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Das Geheimnis der goldenen Mitte

Wir loben ihn oft und wünschen ihn herbei: den Kompromiss. Aber was ist das überhaupt? Und woran erkennt man, ob ein Kompromiss gut ist? Ein Essay über Zugeständnisse und den Blick für den anderen.

Von: Thomas Vašek

Wie lautet Ihr Computer-Passwort? Vermutlich nicht »Passwort«, das wäre zwar einfach, aber ziemlich leicht zu knacken. Wahrscheinlich lautet es aber auch nicht »$)%FJ§%F)§JDC)T?$LFL§Ss§V« oder so ähnlich. Dieses Passwort wäre zwar ziemlich sicher, aber kein Mensch könnte es sich merken. Vermutlich werden Sie ein Passwort gewählt haben, das irgendwo »in der Mitte« liegt – eines, das halbwegs sicher ist und trotzdem so einfach, dass Sie es auswendig können. Vermutlich ist Ihr Passwort also eine Art »Kompromiss«.

Unser Leben ist voller solcher Kompromisse. Das »Maximum«, das »Beste« in einer bestimmten Hinsicht, erreichen wir nur selten. Das Extreme kann uns überfordern und zu Konflikten mit anderen führen. In vielen Fällen wählen wir daher eine Art Mittelweg, der uns akzeptabel erscheint. Wir machen Kompromisse zwischen unseren eigenen Zielen, etwa zwischen Gesundheit und Genuss, zwischen Sicherheit und Bequemlichkeit. Wir machen aber auch Kompromisse im Umgang mit anderen, indem wir unsere eigenen Ziele und Ansprüche zurückschrauben, um eine gute Beziehung nicht zu gefährden – und manchmal auch einfach nur um des lieben Friedens willen. Ohne Kompromisse geht es offenbar weder in der Demokratie noch im täglichen Leben. Aber welche Kompromisse sind akzeptabel, welche nicht? Und woran erkennt man »faule Kompromisse«, die wir kategorisch ablehnen müssen?

Kompromisse können Koope­ra­tions­bereitschaft und guten Willen signalisieren, aber auch den Verrat von Prinzipien bedeuten.

Unter einem Kompromiss versteht man normalerweise eine Übereinkunft zwischen Konfliktparteien, die auf Zugeständnissen beider Seiten beruht. Der Begriff »Kompromiss« (vom lateinischen compromittere für sich gegenseitig etwas versprechen) kommt ursprünglich aus dem Recht. Es handelt sich dabei um eine Art von Ausgleich. Beide ­Seiten machen Abstriche von ihren Zielen, um eine Lösung des Konflikts zu erreichen. Der Kompromiss ist dabei ein »zweideutiger Begriff«, wie der israelische Philosoph ­Avishai Margalit schreibt. Kompromisse können Koope­ra­tions­bereitschaft und guten Willen signalisieren, aber auch den Verrat von Prinzipien bedeuten.
In vielen Fällen ergibt ein Kompromiss durchaus Sinn. Denken wir an ganz alltägliche Entscheidungen, etwa beim Einkaufen oder bei der Wahl eines Restaurants. Oft haben wir gute Gründe, bei unseren Zielen Abstriche zu machen, zum Beispiel weil wir Geld sparen oder unnötigen Streit vermeiden wollen. Ein gewisses Maß an Kompromissbereitschaft erwarten wir von Arbeitskollegen ebenso wie von Partnern und Freunden. Wenn jeder nur auf seinem Standpunkt, auf seinen Wünschen und Zielen beharrt, funktioniert unser soziales Leben nicht. Nur wenn wir Kompromisse schließen, wenn wir wenigstens ein Stück weit »aufeinander zugehen«, können wir überhaupt weiter kooperieren. Systemtheoretisch betrachtet, könnte man sagen, Kompromisse sichern die »Anschlusskommunikation«.

