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Na logisch! Der genetische Fehlschluss III: Der Traditions-Fehlschluss

Logik-Kolumne von Daniel-Pascal Zorn: Der genetische Fehlschluss III – Der Traditions-Fehlschluss (und der identitäre Denkfehler)

„Früher war alles besser.“ Wer hat diesen Satz nicht schon einmal gehört und mit den Augen gerollt? Oder ihn gesagt, um den neumodischen Augenrollern etwas entgegenzusetzen? „Früher war alles besser.“ Diese Einstellung findet sich in der antiken Mythologie ebenso wie in der Bibel: Hätte man nur nicht auf die Schlange gehört, dann wäre man immer noch im Paradies. Wäre man nur den Göttern treu geblieben, dann würde man sich immer noch im goldenen Zeitalter befinden. „Früher war alles besser“ – das soll vermitteln: Traditionsbewusstsein, Versicherung des eigenen Selbstverständnisses, Kritik am Heute mit den Mitteln des Gestern.

Wir Menschen neigen dazu, uns Geschichten zu erzählen. Und „Früher war alles besser“ ist eine gute Anleitung dafür: Die Geschichten, die wir erzählen, sollen uns ja nicht nur von der Vergangenheit berichten, sondern uns auch für die Zukunft anleiten. Wer Geschichten so erzählt, der steht außerdem meistens auf der ‚richtigen‘ Seite, denn er durchschaut ja, dass die Entwicklung seit dieser glorreichen Zeit, in der noch alles ‚gut‘ war, nur abwärts gegangen sein kann. Er kann sich selbst als Mahner und Rufer verstehen, der angesichts dieser Abwärtsbewegung – die nicht selten in einer Katastrophe oder Apokalypse endet (vgl. das Slippery-Slope-Argument) – die Rückkehr zu einer alten Ordnung fordert.

Wer von vornherein davon ausgeht, dass früher alles besser war oder wer behauptet, etwas sei richtig, weil man es eben schon immer, oder lange Zeit, so mache oder sage, der begeht allerdings einen Fehlschluss: Den Traditions-Fehlschluss oder das Argument ad antiquitatem, lat. für ,(mit Verweis auf) die alte Zeit‘ oder ‚die alten Bräuche‘. Wie die anderen genetischen Fehlschlüsse, die hier behandelt wurden (das Autoritätsargument und der Ad-populum-Fehlschluss) verwechselt es die Herkunft oder den Ursprung eines Sachverhalts oder einer Aussage mit der Geltung desselben oder derselben.

Die Tradition scheint ein sicherer Hafen zu sein

Nun gehören Geschichten und gehört Tradition insgesamt zu den Kontexten, aus denen wir unsere soziale und kulturelle Zugehörigkeit beziehen. Natürlich beziehen wir sie nicht ausschließlich aus diesen Kontexten, sondern auch aus Alltagserfahrungen, Erziehung, Begegnungen mit anderen Menschen, Diskussionen und vielen anderen. Aber die Tradition scheint demgegenüber ein sicherer Hafen zu sein, auf den man sich berufen kann, wenn es ernst wird. Wie sehr dieses Argument gesellschaftlich anerkannt ist, zeigt sich nicht zuletzt an Konzepten wie dem Gewohnheitsrecht oder der Weitergabe kulturellen Wissens. Diese Weitergabe bestimmt unsere Geschichtsschreibung, unser Verständnis von Familie und Verwandtschaft und unsere sozialen Grenzziehungen zu anderen Menschen, die nicht das Wissen teilen, das wir teilen.

Doch genau weil Tradition – ebenso wie unser Verständnis von Kultur und die Bewertung historischer Ereignisse – im Kern Geschichten sind, die wir uns gegenseitig erzählen, sind sie, wie jede andere Sichtweise auch, an gesellschaftliche Aushandlungsprozesse geknüpft. Damit sind sie nicht nur abhängig von den Voraussetzungen, die diejenigen machen, die sich auf sie berufen, sondern auch von der jeweiligen historischen und sozialen Situation, in der sie erzählt werden und dann weitergehende theoretische Bestimmungen anstoßen. Wer diese Bedingungen ignoriert, der isoliert die zugrundeliegenden Geschichten von den Kontexten, in denen sie entstanden sind – und erhält einen empirisch entleerten ideologischen Begriff von Tradition, Kultur, Geschichte und Identität.

Die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse, die unser Verständnis von Tradition, Kultur, Geschichte und Identität geprägt haben, kann man nicht einfach dadurch eigenmächtig umgehen, dass man einfach die eigene subjektive Sichtweise zur herrschenden Meinung erhebt oder sogar zum ‚Wesen‘ oder zur ‚Essenz‘ dessen macht, was man unter richtiger Tradition, Kultur oder Identität verstanden wissen will. Wer das tut, begeht eigentlich einen dogmatischen Fehlschluss – weil man sich aber auf Geschichte, Herkunft oder Tradition beruft, erscheint dieser Dogmatismus auf den ersten Blick wie eine gut gerechtfertigte Behauptung.

