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Wir sind viele!

Ein geheimnisvolles Band hält uns zusammen – immer wieder und immer wieder neu. Dabei besteht es bloß aus drei Buchstaben: wir. Wie kann das sein? Was ist das Wir für ein Ding? Wie kommt es zu dieser Verbundenheit – selbst unter Unbekannten? Und wann ist ein Wir ein gutes Wir?

Text: Thomas Vašek und Tobias Hürter

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem voll besetztenZugabteil, zusammen mit wildfremden Menschen. Mitten auf der Strecke bleibt der Zug stehen, es gibt keine Durchsagen, keiner weiß, wann es weitergeht. Unter Ihren Mitreisenden entsteht Unmut, man tauscht genervte Blicke aus, kommt miteinander ins Gespräch. Jemand sagt: »Nun warten wir schon seit einer halben Stunde. Das können die mit uns doch nicht machen.« Doch: Wer ist hier »wir«? Und was heißt da »uns«? Es ist eine ganz alltägliche Situation. Dabei ist etwas Wundersames passiert: Ein »Wir« hat sich gebildet, zwischen Menschen, die einander noch nie gesehen haben. Natürlich ist dieses »Wir« flüchtig, spätestens beim Aussteigen löst es sich wieder auf, jeder geht seiner eigenen Wege. Und doch bleibt die Sache rätselhaft. Für eine kurze Zeit ist ein magisches Band zwischen Fremden entstanden, ein temporärer Zusammenhalt, eine Art von Solidarität.

Das Wort »wir« gebrauchen wir in allen möglichen Zusammenhängen. Oft verwenden wir es als Personalpronomen, manchmal aber auch als Substantiv. »Wir« sind ein Paar. »Wir« sind eine Familie. »Wir« arbeiten zusammen. »Wir« Journalisten, wir Männer, wir Deutschen. Wir Menschen. Wir sprechen von einem »Wir-Gefühl«. Oder einfach nur von einem Wir. Aber was genau ist dieses Wir? Wie entsteht es? Und wer gehört dazu? Das Pronomen »wir« bezeichnet laut Duden einen Kreis von Personen, zu dem man selbst gehört. Aber das sagt uns noch nicht viel. Schließlich fragt sich, was es heißt, zu einem solchen Kreis zu gehören – und wie sich dieser Kreis abgrenzt gegen all jene, die sich außerhalb des Kreises befinden. Schon die Sprache kann uns dabei leicht in die Irre führen. Dass ich »wir« sage, wenn ich einen bestimmten Kreis von Menschen inklusive mich selbst meine, heißt noch nicht, dass es ein Wir gibt. Womöglich ist es einfach nur eine grammatikalische Fiktion, also etwas, das uns die Sprache vorgaukelt. Wenn »ich« als Philosoph sage »wir Philosophen«, dann sage ich damit nicht, dass es ein Wir der Philosophen gibt. Wenn wir von »wir« sprechen, dann betonen wir damit etwas Gemeinsames, das »uns« miteinander verbindet. Das kann ein gemeinsames Erlebnis sein, ein gemeinsames Ziel, eine Lebensform oder auch nur eine bestimmte Situation, in die man zusammen mit anderen gerät. Diese Verbindung kann sehr eng sein, wie etwa in persönlichen Beziehungen, aber auch ganz flüchtig, wie in der beschriebenen Situation im Zug. Jedes »Wir«, so legt uns die Grammatik nahe, besteht aus mehreren »Ichs«. Das Wir ist also etwas Subjektives. Man sieht es Menschen nicht an, ob sie ein Wir bilden oder nicht. Auf ein Wir kann man nicht zeigen. Jemand kann sich in einem bestimmten Kreis als Teil eines Wirs fühlen, ein anderer in demselben Kreis hingegen nicht. Zugleich kann ein und dieselbe Person verschiedenen Wirs zugehören. So könnte sich jemand zum Wir der Bayern-München-Fans ebenso zählen wie zum Wir der Ärzte oder zum Wir der Herzkranken. Ein Wir ist eine subjektive Erfahrung, es setzt anscheinend Bewusstsein voraus. Eine Ansammlung von Steinen bildet kein Wir, so ähnlich sich die Steine auch sein mögen. Mein Fahrrad und ich ergeben ebenfalls kein Wir. Das Wir scheint etwas Menschliches zu sein, das mit Sprache zusammenhängt. Menschen haben die Fähigkeit, sich mit ihren Gedanken und Äußerungen auf etwas zu beziehen: auf konkrete oder abstrakte Dinge oder auf Dinge, die gar nicht existieren; auf Eigenschaften und auf Sachverhalte. Wer an den Mond denkt, stellt eine Verbindung zwischen sich und dem Mond her. Ziemlich erstaunlich – aber so erstaunlich nun auch wieder nicht. Auch ein Thermostat habe intentionale Zustände, sagt der australische Philosoph David Chalmers, sein Innenleben bezieht
sich auf die Temperatur der Luft, die es umgibt. Wirklich erstaunlich ist erst unsere Fähigkeit zu Wir-Intentionalität: Mehrere Menschen können ihren Geist gemeinsam auf Gegenstände, Sachverhalte, Ziele oder Werte richten. Das kriegen Thermostate nicht hin. Unter Menschen ist Wir-Intentionalität allgegenwärtig. Eltern kümmern sich gemeinsam um ihr Kind. Politiker finden einen gemeinsamen Willen. Fans feuern gemeinsam ihr Team an. Oft ist es gerade diese kollektive Gerichtetheit auf etwas, die ein »Wir« überhaupt erst entstehen lässt: Menschen erleben gemeinsam etwas, teilen Ziele oder Werte.

