Der Verleger der Heidegger-Gesamtausgabe Vittorio E. Klostermann antwortet auf ein HOHE LUFT-Interview mit Richard Wolin, das im März veröffentlicht wurde. Die Vorwürfe Wolins gegenüber der Arbeit des Verlages seien nicht haltbar und kompromittierend, so Klostermann.
Richard Wolin, der US-amerikanische Ideenhistoriker, erhebt in einem in Hohe Luft abgedruckten Interview (Heft 3-2015) schwere Vorwürfe: „Seit Jahrzehnten wissen wir, dass es Probleme mit der Gesamtausgabe und der Publikationsgeschichte von Heideggers Werk gibt. Das ist ein Skandal. Eben gab es einen Artikel in der Zeit „Was heisst ‚N. Soz.?‚“ von Adam Soboczynski, der die Verbreitung und Ausmaß dieser Probleme bestätigt. Es gibt viele kompromittierende Passagen aus seinen Vorlesungen, die man einfach weggelassen hat. Und diese Probleme gibt es noch immer. Zum Beispiel ist der wichtige Briefwechsel mit seinem Bruder Fritz für die Forscher gesperrt. Und das Problem wird immer schlimmer, solange der Heidegger-Nachlass nicht völlig für die Forschung freigegeben ist.“
Als Verleger der Gesamtausgabe war ich zutiefst beunruhigt. Wir wussten bislang von einem Übertragungsfehler, der der Herausgeberin des Hölderlin-Bandes 39 unterlaufen war. Sie hatte die schwer lesbare handschriftliche Abkürzung „N. soz.“ als „Naturwissenschaft“ gedeutet. Darauf hat Julia A. Ireland aufmerksam gemacht (Research in Phenomenology, Bd 44-2014). Außerdem machte Peter Trawny, der Herausgeber des Bandes 69 der Gesamtausgabe, öffentlich, dass sich im ursprünglichen Manuskript dieses von ihm herausgegebenen Bandes, nicht jedoch in der von Martin Heidegger kollationierten Reinschrift, eine Passage fand, in der Heidegger fragt, „worin die eigentümliche Vorbestimmung der Judenschaft für das planetarische Verbrechertum begründet ist“. Trawny hatte die Passage in die Gesamtausgabe aufnehmen wollen, musste dann aber der Anweisung des wissenschaftlichen Beraters der Ausgabe, Friedrich-Wilhelm von Herrmann, folgen, dass nach den Leitlinien Heideggers nur der Text „letzter Hand“ zum Abdruck gebracht werden dürfe. Trawny hat in seiner Schrift „Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung“ davon berichtet. Das hat der Verlag im März 2015 zum Anlass genommen, in Abstimmung mit der Nachlassverwaltung, die noch lebenden Herausgeber der Bände mit Texten aus den Dreißiger und Vierziger Jahren anzuschreiben und zu fragen, ob weitere substantielle Änderungen in den Manuskripten zu finden seien oder ob es gar Einflussnahmen gegeben habe. Adam Soboczynski empörte sich in der ZEIT, dass der Verlag damit eine Verantwortung, die er bei der Konstruktion der Gesamtausgabe als „Ausgabe letzter Hand“ doch mitverschuldet habe, nun auf die Herausgeber abwälzen wolle. Wie aber hätte der Verlag seiner Verantwortung sonst nachkommen sollen als durch Nachfragen?
»Bisher hat keiner der Herausgeber von Einflussnahmen berichtet.«
Soboczynski hat keinen besseren Vorschlag gemacht. Auf einer Tagung in Siegen, die Marion Heinz im April 2015 veranstaltet hat, habe ich über die Antworten auf das Rundschreiben berichtet: dass bis dahin keiner der Herausgeber von Einflussnahmen berichtet habe oder davon, dass es in den Manuskripten Streichungen oder Veränderungen substantieller Passagen gebe. Ich habe weiter berichtet, dass nur noch vereinzelte Antworten ausständen. Richard Wolin war unter den Zuhörern. Deshalb erstaunt es, dass sich Wolin im Interview so geäußert hat wie oben zitiert. Ich bat ihn aus diesem Grund im Mai dieses Jahres, uns konkret die Passagen zu nennen, auf die er sich bezieht. Erst fünf Wochen später, nach Erinnerung, kam seine Antwort: das Interview sei in englischer Sprache geführt und nach der Übersetzung stark überarbeitet worden; er habe keine Aufzeichnungen über das, was er wörtlich gesagt habe.