Das richtige Maß – für uns

Es gibt allerdings auch falsche oder faule Kompromisse, die unter keinen Umständen annehmbar sind. Wer davon ausgeht, dass die Wahrheit immer »in der Mitte« zwischen zwei Extremen liegt, begeht einen logischen Fehlschluss. Schließlich hängt die »Mitte« ja davon ab, was die beiden »Extreme« sind. Nehmen wir an, die Extreme wären »Foltern« und »Nicht-Foltern«. Die Mitte dazwischen wäre »ein wenig foltern« – und das wäre nicht nur ein fauler, sondern ein unmenschlicher Kompromiss. Wenn wir die Menschenrechte ernst nehmen, dann gibt es zwischen »Foltern« und »Nicht-Foltern« keinen Mittelweg – und daher auch keinen Kompromiss.
Jeder »gute« Kompromiss beruht auf der Idee, dass es zwischen zwei gegensätzlichen Positionen eine irgendwie vernünftige Zwischenposition gibt, auf die man sich einigen kann, ohne damit wesentliche Prinzipien aufzugeben – oder völlig sein Gesicht zu verlieren. Philosophisch können wir allerdings fragen, warum es eine solche »goldene Mitte« überhaupt geben soll, wie man sie bestimmen kann – und was sie eigentlich so erstrebenswert macht.
Hinter der Redensart von der »goldenen Mitte« steckt die ethische Intuition, dass Extreme irgendwie »schlecht« oder womöglich sogar gefährlich sind. Das ist die Idee des richtigen Maßes, die sich schon in der antiken Philosophie findet. So definiert Aristoteles die Tugend als »Mitte« (meson) zwischen »Übermaß« und »Mangel«, also zwischen den Extremen. Diese Mitte ist dabei nicht in einem mathematischen Sinn zu verstehen, als Punkt, der von zwei anderen Punkten gleich weit entfernt ist. Es geht vielmehr um die »Mitte für uns« (meson pros hemas).
Was dem einen schon »zu viel« ist, das ist dem anderen immer noch »zu wenig«. So bestimmt Aristoteles etwa die Tapferkeit als vernünftige Mitte zwischen den Extremen »Tollkühnheit« und »Feigheit«. Aber wo diese Mitte genau liegt, hängt vom jeweiligen Individuum ab. Der Ängstliche mag etwas »tollkühn« finden, was der Mutige nicht einmal für »tapfer« hält.
Wer nach einem »Mittelweg« sucht, darf sich nicht allein an der Sache selbst orientieren. Es geht immer auch um die beteiligten Menschen. Wenn ich selbst in einer bestimmten Angelegenheit einen »Kompromiss« mache, dann sind es meine eigenen Wünsche und Ziele, von denen ich ausgehen muss: Ein mittellanges Passwort wird für den eher sicherheitsbewussten Menschen etwas anderes bedeuten als für denjenigen, dem es primär um den Komfort geht. Bei einem Kompromiss zwischen mehreren Parteien kommt es offenbar auf die Wünsche und Ziele aller Beteiligten an. Ein »Vollblutkompromiss«, wie ihn der Philosoph Avishai Margalit nennt, beruht darauf, dass man den Standpunkt des anderen anerkennt.