Wirklich erstaunlich ist erst unsere Fähigkeit zu Wir-Intentionalität: Mehrere Menschen können ihren Geist gemeinsam auf Gegenstände, Sachverhalte, Ziele oder Werte richten.

Aber wie entsteht Wir-Intentionalität? Das ist eine harte Nuss für Philosophen. Offenbar spielen unsere Sprachkompetenz und unsere Fähigkeit, uns in Mitmenschen hineinzuversetzen, eine Rolle dabei. Aber wie genau gelingt uns der Sprung von individueller zu kollektiver Intentionalität? Das Rätsel wird an einem Beispiel deutlicher: Anna will aufs Oktoberfest gehen. Bruno will auch aufs Oktoberfest gehen. Heißt das schon, sie wollen gemeinsam aufs Oktoberfest gehen? Natürlich nicht. Aber vielleicht will Anna mit Bruno aufs Oktoberfest gehen und Bruno mit Anna. Wollen sie also gemeinsam hingehen? Nicht unbedingt. Vielleicht weiß die eine gar nicht vom Wunsch des anderen. Und auch wenn sie es voneinander wissen, kann es noch ein weiter Weg zu einem gemeinsamen Willen sein. Womöglich will Anna ins Bierzelt und Bruno in die Geisterbahn. Wie ihnen der Sprung vom Ich zum Wir gelingt, den Menschen täglich wie selbstverständlich machen, kann bisher niemand befriedigend beantworten. Dabei beschäftigen sich die Gelehrten schon seit Langem mit dem Phänomen der Wir-Intentionalität, wenn auch unter anderen Bezeichnungen. Der französische Soziologe und Ethnologe Émile Durkheim (1858 –1917) sprach von
»conscience collective« (kollektivem Bewusstsein), der deutsche Ökonom Max Weber (1864 –1920) von »sozialem Handeln«. Der britische Philosoph Robin Collingwood (1889 –1943) betrachtete »joint will« (gemeinsames Wollen) sogar als Grundlage der Gesellschaft. Den modernen Begriff der Wir-Intentionalität prägte der amerikanische Philosoph John Searle in seinem berühmten Aufsatz »Collective Intentions and Actions« (Kollektive Absichten und Handlungen, 1990). Searle ist überzeugt, dass gemeinsame Intentionalität nicht auf die Intentionalität der einzelnen Beteiligten reduzierbar ist. Sie ist eine eigene Fähigkeit. Aber wer oder was besitzt diese Fähigkeit? Offenbar kann jeder Beteiligte allein nur für sich selbst denken und handeln. Und doch scheint es, als hätten Gruppen von Menschen ein Eigenleben. Sie sind Akteure. Aber für ein »Wir« im emphatischen Sinn reicht es nicht, etwas gemeinsam zu tun. Zu einem Wir gehört offenbar auch ein bestimmtes Gefühl. In einer Gruppe braucht es Zusammenhalt, ein gewisses Maß an Solidarität, einen gemeinsamen Sinn über den Tag hinaus. Sozialpsychologen sprechen von »Gruppenkohäsion«. Von diesem Wir-Gefühl kann es abhängen, ob ein Projekt gelingt oder nicht; das ist der tiefere Sinn