Logik-Kolumne von Daniel-Pascal Zorn. Heute: Der genetische Fehlschluss I: Das Autoritätsargument
Wann immer ein Unglück geschieht, eine Katastrophe über uns hereinbricht, ein Skandal oder eine Affäre aufgedeckt werden – einer ist immer da, um das alles für uns einzuordnen: Der Experte. Es gibt Terrorexperten, Nahost- und Fernostexperten, Experten für jede wirtschaftliche und militärische Großmacht, Außenpolitik- und Geheimdienstexperten. Wir lauschen den wohlinformierten Analysen von Wirtschaftsexperten und Gesundheitsexperten, Nahrungsmittelwissenschaftlern und Politikwissenschaftlern, Migrationsforschern, Historikern, Islamwissenschaftlern – und ja, manchmal, eher selten, auch einem Philosophen.
Für die Medien ist der Experte eine Figur, die das Geschehen einordnet, Aspekte herausarbeitet, Ängste beruhigt oder umgekehrt vor bestimmten vorhersehbaren oder unvorhersehbaren Folgen warnt. Je nachdem, wer als Experte herangezogen wird, sind die entsprechenden Einordnungen sachlich, kompetent und differenziert oder aber einseitig und voller raunender Andeutungen.
Aus Sicht des Hörers, Lesers oder Zuschauers erfüllt der Experte oder Wissenschaftler allerdings oft die Rolle von jemandem, der sagt, wie es ist – nach dem Motto: ‚Wenn ein Wissenschaftler es sagt, muss es stimmen, denn der muss es ja wissen‘. Viele Menschen stellen sich Wissenschaft vor wie einen Bereich, auf den man einfach nur verweisen muss, wenn man kein gutes Argument mehr hat: ‚Der Wissenschaftler XY hat es gesagt, deswegen ist es richtig‘.
Hinter dieser Annahme verbirgt sich jedoch ein Fehlschluss: das Autoritätsargument oder Argument ad verecundiam, lat. für ‚aus Ehrfurcht‘ oder ‚aus Scheu‘. Wer es anwendet, der überlässt die Begründung jemandem, von dem er (‚ehrfürchtig‘) annimmt, dass er schon von vornherein die Wahrheit spricht. Das Autoritätsargument gehört zu den genetischen Fehlschlüssen – sie heißen so, weil sie die Geltung einer Aussage an ihre Herkunft oder den Kontext ihrer Entstehung (griech. ‚génesis‘) knüpfen.
Das Autoritätsargument spielt nicht nur für die missverständliche Deutung des Experten eine Rolle, wie er von den Medien zur Einordnung des Geschehens herangezogen wird. Es begegnet uns in vielen verschiedenen Kontexten, alltäglichen ebenso wie sehr speziellen und wissenschaftlich komplexen Bereichen.
Auf Facebook liest man etwa immer wieder den Hinweis auf den Nachbarn oder die Bekannte, die eine bestimmte Tätigkeit ausüben und deren Meinung direkt oder indirekt als Bestätigung der eigenen Behauptung herangezogen wird: ‚Mein Nachbar arbeitet schon 15 Jahre ehrenamtlich mit Neonazis und weiß, wie gefährlich die sind‘ oder ‚Meine Freundin hilft schon seit einigen Monaten im Flüchtlingsheim aus und berichtet von furchtbaren Zuständen‘.
Weil man aber dem Nachbarn oder der Bekannten nicht einfach durch bloße Behauptung ein Diplom verleihen kann, funktionieren Autoritätsargumente umso besser, je mehr wissenschaftliche Reputation die so Herbeizitierten aufweisen können. Wissenschaftler mit akademischen Abschlüssen, Doktor- oder sogar Professorentiteln gibt es eine ganze Menge – und so scheint es, als würde jeder für seine eigene Sichtweise einen eigenen Experten heranziehen können: Autoritäten werden von Impfgegnern (alternative Mediziner) genauso herbeizitiert wie von Holocaustleugnern (Juristen und Historiker, andere Holocaustleugner), von Leuten, die sich selbst politisch weit ‚rechts‘ einordnen (Biologen, Anthropologen, Geschichtsphilosophen und Rassetheoretiker aus den 20ern und 30ern) ebenso, wie von denen, die sich als weit ‚links‘ einordnen (Geschichtsphilosophen aus dem 19. Jahrhundert, marxistische Gesellschaftstheoretiker), Anhängern einer liberalistischen oder libertären Sichtweise (Schriftsteller, Wirtschaftsexperten) ebenso, wie Anhängern einer alternativen Wirtschaftstheorie (Philosophen, Wirtschaftsexperten). Der Meinungsstreit, so scheint es, wird immer auch mit wissenschaftlichen Sichtweisen ausgefochten – oder?
