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Ehrensache

Die Rede von der Ehre hat etwas Altertümliches. Sie klingt nach Duellen und Ehrenmorden. Dabei hat der Begriff eine große transformatorische Kraft. Wir könnten  sie nutzen.

Text: Robin Droemer

635 000 Euro. Das ist die Summe, die der Springer-Verlag Jörg Kachelmann schuldet. Auch der Burda-Verlag hat schon gezahlt. Der berühmte Schweizer Wettermann hat beide Verlage verklagt, weil er sich durch ihre Presse seiner Berufsgrundlage beraubt sieht. 2010 warf ihm seine Geliebte Vergewaltigung vor, Kachelmann wurde festgenommen. Die Medien stürzten sich auf den Prozess. »Bild«-Kolumnistin Alice Schwarzer stellte Kachelmann bereits als schuldig dar, als die Verhandlung noch in vollem Gange war. Aber Kachelmann wurde freigesprochen. Trotzdem redete man ihn in Talkshows als »möglichen Vergewaltiger« an. Die Berichterstattung hat Kachelmanns Leben verändert. Er wird wohl nie wieder für das deutsche Fernsehen arbeiten. Doch der Wettermann kämpft weiter. Nicht, weil er das viele Geld bräuchte. Ihm geht es um etwas Wichtigeres als Geld. Ihm geht es um seine Ehre. Ehre, so scheint es, ist ein Relikt archaischer Zeiten. Und doch werden in der modernen Welt Ehrenprofessuren vergeben, Ehrenämter besetzt und Ehrenwörter gehalten. Wer die Wahrheit sagt, ist ein ehrlicher Kerl. Und überhaupt ist vieles immer noch Ehrensache. Unser Wortschatz ist nicht grundlos reich an Wörtern, die »Ehre« enthalten. Auch wenn sich das Wesen der Ehre verändert haben mag, unser Handeln beeinflusst sie nach wie vor.

Ehre reduziert sich also nicht auf Anerkennung durch andere, sondern äußert sich ebenso im Wunsch, diese Ehre auch zu verdienen.

Den Begriff »Ehre« verwenden wir heute oft im Sinne von Anerkennung und Wertschätzung. Allerdings erschöpft sie sich nicht im Einfordern derselben. Der Philosoph Kwame Anthony Appiah sieht im Streben nach Ehre vielmehr den Wunsch, »dem Respekt der anderen würdig zu sein«. Ehre reduziert sich also nicht auf Anerkennung durch andere, sondern äußert sich ebenso im Wunsch, diese Ehre auch zu verdienen. Ein Chefredakteur kann von seinen Mitarbeitern allein aufgrund seiner Stellung Anerkennung und Respekt fordern. Aber wenn er selbst wiederholt schlampig recherchiert, bemüht er sich nicht darum, dieses Respekts auch würdig zu sein. Mit seinen Texten bringt er den Stand der Journalisten an sich in Verruf. Eine Folge könnte sein, dass die Mitarbeiter zwar weiter seine Anweisungen befolgen, ihm wirklichen Respekt aber versagen. Ehre muss von Würde unterschieden werden. In liberalen Gesellschaften glauben wir, dass Menschen von Geburt an Würde besitzen. Sie ist die grundlegendste Form des Respekts. Bereits das Menschsein an sich verleiht uns die Macht, den gleichen Grundrespekt, den alle verdienen, einzufordern. Diesen Anspruch sichern die Menschenrechte, die für jeden gleichermaßen gelten. Ehre hingegen kommt Personen aufgrund ihrer Besonderheiten zu, also wenn man etwas Besonderes leistet oder einer besonderen Gruppe angehört.

Der amerikanische Philosoph Stephen Darwall nennt diese zwei Formen »kompetitiven Respekt« und »Anerkennungsrespekt«. Kompetitiven Respekt zu erhalten heißt, Ruhm und Wertschätzung zu ernten. Wir ehren Personen für herausragende Leistungen, egal ob als Olympionike oder als Weltrekordhalter im Hotdog-Wettessen. Anerkennungsrespekt hingegen beruht auf der Anerkennung einer gesellschaftlichen Stellung und den mit ihr einhergehenden Regeln – es handelt sich also um eine moderne Form der ständischen Ehre. Im Gegensatz zur kompetitiven Ehre setzt Anerkennungsrespekt keine Hochachtung voraus. In einer Polizeikontrolle erkennt man die Position und die Macht des Polizisten an, indem man ihn beispielsweise nicht beleidigt. Einer Schwangeren seinen Platz im Bus anbieten, einem Fremden den Weg zeigen oder einen Mitschüler nicht verpetzen – all das können Formen von Ehre als Anerkennungsrespekt sein. Der Journalist, der sich an den Pressekodex hält, tut dies unter anderem auch, um sich selbst diesen Anerkennungsrespekt gewähren zu können. Bei dieser Form der Ehre geht es also immer auch um Selbstachtung.