aller »Teambuilding«-Maßnahmen. Und wenn das Wir-Gefühl weg ist, dann ist es meist auch mit der Liebe vorbei. Manchmal kann dieses Wir-Gefühl aber auch so stark sein, dass wir uns tatsächlich als eine Einheit erleben. Denken wir an symbiotische persönliche Beziehungen, an Liebe und Familie, aber auch an das Wir-Erlebnis von Fußballfans. Solche Erfahrungen verführen dazu, das Wir für eine Einheit, für ein Ganzes zu halten – für ein und dieselbe Erfahrung, die man gemeinsam macht. Aber schon die Grammatik zeigt, dass das Wir eben kein Singular ist, sondern ein Plural. Es besteht aus einer Vielfalt von Ichs, und damit auch aus einer Vielfalt von Erfahrungen. Der Existenzialist Jean-Paul Sartre (1905 –1980) bestimmte das »Wir« einmal als »Pluralität von Subjektivitäten, die einander als Subjektivitäten anerkennen«. Aber diese Anerkennung setzen wir nicht explizit, sondern vollziehen sie, indem »wir« eben etwas gemeinsam tun. Auf diese Weise erfahren wir uns nebenher als Wir. Das Wir kann Subjekt und Objekt gleichermaßen sein. »Wir« können etwas sehen. »Wir« können aber auch gesehen werden. Ein Subjekt-Wir bildet sich durch geteilte Erfahrungen, man erlebt etwas gemeinsam, man engagiert sich für die gleiche Sache, man befindet sich in der gleichen Situation. Sartre beschreibt diese Erfahrung als einen »gemeinsamen Rhythmus«, wie beim Tanzen, man bewegt sich also gewissermaßen im gleichen Takt. Wie ein »Subjekt-Wir« entsteht, erläutert Sartre am Beispiel von Gästen eines Terrassencafés, die eigentlich nichts gemeinsam haben, die sich nur gegenseitig beobachten, also als Objekte behandeln, bis sie plötzlich einen Unfall auf der Straße beobachten. Nun springen alle auf, wollen helfen, sie ergreifen Partei. Plötzlich sind die latenten Spannungen zwischen den Gästen verschwunden: Ein Subjekt-Wir ist entstanden.

Jedes starke WIR birgt die Gefahr, dass nur noch das Gemeinsame zählt

In einem Objekt-Wir hingegen erfährt man sich nach Sartre gemeinsam als Objekt für andere, die uns als ein Wir betrachten. »Wir sind wir nur in den Augen der anderen, und vom Blick der anderen übernehmen wir uns als Wir«, schreibt Sartre. Das Wir braucht also einen Dritten, der dieses Wir anerkennt. So werden etwa Arbeitskollegen zum Wir, wenn sie ihrem Chef gegenüberstehen. Oder einander wildfremde Menschen, die von jemandem bedroht werden. Das Wir entsteht also aus der Konfrontation mit dem anderen, dem »Nicht-Wir«, die uns zum Wir zusammenschweißt. Genau deshalb kann die Gesamtheit der Menschen eben kein Wir sein, weil ihr – in der Abwesenheit Gottes – eben der »Blick des anderen« fehlt.

