Verlässt Großbritannien die Europäische Union? Allein der Umstand, dass diese Frage jetzt noch diskutiert wird, zeigt, dass etwas Grundsätzliches faul ist im Staate Großbritannien nach dem Referendum des letzten Donnerstags. Austreten oder nicht, das ist eine souveräne Entscheidung Britanniens, und der Volkssouverän hat gesprochen. Was also gibt es noch zu deuteln?
Bei näherem Hinsehen allerdings ist die Sache etwas komplizierter. Lassen wir das Drama noch einmal Revue passieren. Am Donnerstagabend sah es nach einer klaren Angelegenheit aus. Die Quoten der Demoskopen und der Buchmacher sprachen für ein »Remain«-Votum. Selbst Nigel Farage, Vorfigur des Pro-Brexit-Lagers, äußerte die Erwartung, dass seine Gegner das Referendum gewinnen würden. Was denkt in dieser Situation ein Wähler, der die EU nicht mag, aber trotzdem drinbleiben möchte? Genau: »Wir bleiben eh drin, da kann ich ebensogut meinen Protest ausdrücken.« Kreuzchen vor »Leave«, und fertig ist die Proteststimme.
Was genau ist das, eine Proteststimme? Eine Stimme, die gegen etwas sprechen soll, nicht für etwas. Diese semantische Dimension der Proteststimme sprengt die offensichtlichen Mechanismen der Abstimmung. Nicht das, was der Stimmberechtigte ankreuzt, ist gemeint, sondern was Anderes. Man kreuzt zum Beispiel eine Protestpartei an, um seinen Unmut gegen die etablierten Parteien zu bekunden – aber ohne zu wollen, dass diese Protestpartei die Regierung übernimmt. Oder eben die EU doof finden, aber trotzdem drinbleiben.
Gut möglich, dass das Brexit-Votum ein Unfall war. Dumm gelaufen, war anders gemeint. Oder dass es aufgrund irreführender Informationen aus einem völlig überhitzten Wahlkampf heraus zustande kam. Dann hätten die Briten halt gründlicher nachdenken sollen, bevor sie ihre Stimmen abgeben, sagt jetzt zum Beispiel Wolfgang Schäuble.
Aber die Sache ist noch komplizierter: Auch wenn die Briten doch gründlich nachgedacht haben, bevor sie mehrheitlich für den Brexit gestimmt haben, ist nicht klar, ob dieser damit wirklich beschlossen ist. Um diese Behauptung zu begründen, betrachte man ein anderes Szenario: Angenommen, die Briten hätten eine politische Kraft an die Regierung gewählt, die den Brexit als Wahlversprechen hatte. Die Regierung setzt den Brexit durch. Sie ist für diese Entscheidung verantwortlich. Sie muss sich dafür rechtfertigen, und für die Folgen.
Wer aber ist jetzt – sofern der Brexit wirklich kommt – dafür verantwortlich? Wer muss sich dafür rechtfertigen? Niemand. »Das Volk« kann sich nicht rechtfertigen. »Die Pro-Brexit-Wähler« auch nicht.
Das zeigt einen wesentlichen Unterschied zwischen plebiszitärer Demokratie und repräsentativer Demokratie. Erstere mag »direkter« erscheinen. Es geschehe, was das Volk sagt. Tatsächlich aber gehen in ihr die Verantwortlichkeiten verloren. Eine Wahl in einer repräsentativen Demokratie weist klar Verantwortung zu.
Schon jetzt sieht man, dass die Brexit-Verfechter Farage & Co. sich ducken. Sie wollen nicht die Verantwortung für den Brexit übernehmen. Auch Premierminister Cameron nicht, er hat seinen Rücktritt angekündigt. Und auch sonst niemand. Warum auch? »Die Briten« haben gesprochen, aber sie können in keinem interessanten Sinn von Verantwortung für den Brexit verantwortlich gemacht werden. Sie müssen keine Rechtfertigung, keine Gründe geben.
Auf solche Weise sollte keine Entscheidung historischen Ausmaßes getroffen werden – noch dazu eine irreversible Entscheidung wie der Brexit. Womöglich verlässt Großbritannien die EU, und keiner war es. Was wir derzeit beobachten, ist ein Lehrstück in Demokratie, denn es zeigt, was die repräsentative Demokratie leistet, die plebiszitäre hingegen verfehlt: die Zuweisung von Verantwortung für Entscheidungen. Das ist es, worum es in einer Demokratie geht.
– Tobias Hürter