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Mitten im Leben

Kann es Zufall sein, dass gerade ein Chemiker und ein Mediziner die bedeutendste philosophische Tradition Amerikas ins Leben riefen? Wie Charles Sanders Peirce und William James den Pragmatismus entwickelten.

Text: Thomas Vašek

Cambridge, Massachusetts, 1872. In der kleinen Stadt rund um die berühmte Harvard University blüht das intellektuelle Leben. Seit dem Ende des Bürgerkriegs herrscht geistige Aufbruchsstimmung, das moderne Amerika entsteht. In philosophischen Zirkeln treffen sich gebildete Bürger aus ganz verschiedenen Berufen, um gemeinsam Texte zu lesen und zu diskutieren. Eine dieser Gruppen ist der »Metaphysical Club«, zu den Gründern gehören William James (1842–1910) und Charles Sanders Peirce (1839–1914). Es ist diese Diskussionsrunde, in der die bedeutendste philosophische Tradition Amerikas ihren Anfang nimmt. Dabei sind weder James noch Peirce ausgebildete Philosophen. Peirce, der Sohn eines Harvard-Mathematikprofessors, hat Chemie studiert; zeitlebens arbeitet er in der United States Coast and Geodetic Society, wo er sich mit Abweichungen von der Erdgravitation befasst, später unterrichtet er nebenbei auch Logik. James ist ausgebildeter Mediziner; er gilt als Begründer der amerikanischen Psychologie. Beide verbindet ein tiefes Interesse an den großen philosophischen Fragen. Doch so sehr sie auch das kontinentale Denken, vor allem Kant, in sich aufgesogen haben: Sie wollen anders philosophieren als die Großen der Tradition.

Philosophie heißt für sie nicht theoretische Spekulation über Gott und die Welt. In einer Zeit des rasenden Wandels, so denken sie, muss sich die Philosophie praktisch bewähren.

Erst im Jahr 1898 führt James den Begriff »Pragmatismus« in einer Vorlesung ein. Doch er verweist auf einen 20 Jahre zuvor erschienen Aufsatz seines alten Freundes Peirce. Die Kernidee geht zurück auf die hitzigen Debatten im »Metaphysical Club«. Schon da hat Peirce den Begriff »Pragmatismus« ins Spiel gebracht, in Anlehnung an eine Passage in Kants »Kritik der reinen Vernunft«. Dort spricht Kant vom zufälligen oder »pragmatischen Glauben«, am Beispiel eines Arztes, der einem gefährlich erkrankten Patienten helfen muss, obwohl er dessen Krankheit nicht kennt. Aufgrund der äußeren Symptome tippt der Arzt auf ein bestimmtes Leiden, weil er nichts Besseres weiß. Seine Vermutung ermöglicht ihm, den Patienten zu behandeln. Für Kant ist der »pragmatische Glaube« nur ein Glaube von mehreren.

Für Peirce und die Pragmatisten hingegen ist er der einzige. In einer kontingenten Welt können wir letztlich nur Hypothesen aufstellen – eben wie Kants Arzt, der erst am Ende der Behandlung weiß, ob seine Diagnose richtig war oder nicht.

Was die Pragmatisten bei allen Unterschieden eint, das ist eine bestimmte philosophische Haltung. Unsere Vorstellungen, so glauben sie, bilden die Welt nicht einfach ab. Sie sind vielmehr Mittel, um mit der Welt zurechtzukommen. Die zentrale Forderung des Pragmatismus (griech. pragma = Handlung, Sache) lautet, dass Vorstellungen nach ihren praktischen Konsequenzen zu beurteilen sind. Im Vordergrund steht das Handeln, das Problemelösen, das Experimentieren. Das gilt von den Gründern bis zu Neopragmatisten wie Richard Rorty (1931–2007). Der deutsche Philosoph Hans Joas sieht den Pragmatismus als eine »Theorie situierter Kreativität«. Um den Begriff des Pragmatismus ranken sich einige Missverständnisse. Weder propagiert der Pragmatismus einfach nur sachgerechtes Handeln, wie die Alltagsbedeutung des Begriffs nahelegt, noch geht es um eine Spielart des Konsequenzialismus, der Handlungen in ethischer Hinsicht nach ihren Folgen beurteilt. Der Pragmatismus knüpft vielmehr bei erkenntnistheoretischen und sprachphilosophischen Fragen an: Was bedeuten unsere Begriffe? Wie entstehen Überzeugungen? Was ist Wahrheit?

