miteinander agieren. Die Figur trennt die Geschichte und den Journalismus von der politischen Philosophie und Theorie. Figuren sollen politische Prozesse verständlich machen. Sie helfen, zu verstehen, wie das Politische überhaupt entsteht und wie es in der menschlichen Gesellschaft wirkt.
In der Wirklichkeit gibt es keine Figuren, kein Mensch ist nur Feind oder nur Störenfried. Allerdings ist es das Besondere der Figuren in der Politik, dass sie regelmäßig das Feld der Philosophie verlassen und in der Wirklichkeit verwendet werden. Wer politisch agiert, betrachtet die anderen als Freund oder Feind, als Fremde oder Störenfriede. Natürlich lesen Politiker nicht unbedingt die Bücher der Philosophen, um deren Figuren zu benutzen. Oft ist es umgekehrt: Politische Philosophen schauen sich in der Welt der Politik nach Figuren um, sie hören, dass dort jemand als Feind und da jemand als Fremder bezeichnet wird und untersuchen dann, was es mit diesen Figuren auf sich hat. Politische Philosophie ist dann also zugleich sowohl Kritik der Politik und ihrer Begriffe als auch Modellierung der politischen Welt unter Verwendung der politischen Figuren.
Eine dieser Figuren ist nun also der Störenfried, und er ist, so meint Dieter Thomä, bisher zu wenig beachtet worden. Genauer gesagt, handelt es sich nicht um eine Figur, sondern um drei, oder sogar um vier verschiedene, die nur wenig miteinander zu tun haben. Sie haben aber eine Gemeinsamkeit: Sie handeln an oder auf einer Schwelle.
Auf der Schwelle
Im Modell des Politischen, das Thomä baut, ist die Schwelle wichtig. Viele Modelle in der politischen Philosophie haben eine Grenze, die ein Innen von einem Außen abgrenzt. Die Fremden sind draußen, die Feinde sowieso. Die Freunde sind drinnen. Eine Grenze kann zwar durchlässig sein, man kann von draußen nach drinnen gelangen, aber das ist dann nur durch einen Sprung möglich, der den Einzelnen vom Fremden zu einem „von uns“ macht. Man kann auch ausgestoßen werden, dann wird man vom Freund zum Feind.
Die Schwelle, die Thomä in sein Modell einbaut, ist anders. Sie ist breit und flach genug, dass man auf ihr stehenbleiben kann. Man ist dann nicht ganz Freund, und nicht ganz Feind, man gehört irgendwie dazu, aber doch nicht ganz. Man steht zu denen, die drinnen sind, in Beziehung, orientiert sich an ihnen, redet und handelt sogar mit ihnen, aber man ist keiner von ihnen. Jeder kennt solche Leute, die auf der Schwelle stehenbleiben, mit einer gewissen Distanz das Geschehen im Raum betrachten, sich da und dort von Weitem in Gespräche mischen. Sie sind nicht sehr verlässlich, man weiß nie, kommen sie rein, verschwinden sie gleich? Außerdem steht wegen ihnen die Tür offen, frische Luft von draußen dringt herein, wegen ihnen können wir nach draußen sehen und die von draußen können uns hier drinnen erkennen.
Das schreibt Thomä nicht, aber dieses Bild zeigt, dass die Figur auf der Schwelle eigentlich ganz wichtig ist für das Verstehen der politischen Gemeinschaft. Und zwar weniger für die Theorie der Statik des Politischen, als vielmehr für ein Verständnis der Dynamik des politischen Systems. Denn die Figur auf der Schwelle stört, weil sie andere Optionen aufzeigt, weil sie frischen Wind hereinbringt. Sie erschüttert Selbstgewissheiten und schürt den Zweifel, dass die Art, wie wir handeln, alternativlos ist.
Und genau das ist auch Thomäs Anspruch, wenn er gleich zu Beginn schreibt, dass der Störenfried das zentrale Problem der politischen Philosophie betrifft: Wie etabliert sich die Ordnung, und wie wird sie attackiert, gestört und transformiert?