Ein Schlüssel zum Verständnis von Ehre ist der Kodex.

Ein Schlüssel zum Verständnis von Ehre ist der Kodex. Ohne diese – meist ungeschriebenen – Gesetze der Ehre wüsste niemand, was als ehrenhaft gilt und was nicht. Je nachdem, welchen Kodex ich als sinnvoll akzeptiere, gehöre ich einer bestimmten Ehrenwelt an. Verschiedene Ehrenwelten grenzen sich durch verschiedene Kodizes ab. Früher war die eigene Ehrenwelt identisch mit dem Stand, dem man angehörte. Mit dem Ende der Feudalgesellschaft hat sich die Lage allerdings verkompliziert. Denn unsere Identität ist ein komplexes Ding. Eine Person sieht sich selbst je nach Situation vielleicht als Vater, Sohn, Beamter oder Skatbruder. Somit ist sie Teil nicht nur einer, sondern mehrerer Ehrenwelten. Damit unterliegt die Person aber auch mehreren Ehrenkodizes: Für Beamte gelten andere Ehrengesetze als für Familienväter. Das kann schon mal zu Konflikten führen, wenn es etwa bei der Arbeit als unehrenhaft gilt, am Freitag früher das Büro zu verlassen, es andererseits aber peinlich wäre, als Vater zu spät zum Chorauftritt der Tochter zu erscheinen. Auch wenn die Beamten nicht den Begriff der Ehre benutzen, beeinflusst Ehre ihre Reaktionen. Wenn der Vater den Kodex der Beamten akzeptiert, schämt er sich für den frühen Feierabend. Die Kollegen hingegen reagieren mit Verachtung. Sie fühlen sich beleidigt, denn ihr Kollege lässt sie im Stich. Er verhält sich nicht so, wie er sich dem Kodex gemäß verhalten sollte, und versagt sich selbst sowie dem Stand des Beamten den Anerkennungsrespekt. Scham und Stolz sind oft nichts anderes als Verkörperungen von Ehre.

Die Spielregeln der Ehre müssen dabei nicht immer explizit sein. Sie bestehen aus den ausgesprochenen oder unausgesprochenen Dingen, die »man als x macht oder nicht macht«. Jörg Kachelmann sieht seine Ehre beschädigt, weil manche ihn für einen Vergewaltiger halten. In den Augen seiner Gegner hat er aber nicht nur gegen das Gesetz verstoßen. Sie verachten ihn für etwas, das man in ihren Augen als Mann niemals tun darf: eine Frau zu sexuellen Handlungen zwingen. Kachelmann sieht sich in seiner Ehre verletzt, weil er diesen Kodex selbst akzeptiert. Ein IS-Terrorist, der Vergewaltigungen als legitim ansieht, würde hingegen keinen Sinn darin sehen, gegen Springer zu klagen, da er einer anderen Ehrenwelt angehört. Für ihn zählt Vergewaltigung nicht zu den Dingen, die man als Mann niemals tun darf. Der Terrorist handelt nach einem anderen, einem menschenverachtenden Kodex. Hier offenbart sich das Gefahrenpotenzial der Ehre: Denn ein Kodex besteht nicht notwendigerweise auch aus moralisch richtigen Regeln. Ein Blick in die Geschichte scheint vielmehr das Gegenteil nahezulegen. Eines der größten Rituale der Ehre etwa war das Duell. Als Privileg der britischen Adligen galt es lange Zeit als angemessene Methode, seine Ehre zu verteidigen. Es existierte sogar ein schriftlicher Kodex, das »Duelling Handbook«, das neben dem korrekten Ablauf auch versicherte, dass die Duellanten allein durch ihr Erscheinen »einander als ebenbürtig anerkennen«. Man duellierte sich also, um sich seinen Anerkennungsrespekt zu erhalten. Eine der häufigsten Ursachen für ein Duell war die Bezichtigung der Lüge – für einen englischen Gentleman gewissermaßen der Leberhaken unter den Beleidigungen. Mit der Teilnahme am Duell bewies der Beschuldigte, dass es ihm seine Ehre als Gentleman wert war, sein Leben aufs Spiel zu setzen.

