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»Wenn das Schild in die falsche Richtung weist, dann muss man es umdrehen«

Hubert Wolf ist einer der angesehensten und engagiertesten Theologen und Kirchenhistoriker des Landes. Er gab uns Auskunft über den Wandel (in) der Kirche – und über die wahre Bedeutung der Tradition.

Interview: Rebekka Reinhard, Thomas Vašek

Seit die katholische Kirche durch diverse Missbrauchsskandale weltweit in der Kritik steht, ist es wichtiger denn je, grundsätzliche Fragen zu klären: Wie hängen Fundamentalismus und Reformverweigerung zusammen? Welche Rolle spielen hierarchische Machtstrukturen? Und vor allem: Was ist das Verhältnis von Wandel und Tradition? Als interdisziplinär ausgerichtete Philosophie-Zeitschrift wollten wir auf diese Fragen Antworten finden. Hubert Wolf war für uns der kompetenteste Gesprächspartner, den wir uns wünschen konnten. Wolf, der an der Universität Münster lehrt und mit seinem Team seit vielen Jahren in den Vatikanischen Archiven forscht, ist nicht nur ein herausragender Wissenschaftsvermittler; der mit zahlreichen Preisen wie dem Leibniz-Preis und (zuletzt) dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa Geehrte ist vielen auch als »Dan Brown« der Kirchengeschichte bekannt. Sein internationaler Bestseller über die »Nonnen von Sant’Ambrogio« wird gerade verfilmt. Im Gespräch mit HOHE LUFT, das via Zoom stattfindet, besticht Wolf durch einen unkorrumpierbar kritischen Geist, eine Wachheit und Ernsthaftigkeit, die für manche Akademikerin, manchen Akademiker vorbildhaft sein sollten…

HOHE LUFT: Die Kirche als Institution hat nur zwei Erkenntnisquellen, auf die sie sich berufen kann – die Schrift und die Tradition. Wie kann sich eine solche Institution überhaupt wandeln?
HUBERT WOLF: Diese Frage können Sie dem Historiker oder dem Theologen oder beiden stellen. Sie sagen »nur« – ich sage: Gott sei Dank haben wir zwei Quellen. Die Protestanten haben nur eine, nämlich die Schrift. Tradition bedeutet – wenn wir uns die Tradition unserer eigenen Kirche anschauen – einen lebendigen Traditionsstrom. Wir haben durch das Instrument der ­Tradition die Möglichkeit, den 2000 Jahre alten Text der Bibel immer wieder neu zu aktualisieren. Dadurch wird die Tradition zum wesentlichen Movens für die vielfältigen historischen Veränderungen in der Kirche und ihre auch heute mögliche Veränderungsfähigkeit. Aber eine bestimmte philosophische Strömung in unserer Kirche, die man etwas verkürzt mit Neuscholastik umschreibt, hat genau dies in Zweifel gezogen. Sie hat nämlich behauptet, die Kirche habe einen Ewigkeitscharakter und sie sei von Jesus Christus, als er unter uns weilte, genau so gegründet worden, wie sie heute noch ist. Das heißt, es wird eine Kontinuitätsfiktion aufgebaut, in der Lehre, in den Ämtern, in der Struktur. Das ist eine im 19. Jahrhundert entstandene Ideologisierung, die aber mit der eigentlichen Lehre der Kirche und auch mit den historischen Gegebenheiten nichts zu tun hat. Wenn Sie heute in ein Gespräch mit einem Reformskeptiker, darunter auch mancher Bischof, gehen, dann können sie regelmäßig folgenden Satz hören: Ich würde ja schon etwas verändern, aber es war halt immer schon so. Das ist nichts anderes als ahistorische Neuscholastik à la 19. Jahrhundert.

Manche Reformgegner meinen, die Kirche sollte sich statt auf ­Reformen lieber auf die religiöse Botschaft konzentrieren, im Sinne einer Neuevangelisierung…
Da wird versucht, Dinge gegeneinander auszuspielen, die man nicht gegen­einander ausspielen kann: der geistlich-spirituelle Prozess und die Veränderung von Strukturen. Dabei trifft Neuevangelisierung den Skopus der biblischen Botschaft im Grunde nicht. Denn hier ist von Metanoia die Rede, und das meint neben Umkehren vor allem auch Umdenken in intellektueller Hinsicht. Daher geht es nie nur um Reformen von Strukturen. Das ist ein Vorwurf, der Kirchenhistorikern wie mir immer wieder gemacht wird, dass wir nur auf äußere Strukturen schauen und das Eigentliche vernachlässigen würden. Das ist völliger Unsinn: Denn wenn der Blick auf Christus verstellt wird, dann müssen alle Strukturen, die diesen Blick verstellen, aus dem Weg geräumt werden. Wirkliche Neuevangelisierung ist ohne Kirchenreformen nicht zu haben und Strukturreformen nicht ohne Metanoia.