Allein der Begriff der Schwelle hat einen großen Wert für die politische Philosophie und ist innovativ genug, um in einem ganzen Buch behandelt zu werden. Aber Thomä gibt sich damit nicht zufrieden, er interessiert sich für die Person, die da auf der Schwelle steht. Wie schon gesagt, können es drei oder vier ganz unterschiedliche Gestalten sein, die man auseinanderhalten muss.
Drei Typen, oder sogar vier
Da ist zunächst der egozentrische Störenfried, der sich nicht um die Regeln kümmert und nur vom Eigennutz getrieben ist. Ihm zur Seite stellt Thomä den exzentrischen Störenfried, der zwar auch auf die Regeln pfeift, aber noch nicht beim Eigeninteresse angekommen ist, da er eigentlich noch auf der Suche nach sich selbst ist. Vielleicht könnte man den Verbrecher als den Idealtypen des Egozentrikers bezeichnen, während der Aussteiger der Idealtyp des Exzentrikers ist.
Von ganz anderer Art ist die dritte Gattung von Störenfrieden: Der nomozentrische Störenfried stellt sich nicht neben die Ordnung, er will eine andere Ordnung. Er ist der Revolutionär.
Man würde erwarten, dass Störenfriede immer Individualisten sind. Aber, so meint Thomä, Störenfriede können sich auch in einer anonymen Masse verstecken, sie agieren in ihrer Ablehnung der Ordnung dann nicht offen und individuell, sondern versteckt und „massiv“ – weshalb Thomä diese Akteure als massive Störenfriede bezeichnet.
Es ist etwas mühsam, die Rolle, die die verschiedenen Störenfriede für die Statik und Stabilität, für die Dynamik und Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung spielen, durch die vielen historischen Beschreibungen der Abhandlung hindurch zu erkennen. Die Theorie des Störenfrieds, die Thomä im Titel seines Werks verspricht, wird leider nur indirekt sichtbar. Warum die Gesellschaft Störenfriede braucht, welche Störenfriede stören und welche letztlich sogar die Stabilität einer Gesellschaft im Wandel ihrer Umwelt sichern, bleibt undeutlich. Das wird besonders sichtbar, wenn sich Thomä mit dem Auftreten von Störenfrieden in der Gegenwart beschäftigt. Hier wird aus der philosophischen Theorie unversehens simple Kapitalismuskritik. Die Finanzkapitalisten werden als egozentrische Störenfriede charakterisiert, denen Thomä die (anonymen und offenen) Gruppierungen der Zivilgesellschaft als exzentrische und nomozentrische Störenfriede entgegensetzt. Letztere fasst er nun zusammen zum politischen Störenfried. Das ist insgesamt unbefriedigend, da Thomä seine philosophischen Begriffe allzu unvermittelt auf politische Akteure anwendet, ohne ihre Erklärungskraft wirklich auszunutzen oder auszuarbeiten.
Das wird an einem Aspekt besonders deutlich. Der Störenfried, so schreibt Thomä auch zu Beginn, ist zunächst mal Individualist. Es ist ein Ich, eine Person, die sich, bewusst und gewollt oder auch unbewusst und ungewollt, als Störenfried positioniert. Gruppierungen, seien es „die Finanzspekulanten“ oder auch „anonyme Kollektive“ oder Gruppen und Organisationen wie Attac u.a., sind aber keine individuellen Personen. Kann die Begrifflichkeit des Störenfrieds überhaupt auf diese Kollektive und Gruppierungen angewandt werden?
Die Kollektivierung des Störenfrieds?