Obwohl das Duellieren gesetzlich verboten war und berühmte Denker wie David Hume (1711–1776) diese Praxis öffentlich als unmoralisch bezeichneten, hielten viele Adlige lange an ihr fest. Selbst das Argument, das Duell sei unchristlich, führte nicht zu dessen Abschaffung. Was bewegte die Adligen also dazu, diese Praxis aufzugeben? Am Ende war es eine Veränderung des Kodexes, ausgelöst durch gesellschaftliche Umbrüche. Mit dem Aufstieg der Kaufmänner bildete sich eine neue Mittelklasse heraus. Durch Reichtum in die Nähe der Aristokratie emporgestiegen, begannen die Händler, die Gebräuche der Adligen zu kopieren – und duellierten sich. Plötzlich war das Duell nicht mehr nur ein Privileg der Adligen und Gentlemen; es war vielmehr profan. Wie sollte der Gentleman so noch seine Ehre beweisen, wenn selbst gewöhnliche Kaufmänner dies taten? Das Duell eignete sich nicht mehr, um sich seines Anspruchs auf Respekt als Adliger würdig zu erweisen. In kurzer Zeit wurde es als unehrenhaft stigmatisiert und verschwand aus der englischen Gesellschaft. Letztendlich waren es also nicht die rationalen Argumente, die das Ende des Duells einleiteten, sondern eine Veränderung des Ehrenkodexes.

Wir sollten das Richtige tun, weil es das Richtige ist, nicht, weil wir nach Ruhm und Ehre streben.

Immanuel Kant (1724–1804) hätte an dieser Idee sicherlich seine Zweifel gehabt. Laut Kant ist einzig und allein der gute Wille eine legitime Antriebskraft moralischen Handelns: Wir sollten das Richtige tun, weil es das Richtige ist, nicht, weil wir nach Ruhm und Ehre streben. Wer Letzteres tut, handelt nach Kant aus den falschen Gründen. Ehre ist dabei nur einer von vielen. Vielleicht möchte jemand auch einfach nicht verhaftet werden und verstößt deshalb nicht gegen das Gesetz. Oder er möchte ein Mädchen beeindrucken und hilft deswegen der alten Dame über die Straße. Kant kritisiert an diesen Motiven ihre Zufälligkeit. Was, wenn plötzlich kein Mädchen in der Nähe steht oder ein Tyrann das Gesetz ändert? Auch wenn Kants Argumente überzeugend sind, lässt es sich nicht leugnen, dass die Pflicht, das Richtige zu tun, allzu oft nicht ausreicht, um Leute zum Handeln zu motivieren. Wenn man aber bestimmte Ehrgesetze akzeptiert, sie also für angebracht hält, ist Ehre einer der stärksten Antriebe überhaupt. Sollte es gelingen, bestimmte Kodizes bewusst so zu verändern, dass sie sich der Moral angleichen, dann wären diese Motive auch nicht mehr zufällig. Sich des Respekts der anderen als würdig zu erweisen, wäre somit »an die Erfüllung der moralischen Pflichten geknüpft«, wie Appiah es formuliert.

Es ist allerdings fraglich, ob sich Ehrenkodizes so leicht in moralisch einwandfreie Verhaltensregeln transformieren lassen. »Wer von Ehre spricht, darf von Gewalt nicht schweigen«, so der Historiker Winfried Speitkamp. Tatsächlich legen die historischen Beispiele diese enge Verbindung nahe. Auch heute existieren noch Ehrvorstellungen, die dazu führen, dass vor allem Frauen und Mädchen sogenannten »Ehrenmorden« zum Opfer fallen. Hier fällt eine weitere Ebene der Ehre ins Gewicht: das Geschlecht. Die grundlegendsten Ehrenwelten waren seit jeher die Ehre der Männer und die Ehre der Frauen. Ehrenmorde ereignen sich, wenn die Ehre eines Mannes oder seiner Familie abhängt von der Keuschheit einer weiblichen Person in seinem Umfeld. Diese Vorstellungen existieren nicht nur in muslimischen oder mediterranen Kulturen. Auch in Deutschland gehen Eltern oft unterschiedlich streng zu Werke, wenn es um
die ersten sexuellen Beziehungen ihrer Kinder geht. Während Söhne eher angehalten werden, Erfahrungen zu sammeln, warnt man die Töchter lieber vor einer Schwangerschaft. Angesichts moderner Verhütungsmethoden stellt sich die Frage, ob nicht auch hier noch traditionelle Ehrvorstellungen wirken. Dennoch sind diese Sorgen sicher nicht mit einem Ehrenmor vergleichbar. Kein Ehrbegriff der Welt rechtfertigt die Ermordung eines Menschen.