Hinter dieser Auffassung von Wissenschaft steckt ein hoffnungslos naiver und entsprechend falscher Wissenschaftsbegriff. Denn gerade der wissenschaftliche Diskurs ist – vor allen anderen Kommunikationsformen – durch genau das ausgezeichnet, was viele politische Positionen mit Hilfe wissenschaftlicher Autoritäten leugnen wollen: durch Debatte, sachliche Argumente, logische Strenge, einen pluralistischen Forschungsdiskurs und eine methodisch gnadenlos skeptische Haltung gegenüber absoluten oder letzten Wahrheiten. Wer sich als Wissenschaftler ausweist, der hat wissenschaftstheoretische Vorlesungen und Grundkurse in Logik ebenso besucht, wie verschiedenste Methodenseminare und Diskussionsforen, auf denen es um ganz verschiedene Sichtweisen auf sein Fachgebiet geht.
Was für den Laien oft undurchschaubar wirkt, ist zu einem ganz beträchtlichen Teil der vielfältigen Kritik und theoretisch-methodischen Kontrolle der eigenen wissenschaftlichen Aussagen geschuldet. Wenn die Rede ist von der ‚Wahrheitssuche‘ in den Wissenschaften, liegt die Betonung nicht etwa auf ‚Wahrheit‘, sondern auf ‚Suche‘: auf der theoretisch und methodologisch geleiteten Reflexion auf das eigene wissenschaftliche Vorgehen und die grundsätzliche Vorläufigkeit wissenschaftlicher Ergebnisse.
Wer Autoritätsargumente in Anspruch nimmt, ohne sich mit der wissenschaftlichen Argumentation auseinanderzusetzen, der argumentiert also per se unwissenschaftlich – und widerspricht sich selbst. Dasselbe gilt für den, der sich mit der Argumentation zwar auseinandersetzt, sie aber nicht kritisch und mit logischen oder empirischen – also: von seiner eigenen subjektiven Sichtweise unabhängigen – Kriterien gegen andere, alternative oder konträre, wissenschaftliche Sichtweisen geprüft hat.
Ein Wissenschaftler hat nicht deswegen recht, weil er Wissenschaftler ist. Er hat recht, weil er im Idealfall gelernt hat, wie gutes wissenschaftliches Argumentieren funktioniert und weil er seine Behauptung begründen oder belegen kann. Wer ein Autoritätsargument in Anspruch nimmt, macht also das Gegenteil von dem, was er zu tun glaubt: Er zitiert nicht etwa eine Autorität oder Koryphäe auf einem Gebiet und beendet damit die Diskussion. Sondern er zitiert eine Position, die mehr als jede andere (religiöse, ideologische, politische) Redeweise den Anforderungen empirischer, methodischer und logischer Korrektheit genügen muss. Das heißt auch, dass das Argument eines Wissenschaftlers, der in diesen Hinsichten nicht korrekt arbeitet, nicht nur für den Zitierenden, sondern auch wissenschaftlich haltlos wird.
Das bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass wir uns in pragmatischer Hinsicht gar nicht auf Autoritäten berufen dürfen. Manchmal haben wir auch keine andere Wahl, als ihnen zu vertrauen – wir können kein Medizinstudium absolvieren, um die Diagnose unseres Arztes wissenschaftlich zu prüfen. Aber auch ein Arzt ist an Regeln gebunden: wir können einen ‚Ärztefehler‘ einklagen und jederzeit eine zweite oder dritte Meinung einholen. Das Autoritätsargument besteht als Fehlschluss nur dann, wenn wir ein Urteil für wahr halten, weil es von einer Autorität kommt, wenn das einzige Kriterium die Meinung der Autorität ist. Im Alltag verlassen wir uns immer wieder auf Autoritäten und diese Arbeitsteilung macht auch Sinn. Aber sie macht nicht deswegen Sinn, weil wir irgendwelche ewigen Weisen um die Wahrheit befragen, sondern weil wir sicher sind, dass die Autorität, auf die wir uns verlassen, im Zweifelsfall hinsichtlich ihrer theoretischen und methodischen Voraussetzungen kritisch hinterfragt werden kann.
Das Autoritätsargument hat natürlich Hochkonjunktur in Argumentationen, die insgesamt als Confirmation Bias problematisch sind. Die fehlerhafte fortlaufende Bestätigung ergibt sich dann aus einem Zitierkartell oder einem Zitierzirkel, in dem einfach immer genau diejenigen Wissenschaftler zitiert werden, deren Forschungen der eigenen Sichtweise entsprechen. Im Hintergrund steht dann oft ein dogmatischer Fehlschluss: Dass jeder Redebeitrag am Ende ideologischer oder politischer Natur ist. Es ist ironischerweise dieser Denkfehler, der die Wissenschaft genau dadurch entwertet, dass er sie zur ideologischen Bestätigung der eigenen Sichtweise heranzieht.
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