Ausgangspunkt ist die Kritik am Programm von René Descartes (1596–1650). Nach Descartes muss die Philosophie mit methodischem Zweifel beginnen. Die einzig sichere Grundlage allen Wissens liege in der Selbstgewissheit des denkenden Bewusstseins (»Ich denke, also bin ich.«). Wahr ist demnach, was wir »klar und deutlich« einsehen. Pragmatisten halten den kartesianischen Zweifel für sinnlos. Wir können nicht mit universellem Zweifel anfangen, sagt Peirce. Vielmehr sollten wir von unseren »Vorurteilen« ausgehen – und diese nur dann bezweifeln, wenn wir auch wirklich einen Grund dafür haben: »Lasst uns nicht vorgeben, in der Philosophie Dinge zu bezweifeln, die wir in unserem Herzen nicht bezweifeln.«

Das individuelle denkende Bewusstsein kann nach Peirce nicht die Grundlage des Wissens bilden. Was wir »klar und deutlich« einsehen, kann schließlich auch falsch sein. Schon die konkurrierenden Positionen der Metaphysiker zeigen, dass an Descartes’ Subjektivismus etwas nicht stimmen kann. Erkenntnis gewinnen wir nach Peirce nicht durch einsames Nachdenken; sie ist ein soziales Unterfangen. Peirce’ Vorbild ist die Naturwissenschaft, in der jede neue Theorie durch die Forschergemeinde intersubjektiv bestätigt werden muss. Was wir unter Wahrheit verstehen, kann am Ende nur das sein, was die Zustimmung derjenigen findet, die am jeweiligen Gegenstand forschen. Genauso stünden philosophische Theorien auf dem Prüfstand der »Gemeinschaft der Philosophen«. Peirce’ Auffassung beeinflusste unter anderem die Philosophie von Jürgen Habermas, dessen Werk die konsensorientierte sprachliche Verständigung in den Vordergrund stellt.

In seinem berühmten Aufsatz »How to make our ideas clear«, der als einer der Gründungstexte des Pragmatismus gilt, entwickelt Peirce seine eigene Theorie, wie wir zu »klaren und deutlichen« Gedanken gelangen – indem wir nämlich deren praktische Wirkungen in Betracht ziehen. Seine berühmte pragmatistische Maxime lautet: »Überlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Relevanz haben könnten, wir dem Gegenstand unseres Begriffs in unserer Vorstellung zuschreiben. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen das Ganze unseres Begriffes des Gegenstandes.« Was meinen wir zum Beispiel, wenn wir einen Gegenstand »hart« nennen? Offenbar, dass der Gegenstand nicht von anderen Gegenständen zerkratzt werden kann. Das können wir aber nur feststellen durch den praktischen Gebrauch. Und jedes Mal, wenn wir mit harten Gegenständen umgehen, lernen wir etwas Neues über »Härte« hinzu.
Auf dieser Bedeutungstheorie beruht auch Peirce’ Begriff der Überzeugung (belief). Eine Überzeugung – der Glaube, dass etwas wahr ist – begründet nach Peirce eine »Gewohnheit«, also eine Handlungsregel, an der wir uns orientieren können. Auf diese Weise können wir Überzeugungen voneinander unterscheiden, weil sie eben verschiedene Effekte produzieren. Wenn wir glauben, dass es draußen regnet, dann nehmen wir einen Regenschirm mit. Wenn wir das nicht glauben, dann werden wir den Schirm zu Hause lassen. Eine Überzeugung kann unser Handeln leiten, ein Zweifel
nicht. Ein Zweifel sei ein »unangenehmer, unbefriedigender Zustand«, eine Irritation, die wir beseitigen wollen. Das stimuliert uns zu einer Aktivität, nämlich zur »Forschung« (inquiry). Erst die Überzeugung bringt das Denken schließlich zur Ruhe. Zumindest so lange, bis neue Zweifel auftreten.