Die demokratische Gesellschaft sucht ständig Kompromisse

Welche Kompromisse wir sonst für akzeptabel halten, hängt zum einen von unseren Werten ab. Wenn es jemandem sehr wichtig ist, jeden Tag Sport zu machen, wird er kaum bereit sein, sich dabei wesentlich einzuschränken – und vermutlich Probleme mit einem Partner haben, der genau das von ihm verlangt. Andererseits beziehen sich Kompromisse zwischen Menschen immer auch auf die Beziehung, in der sie zueinander stehen. Wer zu keinerlei Kompromiss bereit ist, wer immer nur »sein eigenes Ding durchziehen« will, der führt kein soziales Leben als Mitglied einer Gemeinschaft.
Eine moderne demokratische Gesellschaft lässt sich in gewisser Hinsicht als ständige Suche nach Kompromissen beschreiben. Das heißt jedoch nicht, dass Kompromisse immer die beste Lösung sind. Es gibt auch »falsche« Kompromisse, die auf einer falschen Beschreibung des Konflikts beruhen, den man damit lösen will.
Aus diesem Blickwinkel versteht man etwa die heutigen Sicherheitsdiskussionen besser, von der Frage der Terrorbekämpfung bis zur Internetsicherheit. Auf den ersten Blick scheint ein Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit zu bestehen. Es sieht so aus, als müssten wir auf Freiheit verzichten, wenn wir Sicherheit haben wollen, und umgekehrt. Aus dieser Sicht wären Freiheit und Sicherheit also die »Ex­treme«, zwischen denen wir einen Mittelweg suchen. Allerdings kann man mit guten Gründen bestreiten, dass Freiheit und Sicherheit grundsätzlich miteinander unvereinbar sind, sodass wir einen »Kompromiss« zwischen beiden brauchen. So bringen etwa Sicherheitskontrollen am Flughafen vermutlich mehr Sicherheit. Aber wer würde behaupten, dass dadurch unsere Freiheit in nennenswertem Maße eingeschränkt wird?
In der Frage der Sicherheit geht es daher nicht zwangsläufig um einen Kompromiss zwischen Sicherheit und Freiheit. Vielmehr geht es darum, beides miteinander in Einklang zu bringen. Über die entsprechenden Maßnahmen kann man streiten, und um eine Lösung zu finden, können auch Kompromisse nötig sein. Aber das sind nicht notwendig Kompromisse zwischen den Werten Sicherheit und Freiheit, sondern vielmehr Kompromisse zwischen unterschiedlichen Auffassungen über den Sinn solcher Maßnahmen.
Zwischen Sicherheit und Freiheit gibt es keine »goldene Mitte«, die man auf objektive Weise, etwa mit wissenschaftlichen Methoden, bestimmen könnte. Es kommt auf die konkreten Sicherheits- und Freiheitsbedürfnisse der Menschen an. Die einen fühlen sich durch Überwachungskameras und ähnliche Maßnahmen eingeschränkt, die anderen hingegen nicht. Wenn man das Thema Sicherheit auf dieser konkreten Ebene beschreibt, kann man auch Kompromisse erzielen, die diesen Bedürfnissen auf halbem Wege entgegenkommen.
Natürlich sind strenge Sicherheitskontrollen am Flughafen nervig für die Passagiere. Aber es geht hier eben nicht um Freiheit, sondern allenfalls um eingeschränkten Komfort. Unter dieser Beschreibung stellt sich der »Kompromiss«, um den es geht, gleich anders dar. Der Passagier muss insofern Abstriche machen, als er länger warten muss. Aber das scheint uns zumeist ein akzeptabler Kompromiss zu sein.
Analog kann man sich fragen, wie Überwachungsmaßnahmen im Netz funktionieren müssen, damit sie die Freiheit eben nicht einschränken. Auch hier geht es nicht um einen Kompromiss zwischen Sicherheit und Freiheit, sondern um einen Kompromiss zwischen den Ansprüchen der Sicherheitsbehörden und Geheimdienste einerseits und den Ansprüchen der Bürger andererseits.
Ein falscher oder fauler Kompromiss wäre es dabei, sich darauf zu einigen, die Bürgerrechte nur »ein bisschen« zu verletzen – das wäre der Weg in den Unrechtsstaat. Ein guter Kompromiss hingegen könnte darin bestehen, dass die Sicherheitsbehörden ihre Überwachungsansprüche mäßigen und unter demokratische Kontrolle stellen, während die Bürger ein bestimmtes Maß an Überwachung akzeptieren, sofern sie rechtsstaatlich legitimiert ist.

Der Kompromiss ist nicht immer die sachlich beste Lösung

Das Beispiel Sicherheit zeigt: Kompromisse müssen immer konkret sein. Dazu müssen wir aber in der Lage sein, die Extreme konkret zu beschreiben und zu begründen, warum es überhaupt Extreme sind. Erst dann können wir versuchen, die vernünftige »Mitte« zu finden, mit der dann möglichst alle »leben« können. Insofern liegt die Funktion von Kompromissen nicht bloß darin, die Gesellschaft am Laufen zu halten. Sie können auch zur Entideologisierung von Konflikten ­beitragen. Die ernsthafte Suche nach einem Kompromiss zwingt dazu, dogmatische Positionen zumindest abzuschwächen, weil man sonst nicht miteinander im Gespräch bleiben kann. Genau deshalb bedingen sich Demokratie und politische Kompromisse gegenseitig.
Nicht immer ist ein Kompromiss die sachlich beste Lösung. Aber er kann wenigstens tragfähig genug sein, um in der Sache weitermachen zu können. Und wenn sich eine Kompromisslösung nicht bewährt, dann kann man sie weiterentwickeln. Mit jedem Kompromiss lernt man etwas über die Sache, über die anderen und über sich selbst. Insofern ist ein Kompromiss nicht nur Verzicht, sondern auch Gewinn – vorausgesetzt es ist kein fauler Kompromiss, mit dem man die eigenen Werte und Prinzipien verrät. Darin steckt vielleicht auch die tiefere Einsicht, dass es selbst dann gut ist, sich in den eigenen Ansprüchen zu mäßigen, wenn man davon überzeugt ist, dass diese Ansprüche berechtigt sind.
Weder sind wir allein auf der Welt, noch können wir alles haben, was wir haben wollen. Unsere Tendenz zum Kompromiss hat daher vielleicht auch etwas mit der menschlichen Erfahrung zu tun, dass das »zu viel« ebenso zu Problemen führt wie das »zu wenig«. Mit der »goldenen Mitte« sind wir, so scheint es, auf der sicheren Seite. Das ist womöglich der Kompromiss, mit dem wir leben müssen.

Dieser Artikel erschien zuerst in HOHE LUFT 6/2017.

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