Wenn die Kirche nicht ständig und immer wieder neu bereit ist, durch Aktualisierung der Schrift durch Tradition, aber auch durch grundlegende Transformationsprozesse in der heutigen Zeit anzukommen, dann verfehlt sie ihre Aufgabe.

Was verstehen Sie als Kirchenhistoriker überhaupt unter Reform?
»Re-formare« heißt ursprünglich »zurück-formen«, also eine frühere Form wieder annehmen. Es wird heute aber oft so getan, als ginge es bei Reformen stets darum, das Rad neu zu erfinden, als bedeute Reform einen absoluten Bruch mit dem Hergebrachten. Nein, es geht bei Re-form zuerst um das Zurückformen. Es gibt zahlreiche alternative Modelle in der Kirchengeschichte zu angeblich ewigen Wahrheiten, die unterdrückt oder vergessen worden sind. Aufgabe der Kirchengeschichte ist es, diese wieder auszugraben.
»Ecclesia semper reformanda« – »Die Kirche muss immer wieder reformiert werden«: Das ist eine Kernaussage des Zweiten Vatikanischen Konzils. Einer seiner großen Vordenker, Julius Kardinal Döpfner, hat gesagt, Reform sei ein Strukturprinzip der katholischen Kirche. Wo Reform und ständige Reform­bereitschaft, da katholisch. Wo Reformverweigerung, da Fundamentalismus und nicht katholisch. Wenn die Kirche nicht ständig und immer wieder neu bereit ist, durch Aktualisierung der Schrift durch Tradition, aber auch durch grundlegende Transformationsprozesse in der heutigen Zeit anzukommen, dann verfehlt sie ihre Aufgabe. Auf dem Altar steht Christus, nicht die Kirche. Die Kirche ist allenfalls ein Hinweisschild, nicht das Ziel. Und wenn das Schild in die falsche Richtung weist, dann muss man es umdrehen.

Heißt das, der Reformgedanke ist schon in der christlichen Botschaft angelegt?
Der Grundgedanke des Christentums ist die Inkarnation. Der ewige Gott, jenseits von Raum und Zeit zu denken, lässt sich auf Raum und Zeit ein. Zu einem ganz bestimmten Moment tritt er in Jesus Christus, einem Menschen, in die Geschichte ein. Gott wird also geschichtlich, um es etwas ­verkürzt zu sagen. Wenn Gott sich schon auf ­Geschichte einlässt, dann findet nicht nur seine Offenbarung, sondern auch deren Wirkungs­geschichte in der Geschichte statt. Geschichte wird dadurch zu einem zentralen theologischen Erkenntnisort – und ohne den Entwicklungs­gedanken kann man Geschichte gar nicht denken. Transformations- und Inkulturationsprozesse gehören daher zur DNA des Christentums.

Zum Beispiel?
Wir gehen heute ganz selbstverständlich davon aus, dass nur Männer bischöfliche Funktionen ausüben. Wir haben aber 1000 Jahre lang Äbtissinnen gehabt, die als Frauen mit der gleichen rechtlichen Kompetenz wie ein Mann Diözesen leiteten – 1000 Jahre! »Re-form« heißt für mich, was 1000 Jahre in der Kirchengeschichte legitim war, das kann heute nicht grundsätzlich illegitim sein. Wir gehen heute ganz selbstverständlich davon aus, dass zum Klerus nur Männer gehören. Wir haben aber in der Westkirche über 800 Jahre, in der Ostkirche noch viel länger, ganz selbstverständlich geweihte Diakoninnen. Im Egbert-Codex werden Männer und Frauen sogar nach dem gleichen Formular geweiht. Warum man immer noch darüber diskutieren muss, ob man Frauen zu Diakoninnen weihen kann, weiß ich nicht. Wir haben ganz selbstverständlich in unserer Kirche verheiratete Priester, nämlich in den katholischen Ostkirchen. Warum tut man so, als ob es die nicht gäbe? Weil nicht sein kann, was nicht sein darf? Zölibatäre und verheiratete Priester gab und gibt es gleichzeitig und gleichberechtigt in der katholischen Kirche; ohne dass dadurch die Einheit der Kirche jemals in Gefahr geraten wäre. Das ist eben katholisch, das kommt von kat-holon, und meint: das Ganze umfassend.