Ehrenmorde zeigen auf grausame Weise, welche Macht ein Ehrenkodex besitzt: Einerseits schreibt er dem Einzelnen vor, wie er sich als Mitglied der entsprechenden Ehrenwelt zu verhalten hat. Andererseits schafft er Verbindungen zu den Errungenschaften anderer, die ebenfalls demselben Kodex folgen. So ist man – um ein alltägliches Beispiel zu wählen – stolz auf den Sieg des eigenen Vereins, ohne dass man selbst etwas geleistet hätte. Ebenso schämt man sich, wenn er haushoch unterlegen ist. Dann aber gehört es zur Ehre eines echten Fans, die Mannschaft trotzdem weiter anzufeuern, um so Anerkennungsrespekt zu reproduzieren. Dieselbe Dynamik wirkt beim Ehrenmord. Die Ehre der Familie soll durch einen Mord wiederhergestellt werden, also den Anerkennungsrespekt innerhalb der Ehrenwelt sichern. Ehrenmorde ereignen sich momentan vor allem unter Muslimen. Interessanterweise stimmen aber alle seriösen islamischen Theologen darin überein, dass Ehrenmorde nicht mit dem Islam vereinbar sind. Außerdem sind sie auch in muslimischen Ländern gesetzlich verboten. Die Mörder identifizieren sich also neben ihrem Glauben noch mit anderen Ehrenwelten. Ein Beispiel dafür sind die Paschtunen in Pakistan und Afghanistan. Diese Volksgruppe folgt neben dem Koran auch noch einem anderen Kodex, dem sogenannten »Weg der Paschtunen«. Dieser legitimiert die Ehrenmorde, die der Koran verbietet. So haben Ehrenmorde in erster Linie etwas mit lokalen Ehrvorstellungen zu tun, nicht mit dem Islam an sich. Genau in dieser Vielschichtigkeit könnte aber eine Chance bestehen, den Kodex zu ändern.

Ein so kraftvolles Instrument wie die Ehre sollten wir nutzen.

Dabei bedarf es allerdings der richtigen Vorgehensweise. Der Diskurs um die Menschenrechte macht deutlich, dass sich Werte und Ehrenwelten nicht einfach so umschreiben lassen. Nicht selten haben sich Muslime ablehnend zur Idee der Menschenrechte geäußert. Aber nicht deshalb, weil sie die in ihnen vermittelten Werte ablehnen würden. Diese finden sich auch vielfach im Koran. Die reaktionäre Haltung gründet vielmehr oft auf dem Gefühl, der Westen wolle das muslimische Denken kolonialisieren und die kulturelle Identität untergraben. Fordert der Westen nun eine Veränderung des Ehrenkodexes in Pakistan, würde das zu ähnlichen Reaktionen führen. Doch zum Glück identifizieren sich die meisten nicht nur mit einer Ehrenwelt. Das heißt, der Kodex könnte sich ändern, wenn Muslime selbst anfangen, die Praxis als unehrenhaft zu sehen, eben weil sie nicht mit ihrem islamischen Glauben vereinbar ist. So wäre es nicht der Westen, der den Islam beschuldigt. Es wäre jemand aus der eigenen religiösen Bezugsgruppe, der das Versagen des Ehrenmord-Kodexes anprangert. Das könnte den Ehrenmörder wirklich beschämen und veranlassen, von der Praxis Abstand zu nehmen. Ein so kraftvolles Instrument wie die Ehre sollten wir nutzen. Auch wenn Kant recht damit haben mag, dass der gute Wille immer der beste Grund zum Handeln ist: Manchmal braucht man attraktivere Anreize. Auch heute
noch leben wir in einer Welt der Ehre, selbst wenn wir sie manchmal nicht explizit benennen. Ein reflektierter Umgang mit Ehrenkodizes und deren gezielte Manipulation ist daher umso wichtiger. Werden wir uns der Macht bewusst, die Ehre über uns hat, könnten wir unmoralische Traditionen vielleicht wirklich beenden.

 

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