Von einem Wir erwarten wir oft, dass es unter denen, die zu diesem Wir gehören, möglichst viele Gemeinsamkeiten gibt. Dass wir alle am gleichen Strang ziehen. Dass wir gleichsam wie ein ICH agieren. Nennen wir ein solches Wir ein »starkes« Wir – ein WIR. Jedes »starke« WIR birgt die Gefahr, dass nur noch das Gemeinsame zählt, dass Differenzen verschwinden. Wenn wir dogmatisch festlegen, was das WIR ausmacht, wer zu diesem WIR gehört und wer nicht, dann wird das WIR zur totalitären Einheit. Man denke an die »Volksgemeinschaft« der Nazis, an die kommunistische Klassenideologie, an manche Sekten. Der Begriff des WIR wird problematisch, sobald wir darin eine homogene Gemeinschaft sehen, eine Einheit statt eine Pluralität.
Genau deshalb ist der Begriff »Volk« so ungeheuer konfliktgeladen: Wenn das »Volk« auf einer gemeinsamen Identität beruht, dann sind eben all jene ausgeschlossen, die sich mit dieser Identität nicht »identifizieren« können. Und darin ist bereits die totalitäre Vorstellung angelegt, ein solches »Volk« müsse überhaupt erst zu sich selbst gelangen, also sein eigentliches, sein »wahres Wesen« realisieren. Einer solchen Vorstellung erlag etwa Martin Heidegger (1889 –1976). Nach Heidegger ist das »Mitsein« mit anderen konstitutiv für das menschliche Dasein. Dieses »Mitsein« geht für ihn der individuellen Existenz voraus, es ermöglicht erst, dass wir uns zu anderen überhaupt verhalten können. Doch das alltägliche »Mitsein«, der alltägliche Umgang mit anderen ist für Heidegger »uneigentlich«. Erst im »Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes«, in der Übernahme seines geschichtlichen Erbes, komme das Dasein in sein wahres Wesen. In der Machtergreifung des Nationalsozialismus sah Heidegger offenbar diesen Augenblick gekommen.

Das wir beruht nicht auf gemeinsamer Identität, sondern auf den Unterschieden

Wenn wir der totalitären Versuchung widerstehen wollen, müssen wir aufhören, das Wir als eine Totalität zu betrachten – als »Volk«, als «Gemeinschaft«, als »Identität«, als WIR. Das Wir ist nichts Metaphysisches. Eine Gruppe von Menschen hat kein »Wesen«, das sie zum WIR macht. Das Wir ist nicht das »Eigene«, das »Identitäre«, das ethnisch Homogene, wie die neuen Rechten glauben. Ein Syrer oder Türke, mit dem man täglich zu tun hat, kann einem näher sein als ein Deutscher, den man noch nie gesehen hat; umgekehrt kann einem ein Deutscher fremder sein als jeder Migrant. In dem »starken«, emphatischen WIR, das wir vor allem aus Liebe und Familie kennen, haben wir gemeinsame Werte, gemeinsame Ziele, eine gemeinsame Perspektive auf die Welt. Aber dieses »starke« WIR beruht eben auf engen persönlichen Bindungen. Es wird der Vielfalt der Welt, in der wir leben, nicht gerecht. Vielleicht brauchen wir heute einen neuen Begriff, der zwischen dem »Ich« und dem »Wir« gleichsam vermittelt. Eine Art »schwaches« Wir, das sich nicht als Totalität denkt, das nicht das Gemeinsame betont, sondern die Unterschiede – eben kein WIR, sondern ein »wir«. Das wir der Menschen, die in Deutschland leben, besteht nicht darin, dass wir Deutsche sind. Es besteht auch
nicht darin, dass wir einer bestimmten Kultur angehören, bestimmte Werte miteinander teilen, die gleiche Sprache sprechen. Unser »schwaches« wir entsteht vielmehr daraus, dass wir in gewissen Beziehungen zueinander stehen, dass wir
miteinander in »Kontakt« sind, wie der französische Philosoph Jean-Luc Nancy das nennt. Wir existieren also nicht einfach nebeneinander her.

