Philosophen argumentieren gern mit Gedankenexperimenten. Die sind aber oft weltfremd. Es wäre besser, die Denker würden sich mehr an der Wirklichkeit orientieren.
Text: Tobias Hürter
Wie wäre es, eine Fledermaus zu sein? Wenn der Körper eines Menschen wie beim Beamen in seine molekularen Einzelteile zerlegt und auf einem anderen Planeten wieder zusammengebaut würde, wäre es dann immer noch derselbe Mensch? Wenn ein Terrorist nur davon abgehalten werden kann, eine Atombombe zu zünden, indem man sein Kind foltert, würden Sie es tun?
DAS SIND DREI GEDANKENEXPERIMENTE, über die Philosophen diskutieren, mit denen sie erhellen wollen, was richtig oder falsch, gut oder schlecht, zu tun oder zu lassen ist. Gedankenexperimente sind ein Standardwerkzeug der Philosophen, wie die Petrischale für Mikrobiologen, wie das Teleskop für Astronomen. Aber was können Gedankenexperimente uns zeigen? Was ist ihr »Auflösungsvermögen«, und wo verzerren sie die Wirklichkeit? Das sind selten gestellte Fragen. Viele Philosophen lassen sich zwar auf Gedankenexperimente ein, nicht aber auf eine Diskussion, ob dieses Instrument geeignet ist. Auf den ersten Blick mag dieses Versäumnis nur die Philosophen selbst angehen. Doch es betrifft uns alle. Gerade in schwierigen politischen Fragen bestimmen Philosophen maßgeblich mit, was als richtig gilt und was als falsch. Sie beraten Politiker und Wissenschaftler, schreiben an Gesetzen und Forschungsanträgen mit. Sie sitzen in Ethikkommissionen und Talkshows.
Es gibt keine scharfe Definition davon, was ein Gedankenexperiment ist. Grob gesagt, sind Gedankenexperimente hypothetische oder imaginäre Szenarien, die uns helfen, einen Begriff, eine Idee oder ein Argument zu durchdenken oder zu überprüfen.
Eines der berühmtesten Gedankenexperimente hat sich der kalifornische Philosoph John Searle im Jahr 1980 ausgedacht: das Chinesische Zimmer (siehe auch »Die Mensch-KI-Kooperation«, ab Seite 72). Mit ihm ging Searle die Frage an, ob Computer denken können. Die Computer von heute sind digitale Maschinen, die nach festen Anweisungen Zeichen ausspucken, nachdem sie mit Zeichen gefüttert wurden.
Stellen wir uns nun ein Zimmer vor, sagte Searle, in dem ein Mensch sitzt, zu dem Zettel mit chinesischen Schriftzeichen unter der Tür durchgeschoben werden. Stur nach einem Handbuch malt er neue Zeichen auf Blätter und schiebt sie zurück. Für jemanden außerhalb des Zimmers mag es so wirken, als würde der Insasse Chinesisch verstehen. Doch der Mann kann kein bisschen Chinesisch, er führt nur Anweisungen aus. Searle ist überzeugt, dass dieses Gedankenexperiment uns deutlicher macht, wie ein Computer funktioniert und was es bedeutet, Chinesisch zu verstehen – und dass beides nicht zusammenpasst.
Aber wussten wir nicht schon vorher, dass etwas verstehen und Anweisungen ausführen zwei grundlegend verschiedene Dinge sind? Wie viel weiter bringt uns das Gedankenexperiment vom Chinesischen Zimmer dann noch? Searle selbst ist überzeugt, dass das Gedankenexperiment zeigt, dass Computer kein Bewusstsein haben können. Manche seiner Kritiker erwiderten, es beweise gar nichts. Es mag die Sache anschaulicher machen. Aber Anschaulichkeit allein ist kein Argument – und es besteht die Gefahr der Verwechslung. Manche KI-Forscher behaupten, in einem sehr komplexen Computer könne durchaus so etwas wie Bewusstsein entstehen. Nein, sagt Searle und zeigt auf sein Chinesisches Zimmer. Doch, sagen die KI-Forscher. – Nein. – Doch! – Nein! – »Ich wette darauf, dass es kein einziges Beispiel eines Gedankenexperiments gibt, das für sich genommen ein entscheidendes Argument für irgendetwas ist«, sagt der englische Philosoph Julian Baggini.
DIE TIEFSTEN INTUITIONEN ZU EINER FRAGE SICHTBAR MACHEN
Muss ja auch nicht sein. Gedankenexperimente können auch auf andere Weise hilfreich sein. Sie beleben die sonst manchmal arg trockenen Schriften der Philosophen, befeuern die Fantasie der Leser und stellen manchmal kleine literarische Kunstwerke dar. Der amerikanische Philosoph Daniel Dennett nannte Gedankenexperimente »Intuitionspumpen« (»intuition pumps«). Auch wenn sie keine Antwort geben, regen sie die Intuition an, eine Antwort zu finden. Allerdings ist die Intuition nicht immer der beste Wegweiser. Gerade am Chinesischen Zimmer kritisierte Dennett, es würde einseitig jene Aspekte der Situation betonen, die den Leser in die von Searle gewünschte Richtung locken: das Stupide, Mechanische. Was das Zimmer hingegen an Gedächtnis und Verstand entwickelt, um von außen als des Chinesischen mächtig zu wirken, vernachlässige Searle.