Das bestehende katholische Frauenbild muss grundsätzlich transformiert werden.

Wenn die Kirche gegen Veränderungen ist, dann leugnet sie also ihre eigene Tradition?
Es gibt und gab nie einen Einheitskatholizismus. Ich würde daher sehr dafür plädieren, dass wir die Chancen unserer katholischen Traditionen nutzen. Darum lege ich auch großen Wert auf ­einen differenzierten »Re-form«-Begriff, für den es im Grunde zwei Definitionen gibt. Wenn Sie ein Modell, wie bei den Äbtissinnen als Bischöfinnen, historisch schon hatten, dann ist es relativ einfach. Da kann man sagen »Re-form« ist einfach die Rückformung zu einem in der Tradition bewährten Modell. In den Fällen, in denen es ein solches historisches Vorbild nicht gibt, wird es komplizierter. Dann bedeutet Reform, neue Konzepte zu entwickeln und gegebenenfalls auch grundlegende Transformation vorzunehmen. So gehen etwa die Diakone nicht auf Jesus zurück, sondern dieses Amt wurde von den Aposteln neu geschaffen, wie die Apostelgeschichte berichtet. Oder: Jesus hat zahlreiche Frauen um sich versammelt. Eine Frau, Maria von Magdala, war sogar die Urzeugin seiner Auferstehung: die Apostola apostolorum. Dass es aber bei der rechtlichen Konstitution des Zwölferkreises dennoch nur Männer waren, lässt sich aus dem damaligen soziokulturellen Kontext verstehen. Rechtssubjekte waren eben nur Männer. Nachdem sich Gott sei Dank die Situation von Frauen heute völlig verändert hat, muss diese zeitlich bedingte Festlegung meiner Meinung nach zur Disposition gestellt und das bestehende katholische Frauenbild grundsätzlich transformiert werden. Das wäre für mich die zweite Möglichkeit der Reform – indem ich tatsächlich eine neue Form finde, die alle Umstände im Sinne der Inkulturation wirklich berücksichtigt. Es geht immer um das Gleiche: Wie kann die Botschaft Jesu von der Zuwendung Gottes zu uns Menschen heute glaubwürdig verkündet werden? Reform heißt dann: Alles, was dem im Wege steht, beseitigen.

Über das Diakonat von Frauen haben wir schon gesprochen, das gehört ja zur kirchlichen Tradition. Bei der Weihe von Priestern wäre es aber komplizierter…
Das ist ein gutes Beispiel für die praktische Anwendung meines zweistufigen Reformmodells. Beim ersten Modell der reformatio, also der Zurückformung zu Formen, die wir schon gehabt haben, können Sie als Historiker relativ leicht argumentieren: Das haben wir gehabt – sagt also nicht, das hat es nie gegeben. Deshalb finde ich die Diskussion witzlos, ob es Diakoninnen geben kann oder nicht. Sie sind durch unsere Tradition gedeckt. Wir finden aber keine Frauen als Priesterinnen in der Tradition, das muss man ehrlich zugeben. Insofern lässt sich die erste Stufe der »Re-form« hier nicht anwenden. Hier wäre das zweite Verständnis von Reform im Sinne einer Transformation gefragt. So wie die Apostel das Amt der Diakone neu geschaffen haben, könnte die Kirche ein weibliches Priestertum ermöglichen. Aber hier verlasse ich mein historisches Feld. Hier müssten grundsätzlichere interdisziplinäre theologische Diskussionen geführt werden.