In seiner geistesgeschichtlich strukturierten Abhandlung ordnet Thomä das Auftauchen eines „kollektiven Störenfrieds“ der ökonomischen und politischen Theorie Karl Marx‘ zu. Das Proletariat wird zum Prototypen eines nomozentrischen Störenfrieds, der als Kollektiv auftritt. Auch wenn Thomä das ausführlich beschreibt, unterlässt er es, eine systematische Kritik an dieser „Kollektivierung des Störenfrieds“ zu üben. Diese wäre aber zwingend notwendig. Kann eine „Klasse“ in der Gesellschaft überhaupt Störenfried sein? Steht das Proletariat tatsächlich an einer „Schwelle“? Ist es nicht integrierter Teil der Ordnung?
Zudem ist eine „Klasse“ nicht in gleichem Sinne Kollektiv wie es eine Organisation oder eine revolutionäre Partei ist. Nicht „das Proletariat“ wäre der Störenfried, sondern die kommunistische Partei – wenn wir überhaupt von kollektiven Störenfrieden reden können.
Aber damit eine Organisation die Ordnung stören kann, muss sich das Individuum einordnen. Eine Organisation, die aus Störenfrieden besteht, wird von innen heraus zerstört, reibt sich innerlich auf, und entfaltet keine Kraft nach außen, die die Ordnung der Gesellschaft wirklich stört. Hier wäre der Ort, die Schwierigkeiten und das Scheitern der Piratenparteien zu analysieren, das Verhältnis von Störenfried und Schwarm oder Kollektiv zu erörtern. Zu einer Theorie des Störenfrieds würde auch eine systematische Beschreibung der Kanalisierung der Störung und der Einfriedung der Störenfriede in störende Organisationen gehören. Wer sich diese von Thomä erhofft, wird enttäuscht.
Einbindung und Loslösung
Dabei sind die Figuren, die Thomä da skizziert, durchaus dazu geeignet, diese Beschreibung zu leisten. Notwendig wäre dazu, den Begriff des Störenfrieds wirklich für Individuen zu reservieren und zu analysieren, wie sich die verschiedenen Typen auf der Schwelle zur Ordnung an diese anbinden oder von dieser zu befreien suchen. Wie binden sie sich in Kollektivstrukturen ein, wie lösen sie sich daraus? In welchem Umfang verlieren sie dadurch ihr Störpotential? Wann kann die Störung eines Störenfrieds einen Wandlungsprozess in der Gesellschaft auslösen, wann absorbiert die Ordnung den Störimpuls ungerührt?
Notwendig wäre auch, sich jeder normativen oder gar bewertenden Einordung der verschiedenen Störenfriede zu enthalten. Bei Thomä wird allzu schnell der Egozentriker als Finanzspekulant zum Bösen, während der Exzentriker und vor allem der Nomozentriker im Kollektiv als Verteidiger der Demokratie natürlich zum Guten wird.
Jedem, der sich selbst als Störenfried in der Gesellschaft sieht oder empfindet, sei das Buch empfohlen. Vielleicht ist es sinnvoll, in diesem umfangreichen Werk nach der Lektüre der Einleitung, die die zentralen Begriffe bereits bestimmt, direkt zum letzten Kapitel „Der puer robustus heute“ zu springen und von da aus bei Interesse den verschiedenen Rückverweisen zu folgen. Wer allerdings Freude an einem systematischen Streifzug durch die Geschichte der politischen Theorie und Praxis am Leitfaden des Störenfrieds hat, dem sein empfohlen, das Buch Kapitel für Kapitel zu lesen. Dabei erfährt man nicht nur manches über das wechselhafte Schicksal einer Figur auf der Schwelle, man erhält auch einen guten Überblick über die Geschichte der politischen Philosophie der letzten vier Jahrhunderte.
Jörg Friedrich lebt in Münster und ist Philosoph und IT-Unternehmer. Er schreibt und spricht vor allem über technik-und wissenschaftsphilosophische Themen und Fragen der praktischen Philosophie (Ethik, politische Philosophie, philosophische Ästhetik). In seiner monatlichen Kolumne »Reflexe« reflektiert er über einen aktuellen philosophischen Ansatz und lädt zum kritischen Weiterdenken ein.