Daniel-Pascal Zorn schreibt in seiner Kolumne »Na logisch!« über Rhetorik, Logik und Argumentationstheorie. Heute: Wer schweigt, stimmt zu – Das Argument ex silentio
In aktuellen politischen Debatten ist immer wieder die Rede von einer „schweigenden Mehrheit“. Diese Mehrheit scheint stets, ohne Klage oder Widerspruch, dieselbe Meinung zu vertreten wie derjenige, der sich auf sie beruft. Auch auf die Frage, warum die Mehrheit schweigt, gibt es eine Antwort. Sie schweigt, weil sie sich nicht traut, ihre eigentliche Meinung zu sagen.
Der Widerspruch in dieser Annahme ist offensichtlich. Wenn die Mehrheit schweigt – woher will man dann wissen, dass sie diese oder jene Meinung vertritt? Doch das verfehlt den eigentlichen Trick hinter der „schweigenden Mehrheit“. Denn wer war nicht schon einmal eingeschüchtert, weil jemand anderes etwas besser wusste oder seine Meinung besonders forsch vertreten hat? Viele Menschen missverstehen auch Kritik und Widerspruch als Verbot, die eigene Meinung zu sagen. Für sie ist es also durchaus einsichtig, dass sie zur „schweigenden Mehrheit“ gehören.
Ganz ähnlich gebaut ist das Argument „Wer schweigt, stimmt zu“. Es geht davon aus, dass derjenige, der nicht offen widerspricht oder Kritik äußert, einer Behauptung stillschweigend zustimmt. Dass es auch abwägende Haltungen gibt oder Enthaltungen von einer Meinung, gerät dabei aus dem Blick. Wer annimmt, dass zustimmt, wer schweigt, der kennt nur Zustimmung oder Ablehnung. Die Schlussfolgerung daraus lautet: Wer nicht ablehnt, der hat zugestimmt.
Solche Argumente werden Argumente ex silentio, lat. für ‚aus (dem) Schweigen‘, genannt. Sie funktionieren alle nach demselben Prinzip: Die faktische Abwesenheit einer Meinung überhaupt, dass also jemand gar keine Meinung geäußert hat, wird verstanden als die stillschweigende Anwesenheit der eigenen Meinung. Das Argument ex silentio funktioniert also wie ein negatives Argument ad populum. Anstatt sich auf die geäußerte Meinung der Vielen zu berufen, beruft sich das Argument ex silentio auf das Schweigen der Vielen. Die Abwesenheit ihrer Meinung wird zur Projektionsfläche der eigenen Meinung gemacht.
Nur weil jemand keine Meinung äußert, bedeutet das ja nicht, dass er keine Meinung hat.
Das liegt daran, dass wir es gewohnt sind, auf andere Menschen Absichten und Haltungen zu projizieren. Nur weil jemand keine Meinung äußert, bedeutet das ja nicht, dass er keine Meinung hat. Jeder von uns kann sich insgeheim eine Meinung bilden, die man ja nicht aussprechen muss. Doch damit eine Meinung Geltung, also Zustimmung von anderen erfahren kann, muss sie ausgesprochen werden. Denn wie sollten alle anderen zustimmen, wenn sie diese Meinung nicht einmal kennen? Das Argument ex silentio ist also im Kern ein dogmatischer Fehlschluss, der davon ausgeht, dass das Eigene von vornherein das Richtige ist.
Unsere Projektion auf andere Menschen wird dann irritiert, wenn diese Menschen widersprechen. Deswegen ist das Argument ex silentio eine schwächere Form des dogmatischen Fehlschlusses. Anders als er geht es nicht schon davon aus, dass man in jedem Fall recht hat. Der andere könnte immer noch widersprechen. Solange er es aber nicht tut, gilt, so die Vorstellung, auch für ihn die eigene Sichtweise. Deswegen eignet sich das Argument auch so gut für politische oder populistische Argumentationen.
