Verantwortung für Flüchtlinge. Die moralische Macht der Bilder über das Bewusstsein
Wie ist eine Ethik der Hilfsbereitschaft denkbar? Der französisch-litauische Philosoph Emmanuel Lévinas sah in der Erfahrung des anderen Gesichts eine Grundlage für ethisches Handeln. Hans-Martin Schönherr-Mann, Professor für politische Philosophie an der LMU in München, darüber, wie uns diese Ethik angesichts der Flüchtlingsdramas an unsere Verantwortung erinnert.
Warum muss man Flüchtlingen helfen? Worauf kann man sich in aufklärerischer Tradition stützen? Die rationalistische Ethik eines Kant bleibt gegenüber dem Mitleiden eher neutral. Das ist nicht gerade sein Problem, jedenfalls nicht das Gefühl der Betroffenheit, das heute manche, wenn auch nicht alle, zum Helfen motiviert. Aber alle müssen ja auch nicht helfen. Kant indes geht es um alle, um die Moralisierung der ganzen Gesellschaft, damit jedoch primär um jene, die dazu gehören, nicht um jene, die gerade nicht dazu gehören. Sein Weltbürgerrecht kennt nur ein Gast- und Besuchs-, kein Bleiberecht.
Europa steht insbesondere mit den syrischen Flüchtlingen vor einem neuen Phänomen, das nur die Jugoslawien-Kriege der neunziger Jahre schon mal anklingen ließen. Die Welt ist seither doch erheblich kleiner geworden. Die Türkei gehört nicht zur EU, grenzt aber an sie und auf der anderen Seite an Syrien und den Irak. Die Flüchtlinge harren angesichts der dortigen dramatischen Situation, die unabsehbar scheint, nicht mehr in den Flüchtlingslagern in der Türkei oder im Libanon aus, sondern begeben sich in das nahe Europa.
Auch wenn reflexartig in den Medien immer wieder davon geredet wird, sie kämen hierher, um sich ein besseres Leben aufzubauen, wenn also dabei immer noch der Vorwurf des Wirtschaftsasylanten nachhallt, kommen sie doch nicht aus wirtschaftlicher Not, sondern aus existentieller. Es geht ihnen ums nackte Überleben, nicht ums gute Leben. Letzteres ist ja bei Flüchtlingen irgendwie verpönt, obgleich oder gerade weil die meisten Menschen nicht nur in Deutschland genau danach streben und wenig geneigt sind, dabei zu teilen. Aber weil viele die Sorge ums gute Leben umtreibt, hören sie auf jene, die die Not in Luxusbedürfnis umschreiben, selbst wenn die Flüchtlinge wirklich in Not sind und wahrscheinlich zu einem großen Teil in ihre Heimat zurückkehren, sollte dort ein Leben wieder möglich werden. Umgekehrt weil es bei Flüchtlingen ums Überleben geht, wächst trotzdem die Hilfsbereitschaft auch in Deutschland.
Angesichts einer solchen Situation ist es nicht sehr erbaulich für die Aufklärungstradition, dass ihr eine Ethik der Not, eine Ethik der Hilfsbereitschaft eher mangelt. Doch es gibt sie, selbst wenn sie ihrerseits der jüdischen Tradition entspringt, so dass es auch nicht verwundert, dass sie aus der europäischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts heraus entwickelt wurde, nämlich vom französischen Philosophen baltischer Herkunft Emmanuel Lévinas (1906-1995), lange Jahre Professor für Philosophie an der Universität Paris-Nanterre. Wie seine Frau überlebte er den Holocaust – und zwar in einem Kriegsgefangenenlager für jüdische Soldaten, die die Nazis nicht zu ermorden wagten –, doch musste er nach dem Krieg erfahren, dass alle anderen Familienmitglieder ermordet worden waren. Er betrat daraufhin nie mehr deutschen Boden.
Von vielen aus dem rationalistischen Lager wird Lévinas sicher nicht zu Unrecht als religiös begriffen. Aber seine Ethik lässt sich auch säkular verstehen. Dann gewinnt die aufklärerische Philosophie eine Perspektive hinzu, die angesichts des Flüchtlingsdramas ob im Mittelmeer, an den Landgrenzen der EU oder mitten in ihren Ländern, dringend geboten ist.
Wann trägt ein Land Verantwortung für fremde Menschen? Wenn man darum weiß! Wenn man etwas tun kann – Staaten helfen auch bei anderen Katastrophen! Und besonders wenn ein Land die medialen Bilder erreichen! Wenn man überall die Not zu sehen bekommt – das ertrunkene dreijährige syrische Kind! – Auch wenn man dieses Bild eigentlich besser nicht veröffentlicht hätte. Aber Bilder haben eine große Macht, die Menschen zu bewegen, gerade an ihre Verantwortung zu appellieren – man denke an die Spendenbereitschaft, die durch die Fernsehbilder von Naturkatastrophen regelmäßig verstärkt wird. Das nackte Gesicht als Ausdruck des Elends, der Hilflosigkeit, des Entsetzens.