Was meinen Sie damit?
Die Kirche ist nicht zuletzt durch die Missbrauchsgeschichte in eine tiefe Krise geraten. Wer Glauben verkünden will, braucht vor allem Glaubwürdigkeit. Ohne Glaubwürdigkeit funktioniert Glaubensverkündigung und Glaubensbezeugung nicht. Es geht also um Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Und die spricht fast jeder im Moment der katholischen Kirche ab. Deswegen kommen die Standesämter in manchen Bezirken gar nicht nach, die Austritte nachzuhalten. Wir haben inzwischen Austritte von Leuten, die 20 Jahre lang Vorsitzende von Kirchengemeinderäten waren. Das ist die jetzige Situation. Es geht um »sein oder nicht sein«. Deshalb müssen wir in Bezug auf die Reichweite von Transformationsprozessen die Grundfrage stellen, welche Lehren der Kirche geändert werden können und welche nicht. Pius XII., der gewiss nicht als Linker gilt, hat 1947 in der Apostolischen Konstitution »Sacramentum ordinis«, in der es um die Gültigkeit und das äußere Zeichen des Weihesakramentes geht, einen ungeheuren Satz geschrieben: »Es wissen alle, dass die Kirche Bestimmungen, die sie getroffen hat, auch abändern oder aufheben kann.« Galt seit dem feierlichen Beschluss des Konzils von Florenz von 1439 die Übergabe von Kelch und Patene an den Weihekandidaten als äußeres Zeichen der Priesterweihe, hat Pius XII. dies schlicht durch die Handauflegung des Bischofs ersetzt. Pius XII. hat also kurzerhand eine mehr als 500 Jahre lang gültige Lehre abgeändert. Nun wird diskutiert, ob er dabei nicht eine Wahrheit des katholischen Glaubens, also ein Dogma, geändert hat. Wenn dem so wäre, dann könnte man auch bestimmte Festlegungen im Hinblick auf die Unmöglichkeit der Priesterweihe für Frauen neu diskutieren. Das Potenzial der Kirchengeschichte ist immens.

Hierarchische und autokratische Machtsysteme – egal ob weltlich oder geistlich verfasst – wollen stets den Status quo der eigenen Macht erhalten und lehnen daher Reformen generell ab.

Was ist der tiefere Grund für diesen Widerstand gegen Reformen? Ist das nicht auch die Angst, auf eine schiefe Ebene zu geraten: Wenn wir eine Reform zulassen, dann verlieren wir die Kontrolle – und das ganze System bricht auseinander?
Aus meiner Sicht hat das sehr viel mit Macht­erhalt in einem Männerbund zu tun. Man muss nur entsprechende autobiografische Zeugnisse von zölibatären Priestern lesen. Wenn ein Mensch ohne Familie lebt, beliebig versetzbar ist, in einem kleinen Zimmerchen unter der Oberaufsicht eines Pfarrers vegetiert – da haben Sie natürlich eine totale soziale Kontrolle über diesen Menschen. Wenn der Priester aber Familie und Kinder hätte, dann wäre die Situation eine ganz andere und die totale Sozialkontrolle wäre unmöglich. Das andere ist, hierarchische und autokratische Machtsysteme – egal ob weltlich oder geistlich verfasst – wollen stets den Status quo der eigenen Macht erhalten und lehnen daher Reformen generell ab.

Die Fundamentalisten sind also in Wahrheit die Gegner der Tradition?
Ich würde das durchaus so sehen. Die Dynamik und Geschichtlichkeit der Kirche ist doch eine einmalige Chance. Natürlich geht es darum, die Botschaft Jesu je und je zu aktualisieren. Aber der Weg zu Jesus und seiner Botschaft führt über 2000 Jahre Kirchengeschichte. Wie sollte das auch anders gehen? Deswegen bin ich so froh, dass wir die Tradition als zweite Erkenntnisquelle haben. Und der lebendige Traditionsstrom lässt sich nicht still stellen oder mit ­immer höheren Betonmauern kanalisieren. Die Kirche bewegt sich doch ­wegen ihrer Tradition. Einige Beispiele: Bis vor wenigen Jahren hatten wir im Katechismus die Lehre vom gerechten Krieg stehen. Jetzt hat Papst Franziskus diese gestrichen. Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil hat die Kirche Religionsfreiheit als »pestilentissimus error« verurteilt, als »pesthaftesten Irrtum«. In der Erklärung über die Religionsfreiheit (»Dignitatis humanae«) des Konzils heißt es dagegen, die Kirche müsse die Religionsfreiheit für den Einzelnen, aber auch für Gruppen mit allem Nachdruck
verteidigen, denn das sei der Wille Gottes. Sehen Sie da Kontinuität oder Entwicklung? Ich sehe ganz klar eine Entwicklung, vielleicht sogar einen Bruch mit der bisherigen Lehre. Bis zum Zweiten Vatikanum haben wir in der Karfreitagsfürbitte für die »perfiden Juden« gebetet, »dass Gott der Herr den Schleier der Verblendung von ihren Herzen wegreiße«. Jetzt beten wir: »Lasst uns beten für das auserwählte Volk der Juden, zu dem Gott unser Herr zuerst gesprochen hat, damit sie das Ziel erreichen, zu dem sein
Ratschluss sie führen will.« Das ist ein ganz anderes Bild. Diese Dynamik, diese Veränderung gibt es also schon ganz selbstverständlich in unserer Kirche. Es soll niemand so tun, als ob es sie nicht gäbe.