Genesis wird mit Geltung verwechselt

Dieser Anschein ist aber eine Illusion, die durch den Traditions-Fehlschluss erzeugt wird – denn etwas gilt nicht deswegen oder ist deswegen richtig, nur weil man behauptet, es handle sich um den eigentlichen, authentischen oder auch essentiellen Ursprung. Und zwar nicht nur deswegen, weil dieser angebliche Ursprung oft genug eine Erfindung oder Verfälschung der Realität durch diejenigen ist, die ihn behaupten. Sondern vor allem deswegen, weil sie – in einem klassischen epistemologischen Denkfehler – Genesis mit Geltung verwechseln.

Besonders von diesem Fehlschluss der Tradition betroffen sind entsprechend, politische oder religiöse, Ideologien des Identitären, die also ihr Verständnis vom ‚Eigenen‘ von vornherein verabsolutieren und dadurch ihr eigenes subjektives Denken in ein irgendwie schon objektives und vorgängiges ‚Sein‘ zu verwandeln versuchen. Das Gravierendste an diesen Ideologien des Identitären ist aber die Confirmation Bias, die sich aus der Festlegung des eigenen Verständnisses als allgemein gültiges ergibt. Denn sobald man die Identität einer Tradition oder Kultur – als Herkunft des so verstandenen ‚Eigenen‘ – an festgelegte Merkmale oder einen bestimmten historischen Moment knüpft, gilt automatisch alles als ‚Fremdes‘, was nicht diese Merkmale besitzt oder was nach diesem Moment zum ‚Eigenen‘ dazugekommen ist.

Wer nach Beispielen sucht, muss sich nur in aktuellen Diskussionen umsehen: Die identitäre Ideologie des IS beruft sich auf eine bestimmte, sehr strenge und z. T. auch äußerst beliebige, Auslegung der islamischen Tradition, um festzulegen, wer ein ‚wahrer‘ Muslim ist und wer nicht. Aus Sicht dieser Ideologie befindet sie sich im Besitz der einzigen Wahrheit – wer sich nicht bekehren lassen will, wird vernichtet. Und natürlich erscheint derjenige Teil der Welt, in dem die eigene Sicht nicht nur nicht gilt, sondern auch kategorisch abgelehnt wird, als Ursprung alles Bösen. Der ‚Westen‘ wird so zum Feindbild einer Ideologie, die sich aus der Überzeugung speist, dass eine bestimmte Tradition – und ein bestimmtes Verständnis derselben – die allein seligmachende ‚Wahrheit‘ ist.

Auch in Europa gibt es identitäre Ideologien. Sie versuchen, ihre eigene subjektive Auslegung von Kultur, Tradition und Geschichte zur einzig geltenden zu erklären – und geraten, ironischerweise, in denselben Bestätigungsfehler wie die Islamisten des IS. Aus Sicht der europäischen identitären Ideologien besitzt ein ‚Volk‘ oder eine ‚Kultur‘, die sehr abstrakt und allgemein verstanden werden, eine ein für allemal festgelegte Substanz oder Essenz. Ist diese Voraussetzung einmal gemacht, können sich die Identitären als Retter oder Bewahrer dieser Essenz aufschwingen: Je nachdem, welchen Begriff von ‚Volk‘ oder ‚Kultur‘ sie voraussetzen, wird zum Gegner dieser Essenz der Liberalismus, die Moderne, der Fremde oder das ‚System‘ erklärt, das diese Essenz mindestens zu verleugnen, eigentlich aber zu vernichten versucht.

Aus dieser Sicht erscheint jeder, der ihrer Voraussetzung nicht entspricht, als Eindringling oder Fremder. Und die quantitative Zunahme von – so verstandenen – Fremden erscheint so, als würde die einmal festgelegte Essenz verunreinigt, verfälscht oder vernichtet werden. Nichts anderes meint das Gerede vom ‚Volkstod‘ oder vom ‚Suizid‘ eines ‚Volkes‘ durch die Gewährung von Asyl. Wer sich derart in diese Wahrnehmung hineingesteigert hat, für den ist der Schritt zur Tat, die dann nur noch als Notwehr erscheint, nicht mehr weit.

Der Traditions-Fehlschluss gehört so zu den prägendsten Denkfehlern – er ist ebenso Teil dessen, was wir Kultur, Geschichte, Tradition nennen. Vielleicht sollten wir ihn bezeiten in unsere Geschichten, die wir uns darüber erzählen, aufnehmen. Und sei es nur, um Schlimmeres zu verhindern.

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