Wir ist eben kein Singular, sondern eine Pluralität

Wir begegnen einander, wir haben miteinander zu tun, wir arbeiten zusammen, wir befinden uns am gleichen Ort. Diese Verbindungen müssen keine physischen sein. Ein wir kann auch im Internet entstehen, auch in einer Facebook-Gruppe ist man miteinander in »Kontakt«, macht gemeinsam Erfahrungen. Aber dieses wir ist eben kein Singular, sondern eine Pluralität. Es beruht nicht auf einer gemeinsamen Identität, sondern auf den Unterschieden. Zu einem solchen wir könnten auch all jene gehören, mit denen wir in »Kontakt« stehen, zu denen wir Verbindung haben, ohne dass es Gemeinsamkeiten gibt. Ein schwaches wir könnten auch Personen bilden, die völlig unterschiedliche Lebensformen, kulturelle Hintergründe oder politische Auffassungen haben. Ein wir bewegt sich eben nicht im gleichen Takt – wie bei Sartre – oder gar im Gleichschritt. Es kann auch Konflikte aushalten, bis zu einem gewissen Grade »lebt« es sogar davon. Pluralität besteht eben nicht in Konsens. Wenn wir eine Vielfalt der Perspektiven und Lebensformen sicherstellen wollen, dann müssen wir auch akzeptieren, dass wir über diese Perspektiven und Lebensformen keine Einigkeit erzielen, uns vielleicht nicht einmal rational darüber verständigen können. Man kann und soll über das Tragen der Burka genauso streiten wie über die Homosexuellenehe und vieles andere. Aus der Organisationsforschung weiß man heute, dass Konflikte nicht unbedingt schädlich sein müssen; sie können Beziehungen stärken, statt sie zu schwächen – vorausgesetzt, es geht um die Sache, und es kommt nicht zu persönlichen Verletzungen.

Ein wir bewegt sich eben nicht im gleichen Takt oder gar im Gleichschritt

Auch unvereinbare Unterschiede und Gegensätze können ein wir konstituieren, wie Sartre gezeigt hat, vielleicht sogar viele weitere, kleinere wirs innerhalb des größeren. Das wir der Muslime, das wir der Rapper, das wir der Computerspieler, das wir der Bayern-München-Fans, das wir der Zugpassagiere, die sich über eine Verspätung ärgern. Die Frage ist dann natürlich, von welchem Kriterium es abhängt, wer zu diesem wir gehört. Ein Kriterium könnte ontologisch sein – eben eine Kontiguität, eine »Berührung«, wie Nancy das nennt, ein Kontakt, ein »miteinander zu tun haben«, ein Bezug zu einer Situation, zu einem Ort, zu einer Sache. Das zweite Kriterium wäre normativ. Wer zu diesem wir gehören will, der muss auch die Pluralität respektieren, die er oder sie selbst für sich in Anspruch nimmt. Der wechselseitige Respekt bleibt jedoch leer ohne die Fähigkeit, den »Blick« des anderen zu erkennen, dessen Perspektive auf einen selbst einzunehmen. Das erste Kriterium schließt all jene aus, die sich völlig von anderen abschließen, das zweite hingegen jene, die ihre eigenen Vorstellungen von einem WIR gegen andere durchsetzen wollen. Für abgeschottete Parallelgesellschaften und totalitäre Dogmatiker, von Rechtsextremisten bis zu Islamisten, ist auch in einem schwachen wir kein Platz. Die Identität dieses wir, seine Singularität, besteht also gerade in seiner Pluralität. Es gibt keinerlei übergeordneten Sinn, der dieses wir zusammenhält. Ein solches wir garantiert lediglich die Vielfalt. Aber wie können wir uns dann mit einem solchen wir »identifizieren«? Die Antwort lautet: Indem wir gemeinsam für diese Pluralität, für dieses schwache wir kämpfen. Und zwar auch gegen all jene, die im Namen eines starken WIR diese Pluralität zerstören wollen. Das wir bekommt seinen Sinn dadurch, dass wir es wichtig nehmen, damit jeder seine eigene Vorstellung vom Leben, und damit auch seine konkrete Idee vom Wir, realisieren kann. Das plurale wir konstituiert sich selbst wiederum aus einer Pluralität von wirs. Frei nach Jean-Luc Nancy: Der Sinn der Welt sind wir – nicht WIR.

 

 

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