Gedankenexperimente
befreien
von störenden
Umwelteinflüssen:
Philosophie unter
Laborbedingungen.
Die Funktion von Gedankenexperimenten, sagt Daniel Dennett, ist eigentlich, die tiefsten Intuitionen zu einer Frage sichtbar zu machen. Dass sie damit nicht verlässlich zur Wahrheit führen, spricht gar nicht gegen sie. Sie sind Werkzeuge, die man gut oder schlecht einsetzen kann, so wie man Gedankenexperimente mit einem Hammer auf einen Nagel oder auf den eigenen Daumen hauen kann. Gedankenexperimente können helfen zu verstehen, wie Philosophie im Allgemeinen funktioniert. Manche Leute glauben – und manche Philosophen nähren dieses Vorurteil – dass die Philosophie durch unbestechliche Argumente von gesicherten Prämissen zu klaren Konklusionen fortschreitet. Eine treffendere Charakterisierung der Arbeit von Philosophen wäre aber, dass sie verschiedene Bilder oder Beschreibungen der Welt entwerfen und dann prüfen und diskutieren. Gerade darin bestehen Gedankenexperimente: aus Bildern, die stimmen können oder nicht.
Der amerikanische Philosoph Robert Nozick (1938– 2002) erdachte im Jahr 1974 eine »Erlebnismaschine«: eine Maschine, in die man einsteigen konnte und in der man alles genau so erlebt wie draußen im wirklichen Leben. Nur mit Glücksgarantie, denn in der virtuellen Realität der Maschine ist alles so angelegt, dass es den Nutzer möglichst viel beglückt. Wer davon träumt, in einem WM-Finale das Siegtor für Deutschland zu schießen, den wird es die Maschine schießen lassen. Wenn es aber zum größtmöglichen Glück gehört, auch mal zu scheitern, wird die Maschine auch das
einrichten. Würden Sie in die Maschine einsteigen? Nozick war überzeugt, dass die meisten Menschen es nicht täten. Sie schätzen wirkliches, authentisches Erleben mehr als bloßes Glückserleben. Zeigt das irgendetwas darüber, ob ein Mensch einsteigen sollte oder nicht? Kaum. Eher macht die Erlebnismaschine nachvollziehbar, nach welchen Werten Menschen ihr Glück suchen.
Aber warum muss man sich dafür etwas Fiktives ausdenken? Warum nicht auf Beispiele aus der wirklichen Welt zurückgreifen? Ein wichtiger Grund ist, dass in »echten« Beispielen immer Zufälligkeiten mitspielen: Vorgeschichten, Nebensächlichkeiten und Randbedingungen, die eigentlich nicht zur Frage gehören. Wie die Experimente in den Labors von Chemikern, Physikern und Biologen haben auch philosophische Gedankenexperimente den Vorzug, den Untersuchungsgegenstand von störenden Umwelteinflüssen zu isolieren: Philosophie unter kontrollierten Laborbedingungen. Auf diese Weise lassen sich die Wirkungen verschiedener Faktoren auf unsere ethische Wahrnehmung nachweisen, so wie man im Labor kontrolliert die Temperatur oder den Luftdruck verändern kann. Aber diese Kontrollierbarkeit hat ihren Preis: Weltfremdheit. Wenn zum Beispiel Philosophen darüber diskutieren, ob die Identität eines Menschen beim Beamen à la »Star Trek« erhalten bleibt, dann können sie zwar durchspielen, was einen Menschen ausmacht: die physische oder die geistige Kontinuität? Doch sie reden über ein technisch, womöglich sogar physikalisch unmögliches Szenario. Wenn es um abseitige philosophische Fragen geht, dann mag diese Weltfremdheit harmlos sein. Nicht aber in Fragen der Ethik. Die Ethik soll uns helfen, klug und richtig zu handeln und zu entscheiden – nicht im Labor, nicht in »Star Trek«, sondern im wirklichen Leben. Reine Laborethik ist witzlos.