Aber es liege doch im Auge des Betrachters, was man „Auslassung“ nenne. Es gebe eine lange Geschichte des Weglassens bei der Herausgabe von Heideggers Werken: in „Einführung in die Metaphysik“, den Schelling- und Nietzsche-Vorlesungen und anderen. Abschnitte, die als profaschistisch oder antisemitisch verstanden werden könnten, seinen getilgt worden. Im Übrigen sollten wir nicht über Worte streiten („quibble over semantics“): wir wüssten doch, dass Heidegger seine Vorlesungen und anderen Manuskripte selbst „retouched“ habe, und offensichtlich hätten dies auch andere getan, die Zugang zu seinem Nachlass gehabt haben. Solange es keine Kritische Ausgabe von Heideggers Werken gebe, hätten wir keine Gewissheit über das, was Heidegger seinerzeit geschrieben hat und das, was später ergänzt worden sei. Das war nicht gerade die Konkretisierung, um die ich Wolin gebeten hatte. Und weil ja die Manuskripte aller innerhalb der Gesamtausgabe erschienenen Bände in Marbach eingesehen werden können, beharrte ich auf meiner Bitte, mir Beispiele zu nennen, wo etwas verändert oder weggelassen worden sei. Wenn er sich nicht in der Lage sehe, seine Behauptungen zu belegen, so erwartete ich eine entsprechende Richtigstellung seinerseits in Hohe Luft. Wolin war dazu jedoch nicht bereit. Er verweist darauf, dass er ja nicht nur die Gesamtausgabe im Blick gehabt habe, sondern die gesamte Publikationsgeschichte von Heideggers Werk.
Und als gäbe es keine Verpflichtung zur wissenschaftlichen Redlichkeit, setzt Wolin in seinem Beitrag „Heideggers ‚Schwarze Hefte'“ in der aktuellen Ausgabe der „Vierteljahreshefte zur Zeitgeschichte“ (Heft 3-2015) noch eins drauf. Nunmehr behauptet er – wiederum ohne Beleg -, „dass die Hüter von Heideggers Nachlass ebenso wie die Editoren systematisch pronazistische und antisemitische Äußerungen aus den veröffentlichten Versionen von Heideggers Texten getilgt haben.“
»Über die Frage einer vollständigen Digitalisierung und Öffnung des Nachlasses stehen wir im Gespräch mit der Nachlassverwaltung.«
Nun handelt es sich bei der von uns verlegten „Martin Heidegger Gesamtausgabe“ – nur dazu kann ich mich äußern – zwar nicht um eine historisch-kritische Edition, aber doch um eine Ausgabe, auf deren Textgenauigkeit Nachlassverwaltung und die Herausgeber der einzelnen Bände penibel geachtet haben und achten. Deshalb wurden auch alle Nietzsche-Vorlesungen in die Gesamtausgabe aufgenommen, die die Grundlage für den zweibändigen „Nietzsche“ waren, der 1961 bei Neske erschienen ist. Und Petra Jäger, die Herausgeberin des Bandes 40 „Einführung in die Metaphysik“, hat in ihrem Nachwort ausführlich über die von Martin Heidegger hinzugefügte Erläuterung (zur „inneren Größe und Wahrheit der Bewegung“) berichtet, auf die der junge Habermas in seinem Aufsatz in der FAZ von 1953 aufmerksam gemacht hatte. Über die Frage einer Digitalisierung und Öffnung auch der Teile des Nachlasses, die bislang noch nicht zugänglich sind, stehen wir im Gespräch mit der Nachlassverwaltung. Man darf den ökonomischen und zeitlichen Aufwand für ein solches Projekt und auch für eine Historisch-kritische Ausgabe nicht unterschätzen. Selbst wenn die Fragen der Finanzierung gelöst wären, würde es noch Jahre dauern, bis erste Früchte für die Öffentlichkeit erschlossen und zugänglich wären. Und da das so ist, legen wir entschiedenen Wert auf die Feststellung, dass die „Martin Heidegger Gesamtausgabe“ eine verlässliche Ausgabe ist.
Vittorio E. Klostermann
Stand 16. August 2015
Anmerkung der Redaktion: Gern geben wir Herrn Klostermann hier die Möglichkeit einer Stellungnahme. Wir möchten allerdings darauf hinweisen, dass das von ihm beanstandete „Hohe Luft“-Interview von Professor Wolin in der vorliegenden Form autorisiert wurde. Über die wichtige Frage der Integrität der Heidegger-Gesamtausgabe werden wir weiter berichten. Thomas Vašek, Chefredakteur.