Zeigt nicht auch die Anerkennung der Naturwissenschaften diese Dynamik, etwa in der Frage des Klimawandels?
Ja und nein. Was die Natur- und Sozialwissenschaften grundsätzlich betrifft, würde ich ein Fragezeichen setzen. Tatsächlich vollzog Franziskus in seiner Umweltenzyklika überraschend einen Bruch mit der bisherigen Lehrtradition der Päpste, die etwa so argumentierten: Wir haben in der Heiligen Schrift die Offenbarung Gottes, die Offenbarung ist die Wahrheit, und aus der Schrift, die wir als Stellvertreter Jesu Christi auf Erden allein authentisch interpretieren können, leiten wir ab, was die für alle Menschen, gleich welchen Glaubens, verbindlichen ethischen Normen sind. Bei seiner Umwelt­enzyklika drehte Papst Franziskus die Argumentationsrichtung um und ­argumentierte im Grunde genommen im Sinne einer »autonomen Moral im christlichen Kontext« (Alfons Auer). Er sagt nämlich: Über die Klimakatas­trophe steht in der Bibel nichts, und aus der Offenbarung wissen wir darüber auch nichts. Wenn ich aber naturwissenschaftliche Erkenntnisse ernst nehme, dann scheint es Konsens zu sein, dass der Klimawandel menschengemacht ist. Wenn das der Fall ist, können wir, indem wir unser Verhalten ändern, dazu beitragen, den Klimawandel zu bremsen. So weit übernimmt Franziskus die Argumentation der Naturwissenschaften. Für uns Christen kommt aber – so der Papst – ein zusätzlicher Sinnhorizont hinzu, der zwar inhaltlich oder materialethisch nichts Neues bringt, aber aus dem Glauben heraus eine ganz neue zusätzliche Motivation verleiht, denn uns ist die Schöpfung Gottes anvertraut. Weil Franziskus seine ganze Argumentation im Grunde genommen auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen aufbaut, haben ihn seine rechten katholischen Kritiker auch so angegriffen. Aber, denken wir einen Schritt weiter, beim Thema Homosexualität hat er das jetzt genau nicht gemacht…

Ich bin dem Reformer Franziskus gegenüber wirklich skeptisch.

Inwiefern?
In der Konsequenz seines Ansatzes bei der Umweltenzyklika hätte der Papst sagen müssen: Lasst uns erst mal anschauen, was Biologie, Medizin, Sozialwissenschaft oder Anthropologie zum Thema Homosexualität sagen. Dann hätte er einen großen Konsens darüber festgestellt, dass nach wissenschaft­lichen Erkenntnissen Homosexualität eine gegebene sexuelle Orientierung von Menschen ist, die nichts mit sündigem Verhalten zu tun hat. So wenig, wie ein Mensch etwas für seine heterosexuelle Orientierung kann. Wenn Franziskus das getan hätte, dann hätte das ominöse Responsum der Glaubenskongregation ganz anders ausfallen müssen, dann wäre der Papst allen Menschen wirklich gerecht geworden, anstatt wissenschaftlich nicht gedeckte moralische Verdikte zu unterschreiben.