Nach Emmanuel Lévinas ruft mich das Antlitz des anderen Menschen in die Verantwortung, dessen Visibilität und nicht der andere Mensch als solcher. Denn das Antlitz ist nackt und erscheint hilflos, es impliziert als solches für Lévinas die Aufforderung, nicht zu töten: Das Lächeln, das Freundlichkeit signalisieren soll und empfangen möchte. Nach Lévinas bewegt mich das Gesicht als solches, sein Ausdruck, das was es sagt, nicht seine Details, die sich vielmehr zu einem des Antlitz zusammenfügen. Er sagte 1981 in einem Radiogespräch, das unter dem Titel Ethik und Unendliches als Buch vorliegt und eine gute Einführung in seine Philosophie bietet: „Ich denke vielmehr, dass der Zugang zum Antlitz von vornherein ethischer Art ist. Wenn Sie eine Nase, Augen, eine Stirn, ein Kinn sehen und sie beschreiben können, dann wenden Sie sich dem Anderen wie einem Objekt zu. Die beste Art, dem Anderen zu begegnen, liegt darin, nicht einmal seine Augenfarbe zu bemerken. Wenn man auf die Augenfarbe achtet, ist man nicht in einer sozialen Beziehung zum Anderen.“ In der Begegnung gründet nach Lévinas die ethische Beziehung, nicht in ethischen Normen oder Werten.
Diese äußerliche und ob der Nacktheit sichtbare Hilflosigkeit, die ein Gesicht ausdrückt, fordert mich auf zu helfen, nicht nur wenn es um das Antlitz geht, sondern wenn jemand hilflos auf der Straße liegt oder wenn ich die medialen Bilder des Fernsehens sehe. So sehen sich viele, auch Politiker angesichts der Bilder von erniedrigten und gequälten Menschen, plötzlich genötigt, diesen Menschen zu helfen, auch wenn es nicht unbedingt in ihr politisches Kalkül passt. Dass sie daraus womöglich im Nachhinein ein Kalkül fertigen werden, ändert nichts am Effekt dieses Handeln selbst – also weil sich Merkel vielleicht hilfsbereit zeigte, um als human zu erscheinen. Sie könnte auch in einer ähnlichen Situation anders handeln, eventuell sogar anders handeln müssen, also wenn daraufhin die Balkanstaaten zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden. Aus der Verantwortung ergibt sich kein Automatismus, sondern man muss immer wieder erneut entscheiden, Verantwortung zu übernehmen und die erfolgversprechenden Mittel einsetzen.
Für Lévinas entspringt die ethische Beziehung der unmittelbaren, konkreten Begegnung mit dem anderen Menschen. Wenn eine Regierungschefin entsprechend humanitär eingreift verdankt sich das zwangsläufig einer anderen abstrakten Überlegung, nicht weil sie diesen Flüchtlingen ins Gesicht gesehen hätte. Doch das hat sie vielleicht bei einer anderen Gelegenheit getan, eilen gerade Regierungschefs häufig zum Ort von Katastrophen. Hier können Erlebnisse nachwirken und auf diese Weise Entscheidungen erleichtern: Bilder, die auch eine Regierungschefin nicht mehr vergisst und die dann verantwortliches Handeln erleichtern. Laut Lévinas sieht man sich durch die konkrete Begegnung dazu aufgerufen, Verantwortung zu übernehmen, d.h. konkret den Verfolgten zu helfen und beispielsweise den Verfolger aufzuhalten – wie Oskar Schindler, der sich kurz vor der Befreiung vor seine jüdischen Arbeiter stellte, die von den SS-Wachmannschaften ermordet werden sollten. Ähnlich wird in Kreisen westlicher Regierungsvertreter ja auch darüber nachgedacht, militärisch gegen den IS vorzugehen.
Die Verantwortung von Regierenden ist sicherlich vielfältig, aber sie besteht auch gegenüber den Verfolgten aus fernen und fremden Ländern – auch dann wenn nationale Interessen nicht tangiert werden, selbst wenn es unter solchen Umständen höchstens selten zu einem Eingreifen kommt. Der Andere ruft mich nach Lévinas nicht deshalb in die Verantwortung, weil ich ihn kenne oder weil ich ihn kennenlerne, sondern als Fremder, der anders ist als ich, den ich ob seiner Fremdheit auch nicht irgendwann durchschauen kann.
Oskar Schindler hat nicht nur auf seine Liste Namen von Juden setzen lassen, die er nicht kannte. Die Juden waren ihm sicherlich als Juden überhaupt fremd. Heute brauchen fremde Flüchtlinge dringend Hilfe. Nicht nur die österreichische und deutsche Regierung sehen sich genötigt zu helfen. Auch viele Bürger in Deutschland sind bereit, den Flüchtlingen auf vielfältige Weise zu helfen, empfangen sie an Bahnhöfen und reichen ihnen das Nötigste.
Die Hilfsbereitschaft in Deutschland muss sich dabei nicht auf die deutsche Geschichte berufen. Aber sicherlich verdankt sie sich auch einer Erinnerung an eine Zeit, in der viele Deutsche als Flüchtlinge wie Hannah Arendt durch die Welt irrten und darauf hofften, dass sich Fremde ihnen annehmen würden, als viel zu wenige einzelne Bürger bereit waren, sich gegen die Nazis zu wehren. Insofern kann man von einem Lernprozess sprechen, der zu einem Bewusstsein der Verantwortlichkeit führt, wie ihn Lévinas beschrieben hat: Helfen, und vielleicht auch noch etwas gutmachen, für das man selber nicht verantwortlich sein kann. Auf jeden Fall an einer humaneren Welt arbeiten, weil man die Not sieht, weil diese den Helfenden animiert und weil er dadurch etwas zur Humanität beiträgt, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum Fürsprecher hatte.
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