Für den US-Philosophen und Pädagogen John Dewey (1859–1952), den vielleicht bedeutendsten amerikanischen Denker des 20. Jahrhunderts, sind alle unsere Begriffe letztlich nur Instrumente in einem Prozess der »Forschung«. Ideen haben nur Sinn, wenn sie in Handlungen übergehen, welche die Welt in irgendeiner Form »neu einrichten und rekonstruieren«. Aber kein Handeln kann absolute Gewissheit bieten. Es gibt nur ein offenes Experimentieren, das der Gefahr von Fehlschlägen ausgesetzt ist. Pragmatisten betonen das Experimentelle, das Vorläufige allen Wissens. Damit wenden sie sich gegen jeden Dogmatismus, gegen jede Ideologie, die versucht, Wahrheiten ein für alle Mal festzuschreiben: Sie denken pluralistisch, sie glauben nicht an ein absolutes Prinzip, sondern an eine Vielfalt der Perspektiven. Das hat ihnen immer wieder den Vorwurf des Relativismus eingetragen. Als besonders problematisch gilt vielen Kritikern der pragmatistische Wahrheitsbegriff. William James’ prägnante und oft missverstandene Parole lautet: Wahr ist, was nützlich ist. Die gängigen Vorstellungen von Wahrheit und Objektivität hielt James für sinnlos. Für ihn ist ein Gedanke nicht von vornherein wahr oder falsch. Er wird dadurch wahr, dass er sich bewährt, also als nützlich für unseren Denkprozess erweist.

James erläutert das am Beispiel einer Uhr. Wenn wir ein Ding als »Uhr« bezeichnen, dann beruht unser Urteil nicht darauf, dass wir den Rädermechanismus in seinem Inneren kennen. Vielmehr nehmen wir einfach an, das Ding sei eine Uhr und gebrauchen es als Uhr, indem wir die Zeit ablesen. Und wenn die Uhr tatsächlich die Zeit anzeigt, dann erweist sich unser Urteil »Das ist eine Uhr« als nützlich, es hat sich bewährt – und somit als wahr herausgestellt. Die Wahrheit »existiert« also nicht, sagt James, sie »gilt« vielmehr, sie »behauptet« sich. Sie lebt aber auch vom Kredit: »Unsere Gedanken und Überzeugungen ›gelten‹ so lange, als ihnen nichts widerspricht, so wie die Banknoten so lange gelten, als niemand ihre Annahme verweigert.« Hinter der Auffassung von James steht ein humanistischer Anspruch. Wir sind nicht einfach passive Zuschauer, die der Realität gegenüberstehen. Vielmehr befinden wir uns mitten im Geschehen, wir nehmen teil am Drama der Welt. Auch Wahrheiten sind aus pragmatistischer Sicht letztlich menschliche Erzeugnisse. »Wir sind schöpferisch in unserem Erkennen ebenso wie in unserem Handeln«, schrieb James.

Der amerikanische Neopragmatist Richard Rorty forderte sogar, die Vorstellung von Objektivität aufzugeben und durch die Solidarität mit der eigenen Gemeinschaft zu ersetzen. Rorty schwebte eine postphilosophische Kultur vor, die nicht nach objektiver Wahrheit strebt, sondern danach, das »Gespräch in Gang zu halten«. Wahrheit und Objektivität bedeuteten für Rorty lediglich, dass »unsere Mitmenschen eine Aussage gelten lassen werden«, wie er einmal allzu lässig schrieb. Damit war Rorty auf bestem Weg in die Postmoderne. Auch wenn man Rortys Absage an den Wahrheitsbegriff zu radikal findet: Was vom Pragmatismus bleibt, das ist vor allem die Einsicht, dass es keine absolute Gewissheit gibt. Dass wir unsere Überzeugungen unter anderen Umständen möglicherweise nicht mehr rechtfertigen können. Oder dass jemandem »etwas Besseres einfallen könnte« (Rorty). Die Welt ist kein fertiges, kohärentes Ganzes, sie verändert sich laufend. Und wir stehen dieser Welt nicht einfach als Beobachter gegenüber, sondern greifen in sie ein. Wir können sie gestalten. Wir machen sie zu unserer, zu einer menschlichen Welt.

 

 

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