Ist der Papst für Sie ein Mann des Wandels?
Ich bin Historiker und kein Prophet. Ob er in 100 Jahren als Reformer gelten wird, entzieht sich meinen Methoden. Die ungeheure Hoffnung jedenfalls, die am Anfang bei vielen mit dem Namen Franziskus und seinem Pontifikat verbunden war, ist rasch verflogen. Die große Kurienreform, auf die alle warten, wird kaum mehr als ein Reförmchen werden. Und der Papst redet von Subsidiarität – also dass die Probleme dort gelöst werden sollen, wo sie entstehen, in den Ortskirchen und nicht zentral in Rom –, lässt diese aber praktisch nicht zu. Nehmen wir das Beispiel der Amazonas-Synode, bei der ich an einem der Vorbereitungstreffen teilgenommen habe, um für die brasilianischen Bischöfe das Thema Zölibat und verheiratete Priester historisch einzuordnen. Sie haben sich in ihrer großen Mehrheit überzeugen lassen, dass es keinen Bruch mit der Tradition darstellt, wenn man neben zölibatär lebenden Priestern auch verheiratete Priester zulässt. Die Seelsorge dort – Diözesen mit 800 Pfarreien und drei Priestern – kann nicht funktionieren. Mit einer Mehrheit von über zwei Dritteln haben sie für die Zulassung verheirateter Priester auf der vom Papst einberufenen Synode gestimmt. Und was macht der Papst? Er nimmt dieses klare Votum in seinem rechtlich verbindlichen Schlussdokument nicht auf. Das lässt mich dem Reformer Franziskus gegenüber wirklich skeptisch werden.

Was wären denn Elemente der lebendigen Tradition, von der Sie gesprochen haben, auf die die Kirche heute zugreifen sollte?
Wie viele Stunden haben Sie Zeit?

So reich ist die Tradition?
Genau das ist der Punkt. Über zahlreiche alternative Modelle aus der Kirchengeschichte haben wir schon gesprochen. In meinem Buch »Krypta« habe ich zahlreiche vergessene und unterdrückte Traditionen wieder ausgegraben. Ich will all die Beispiele hier nicht wiederholen. Wichtig ist: Es gab und gibt in der Kirchengeschichte keinen Einheitskatholizismus! Nur wer Katholizismen im Plural im Katholizismus zulässt, ist historisch gesehen wirklich katholisch. Wir haben halt vier Evangelien und nicht nur eines, und sie widersprechen sich auch noch. Trotzdem hat die Kirche sie in den Kanon, die verbindliche Liste der Heiligen Bücher, aufgenommen. Das ist katholisch. Deshalb: den ganzen Tisch der Tradition in seiner Fülle decken.

Als gläubigem Menschen und Theologen geht es mir um die befreiende Botschaft, die Zuwendung Gottes zu uns Menschen. Alle Strukturen, die das verhindern, müssen reformiert werden.

Gibt es Bestandteile in der heutigen Glaubenspraxis, von denen Sie sagen würden: Das ist mir so wichtig, das muss bleiben?
Ohne Frage ist das für mich das Glaubensbekenntnis. Da haben Sie die ­unverzichtbaren Bestandteile für das, was katholischen Glauben ausmacht. Nehmen Sie zum Beispiel den Artikel »Schöpfer des Himmels und der Erde«. Ich glaube, dass es einen tragenden Grund aller Wirklichkeit gibt. Ob Sie das jetzt mit dem Urknall erklären oder in welchem naturwissenschaftlichen Sprachspiel Sie das beschreiben, ist mir am Ende egal. Aber in der religiösen Sprache würde ich sagen, der tragende Grund aller Wirklichkeit ist Gott. Darüber gibt es für mich keine Verhandlung. Wenn Sie am Glaubensbekenntnis entlanggehen, dann finden sie weitere wesentliche Elemente meines Glaubens. Vor allem: Gott hat in dem Menschen Jesus von Nazareth zu uns gesprochen. Offenbarung heißt dann nicht, Gott hat Sätze verkündet, die ich glauben muss, aber nicht kontrollieren kann, sondern Gott hat in dem Menschen Jesus von Nazareth ein menschliches Gesicht bekommen – es geht um ein Begegnungsgeschehen. Als gläubigem Menschen und Theologen geht es mir um die befreiende Botschaft, die Zuwendung Gottes zu uns Menschen. Alle Strukturen, die das verhindern, müssen reformiert werden. Wir müssen uns wieder zu Gott umdrehen. Wenn ich wahrnehme, dass Frauen nur aufgrund ihres Frauseins in ­dieser Kirche keinen angemessenen Platz haben und deshalb nicht den Blick auf Christus richten können, dann müssen wir alles tun, damit dies möglich wird. Wir machen ja keine Reformen um der Reform willen. Unsere Tradition bietet dafür ungeheures Potenzial und mitunter auch subversive Kraft. Deswegen bin ich ein Traditionalist aus Überzeugung.

NEU: HOHE LUFT 6/21

Dieses Interview erschien in HOHE LUFT 6/2021 (aktuell am Kiosk).

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