HOHE LUFT, Onlinebeitrag
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Weil wir Anfänger sind

Es liegt etwas in der Luft…

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… es ist der Wunsch nach einer politischen und erfolgreichen Revolution innerhalb Russlands. Es wäre die beste aller Welten: Putins Krieg fände ein Ende, ohne dass weitere Zivilisten und Soldaten stürben. Menschen müssten nicht mehr fliehen, Weizen könnte verschifft werden und so weitere Hungertode vermieden. Doch die Hoffnung auf Neubeginn innerhalb Russlands scheint derzeit utopisch. Zu Beginn des Krieges klammerte ich mich an einzelne Held:innen – Musiker:innen, Moderator:innen, Demonstrant:innen, kurz, alle die innerhalb Russlands gegen den Krieg aufstanden – und ich denke, mit diesem Klammern nicht alleine gewesen zu sein. Ihre Abbilder verbreiteten sich wie Lauffeuer in jeden abgelegenen Winkel der Erde (außer nach Russland). Wir wollen an die Kraft des Guten glauben, an den Mut und die Gerechtigkeit. Wir schauen den Hoffnungsschimmern hinterher. Jetzt deutet jedoch rein gar nichts auf solche Kräfte hin, die etwas Neues gebären. Warum ist dem so?

Sicher hätte ich diesen Text nicht zu schreiben begonnen, wäre ich nicht zufällig über einen Text von Hannah Arendt gestolpert. In ihrem Essay »Die Freiheit, frei zu sein« forscht sie dem Wesen von Revolutionen nach, die immer Freiheit zum Ziel haben. Sie beschreibt Revolutionen als eine mögliche Antwort auf einen Niedergang eines Regimes. Sie sind also nicht Ursache, sondern eine Folge des Verfalls politischer Autorität. »Revolutionen scheinen in ihrem Anfangsstadium immer mit erstaunlicher Leichtigkeit zu gelingen und der Grund dafür ist der, dass diejenigen die angeblich eine Revolution machen, die Macht nicht übernehmen, sondern sie von der Straße auflesen«, so Arendt. Von Leichtigkeit ist in Russland derzeit nichts zu spüren. Vielmehr scheint alles festgezurrt, eingefroren, untot. Es macht immernoch sprachlos, dass ein alter Mann unzählige junge Menschen in den Tod schickt. Damit eine Revolution geboren werden kann, müssen zeitgleich alte Machtstrukturen zersetzt werden und sterben.

Hannah Arendt endet ihren Essay mit einer metaphorischen Nutzbarmachung der Geburt für die politische Philosophie. Wir sterben nicht nur, wir werden auch geboren. Auch das macht unser Menschsein aus. Es ist die Fähigkeit zum Neubeginn. Sie schreibt: »Wir können etwas beginnen, weil wir Anfänge und somit Anfänger sind«. Auch bei der Zersetzung von Macht, was einer möglichen Revolution vorausgeht, müssen und können Menschen einen Anfang machen. Und so gehen das Sterben eines Regimes und die Geburt eines neuen zusammen. Die Geburt ist ein starkes Gegenbild zu einem lebensfeindlichen Diktator, der an seiner Macht klammert. Dass wir Menschen trotz allem immer wieder neu beginnen werden, macht Hoffnung.

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