ETHISCHE FRAGEN LASSEN SICH OFT GERADE NICHT ISOLIEREN
Gerade Situationen, in denen der richtige Weg schwer zu sehen ist, sind oft komplizierter als jedes Gedankenexperiment. Nehmen wir das berühmteste aller ethischen Gedankenexperimente, das Trolley-Problem, erstmals beschrieben von der englischen Ethikerin Philippa Foot (1920–2010) im Jahr 1978: Ein außer Kontrolle geratener Eisenbahnzug rast auf fünf Menschen zu, die auf dem Gleis stehen. Ein Bahnwärter hat die Möglichkeit, eine Weiche umzustellen, sodass der Zug auf ein Gleis abbiegt, auf dem nur eine Person steht. Soll er die Weiche umstellen? Ja, sagen manche Philosophen. Nein, sagen andere. Das Trolley-Problem spielt eine wichtige Rolle in der Diskussion darüber, wie die Sicherheitssysteme selbstfahrender Autos programmiert werden sollen. In den meisten Darstellungen ist es eine einfache, übersichtliche Situation. Zwei Gleise, darauf sechs gesichtslose Menschen, eine Weiche. Aber Situationen, in denen wir schwierige Entscheidungen treffen müssen, sind verworren. Sie haben eine Vorgeschichte. Was hat den Zug in Gang gesetzt? Warum lässt er sich nicht bremsen? Wie kommen all diese Menschen auf die Gleise? Was passiert mit den Geretteten? Ethische Fragen lassen sich oft gerade nicht isoliert, ohne Kontext verstehen. Zum Beispiel der Nahostkonflikt zwischen Juden und Arabern: Wer die hundertjährige Vorgeschichte ignoriert, kann ihm nicht gerecht werden.
LITERARISCHE BEISPIELE STATT SPIELZEUG-WELTEN
Wie wichtig der Kontext in ethischen Fragen ist, zeigt sich auch an einem inzwischen klassischen Gedankenexperiment, das der amerikanische Moralphilosoph James Rachels (1941–2003) ersann, genannt »Badewannen-Fall«: Zwei Männer namens Smith und Jones haben die Aussicht, nach dem Tod ihres gemeinsamen Neffen viel Geld zu erben. Beide wünschen sich den Tod des Kindes. Fall eins: Smith schleicht sich eines Abends ins Bad, wo der Neffe gerade in der Badewanne sitzt, ertränkt ihn, und staffiert alles so hin, als sei es ein Unfall gewesen. Fall zwei: Jones schleicht sich eines Abends mit der gleichen Absicht ins Bad. Der Junge rutscht aus, schlägt sich den Kopf
an und ertrinkt von allein. Der einzige Unterschied zwischen den Fällen besteht darin, dass Smith den Jungen tötet und Jones ihn sterben lässt. Jones handelt nicht besser oder schlechter als Smith. Mit diesem Gedankenexperiment wollte Rachels zeigen,
dass aktive und passive Sterbehilfe moralisch gleich stehen. Aber was er wirklich gezeigt hat, ist nur, dass in seinem Szenario das Töten und das Sterbenlassen moralisch gleich stehen. Bei der Sterbehilfe kann man die weiteren Umstände nicht außer Acht lassen.
Gedankenexperimente können in die Irre führen. Diesen Warnhinweis sollten Philosophen bei ihrem Gebrauch dieses Werkzeugs beachten. Was hilft dagegen? Manchmal könnte es sinnvoller sein, statt der Spielzeug- Welten üblicher Gedankenexperimente literarische Beispiele zu nehmen, vielleicht vielleicht Dostojewskis »Schuld und Sühne« oder Shakespeares »Hamlet«, deren Figuren und Geschichten viel reicher gezeichnet sind. Manchmal kann ein Blick darauf helfen, wie Wissenschaftler mit ihren Experimenten umgehen – auch, wenn es mitunter Negativbeispiele sind: In der Pharmaforschung etwa ermittelt unter Umständen eine randomisierte kontrollierte Studie die Wirkung eines Stoffes auf die Probandengruppe – oft gesunde, junge Männer. In der medizinischen Praxis soll der Wirkstoff womöglich aber älteren Frauen mit Vorerkrankungen gegeben werden.
Gedankenexperimente können in die Irre führen. Diesen Warnhinweis sollten Philosophen bei ihrem Gebrauch dieses Werkzeugs beachten.
Philosophen neigen dazu, diesen Transfer von der Theorie in die Praxis zu vernachlässigen. Doch gerade in ethischen Fragen kommt man nicht unbedingt zur besten Antwort, indem man es sich im Sessel gemütlich macht, Tee schlürft und scharf nachdenkt. Bloße Vorstellungskraft kann das Wissen und die Erfahrung der Menschen, um die es gerade geht, nicht ersetzen. Das zeigt sich zum Beispiel im Streit ums Impfen. Abstrakte ethische Argumente zeigen wenig Wirkung, wenn es darum geht, widerwillige Menschen davon zu überzeugen, ihre Kinder impfen zu lassen. Man wird nicht umhin kommen, sich mit den Impfgegnern und ihrer Perspektive auseinanderzusetzen. Statt ihnen nur immer wieder zu sagen, dass sie sich irren, ist zu fragen, warum ihr scheinbar irrationales Verhalten aus ihrer Sicht rational ist. Es könnte mit einem generellen Verlust von Vertrauen in manche Formen staatlicher oder wissenschaftlicher Autorität zu tun haben. Es geht gar nicht um Fakten und Evidenz, es geht um vertrauensbildende Maßnahmen. Ein Gedankenexperiment, das nur den Nutzen und Schaden der Impfentscheidung modelliert, kann diesen Zusammenhang nicht erfassen. Wenn ethisches Denken in der wirklichen Welt weiterhelfen soll, muss es der Wirklichkeit gerecht werden.