Es spielt mit unserer Gewohnheit, auf Menschen bestimmte Einstellungen zu projizieren. Und es funktioniert wie eine Herausforderung, die viele abschreckt. Denn wer traut sich schon, einer Sichtweise zu widersprechen, der offensichtlich die meisten anderen folgen? Aus Angst, gegen eine angebliche Mehrheit aufzubegehren, wird man zum stillschweigenden oder aber zum lautstarken Mitläufer. Letztere unterscheiden sich von ersteren durch ihre Selbst-Heroisierung. Sie sonnen sich in der Vorstellung, gegen eine vermeintliche Unterdrückung aufgestanden zu sein. Die wachsende Lautstärke derjenigen, die sich selbst zur ehemaligen „schweigenden Mehrheit“ zählen, bringt diejenigen, die sich den Widerspruch dagegen nicht trauen, zum Schweigen. So verstärkt sich das Argument ex silentio selbst. Der Druck der Vielen, der eine „Schweigespirale“ auslöst, er funktioniert in beide Richtungen.
Wir deuten Schweigen als Verfehlung
Die Abwesenheit von Meinung als Projektionsfläche kann auch andere Formen des Arguments ex silentio erklären. Wendet man es nicht auf die Vielen, sondern auf einen Einzelnen an, kann man es auch gegen ihn verwenden. Ein typisches Beispiel ist der Umgang mit Texten. Wir lesen einen Text und haben eine bestimmte Vorstellung von dem Thema, das er behandelt. Natürlich folgt nicht jeder Text dieser Vorstellung, nur weil wir sie haben. Das erscheint uns oft so, als würde der Text über ganz wichtige Dinge schweigen. Dieses Schweigen deuten wir als Verfehlung. Entweder, so nehmen wir an, hätte der Text unsere Vorstellung treffen müssen. Dann werfen wir ihm mangelnde Vollständigkeit vor. Oder aber das Schweigen deutet darauf hin, dass der Autor inkompetent ist.
Vom Nichtsagen wird so auf das Nichtkennen geschlossen. Dabei vergessen wir, dass wir dem Text keinesfalls beliebige Vorgaben zu diktieren haben. Sein Schweigen kann auch bedeuten, dass er über etwas anderes spricht als wir voraussetzen. Kein Text kann alles sagen.
Ein anderes Beispiel für das Argument ex silentio ist das Argument, man habe es doch „ganz anders gemeint“. Als Vorwurf formuliert, wird so die eigene Absicht zum eigentlichen Kriterium für eine Behauptung gemacht. Man verlangt von seinem Gegenüber, von vornherein die richtige Annahme über die eigene Absicht gemacht zu haben. Doch wer diese Absicht nicht äußert, der kann sie natürlich stillschweigend beliebig verändern. So behält derjenige, der ständig auf eine andere Absicht hinweist, stets Recht. Diese Trickrhetorik nennt man seit der Antike das ‚Velatus-Sophisma‘. ‚Velatus‘ bedeutet ‚der Verhüllte‘ – und genau das macht man auch. Man verhüllt eine Voraussetzung und verlangt vom Gegenüber die eigenen Gedanken zu lesen. Das eigene Schweigen wird so zum Joker-Argument.
‚Nudging“ beruht auf stillschweigenden Annahmen
Das Argument ex silentio ist so in verschiedenen Formen weitverbreitet. Auch das sogenannte ‚Nudging‘, dt. für ‚Schubsen‘, basiert oft auf stillschweigenden Annahmen. Das kann ganz harmlose Formen annehmen, z. B. eine Fliege oder ein kleines Tor mit Ball in einem Pissoir. Das Verhalten wird zugunsten der Putzfrau gesteuert, ohne bleibende Schäden zu hinterlassen. Allerdings können die Voraussetzungen auch anders aussehen. So wurden seitens der Regierung verschiedentlich Überlegungen angestellt, das ‚Nudging‘ auch in anderen Bereichen einzusetzen.
Ein extremer Fall ist die Organspende. Um die Anzahl der potenziellen Organspender zu erhöhen, werden einfach alle von vornherein zu Organspendern gemacht. Nur wer explizit und innerhalb einer Frist widerspricht, wird davon freigestellt. Das zeigt, wie das oft sehr harmlos erscheinende Argument ex silentio ganz konkret bürgerliche Freiheiten einschränken kann. Das ist eben das Gefährliche an einer Abwesenheit von Meinung. Ihre Projektionsfläche kann Spiegel für jede denkbare Voraussetzung werden. Auch deswegen ist es wichtig, dass wir widersprechen, wenn jemand sich anmaßt, an unserer Stelle zu sprechen. Unser Widerspruch muss gar keinen konkreten Inhalt betreffen. Wir müssen ihm nur das Recht verweigern, uns zu Projektionsflächen der eigenen Meinung zu machen.
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