Heftartikel, HOHE LUFT
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Und dann kam die Flut

STARKREGENFÄLLE LIESSEN DIE AHR MITTE JULI ÜBER DIE UFER TRETEN. SIE STÜRZTEN ORTE IN DEN AUSNAHMEZUSTAND UND MENSCHEN INS UNGLÜCK. EIN PERSÖNLICHER BERICHT ÜBER GEDANKEN, DIE KOMMEN, WENN ES STILL WIRD IN DER NACHT.

Text: Lena Frings 

ES GIBT DINGE, von denen wir glauben, sie seien beständig. Wir fragen uns nicht, ob die Sonne am Morgen aufgehen wird oder ob unser Haus noch steht, wenn wir am Abend zurückkommen. Auch meine Heimat war für mich Ausdruck von Beständigkeit – eine ländliche Region, in der sich der Dialekt hartnäckig in schmalen Tälern hält. Menschen sind dort so tief verwurzelt wie Bäume. Eichen stehen auf Felsformationen aus Jahrmillionen alten Ablagerungen, unter Druck zu Schiefer verdichtet, umspült von dem kleinen Flüsschen Ahr. Spätsommertage verbrachten wir als Kinder an diesem Ufer, blieben, bis die Sonne hinter die Pappeln sank und Mückenschwärme um die hohen Gräser flirrten. Später haben wir dort die ersten Lagerfeuer mit Freund*innen gemacht, das erste Bier getrunken und das erste Mal nachts und nackt gebadet. Noch ein bisschen später wurde alles zu eng. Identitäten schienen über Generationen hinweg festgeschrieben. Das Dorf merkte sich, wer wie gewesen war. Die Zeit floss so ruhig dahin wie die Ahr, und der Wechsel kam, so glaubte ich damals, lediglich mit dem Alter und den Jahreszeiten. Es brauchte dort sehr viel Kraft, um jemand anders zu werden.

Irgendwie hat meine Mutter es dennoch geschafft. Ich war schon lange ausgezogen, als sie begann, ihr Leben zu wandeln. Behutsam zog sie neue Ziele heran wie kleine Pflanzen, goss und beschützte sie, bis sie stark genug waren. Sie brach mit Gewohnheiten und Erwartungen, die über Jahrzehnte hinweg als selbstverständlich wahrgenommen worden waren. Sie befreite sich aus festgefahrenen Beziehungen und zog schließlich aus meinem Elternhaus in eine neue Wohnung. Mein Bruder und ich bekamen Fotos geschickt von Möbeln, die nur ihr eigen waren. Die Wohnung wurde Sinnbild für ihre neue Unabhängigkeit. Diesem Anfang wohnte ein Zauber inne, der sie beschützte und ihr half zu leben. Es war eine Veränderung, die sie gewollt und für die sie gearbeitet hatte.

Am Abend des 14. Juli rief mein Vater an. »Kann ich später zurückrufen?«, fragte ich noch. Er verneinte. Das Wasser stünde schon in Brusthöhe in der Küche. Was? Ich verstand nicht, was er sagte. Seine Worte sickerten langsam zu mir durch. »Kannst du nicht raus?«, fragte ich noch. »Nein, natürlich nicht«, seine Stimme wurde lauter: »Dann ertrinke ich!« Irgendwann brach die Verbindung ab. Plötzlich war ich hellwach. Ich rief diverse Leute an. Das »Tief Bernd« hatte in der Region für Starkregenfälle gesorgt, deren Ausmaß uns zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst war. »Es wird dauern, bis wir nach Ihrem Vater schauen können. Es gibt gerade sehr viel zu tun«, sagte der Mann auf der Polizeiwache. In der Nacht erreichte ich weder meine Großeltern noch meinen Vater oder meine Mutter. Mein Bruder und ich schickten uns Pegelstände des Hochwassers hin und her. Als ich am Morgen gegen 11 Uhr eine Nachricht meiner Mutter erhielt, zitterte ich. »Bin mit Petra auf dem Fußweg nach Lind wegen Handyempfang. Habe die Tasche voller Handys. Meine Wohnung stand bis unter die Decke unter Wasser. Alles hin. Haus bis 1. Etage Wasser Brusthöhe. Kreuzberg ist nicht erreichbar«, schrieb sie. Es gab keinen Strom und kein Trinkwasser mehr. Schienen und Straßen waren zerstört worden. Über dem Dorf kreisten Hubschrauber. Meine Mutter und ihre Freundin stolperten den Berg hinauf in den Nachbarort, um dort die Handys aufzuladen. Doch als sie ankamen, war dort ebenfalls kein Strom.

Dort, wo wir aufgewachsen waren, roch es nun nach Heizöl, Klärschlamm und Tod.

Es dauerte, bis mein Bruder und ich unser Heimatdorf erreichten. Die letzten Kilometer gingen wir zu Fuß. Dort, wo wir aufgewachsen waren, roch es nun nach Heizöl, Klärschlamm und Tod. Ich wusste vorher nicht, wie der Tod riecht, aber als wir am Kadaver einer Kuh vorbeiliefen, die in den Ästen eines Baumes verweste, nahm es mir den Atem. Eine neue Müllkippe wuchs auf dem alten Sportplatz heran. Und über allem lag ein Film aus Öl. Es türmten sich Autos, zersplitterte Baumstämme, Bauschutt und viel Undefinierbares. Polizei, Bundeswehr und THW fuhren mit Lastern, wirbelten Staub auf, der in den Augen brannte. Mein Vater lachte, als er uns kommen sah. Er stand in einem Garten voller Schlamm und klopfte uns mit dreckigen Händen auf die Schulter. Meine Mutter erzählte mir ihre Geschichte der Flutnacht: »Es wurden Wohnwagen angeschwemmt, die sich an der Eisenbahnbrücke stauten. Sie bauten sich wie eine Staumauer auf. Plötzlich schwappte das Wasser über den Bahndamm, und alle schrien: ›Raus, alle raus!‹ Ich hatte keine Zeit mehr, eine Tasche zu packen. Wir retteten uns an den Berghang, hinter die Häuser und schauten nur fassungslos zu. Das Auto meines Vermieters schwamm vorbei, sein Firmenwagen, dann das Auto seines Vaters. Baumstämme schrammten an der Wand entlang und rammten in das Haus. Die erste Wand brach weg. Meine Vermieterin riss die Augen auf und warf die Hände vor den Mund. Wir waren mitten in einem Actionfilm. Es war nicht zu fassen.« Sie hatte zugesehen, wie ihr alles genommen wurde.

FÜR DIE BETROFFENEN
GIBT ES JETZT EIN DAVOR
UND EIN DANACH

Manche Veränderungen brechen über uns herein und sind plötzlich so real, dass wir es nicht begreifen können. »Mein neues Leben wurde weggewaschen«, sagte meine Mutter. Ich wollte etwas entgegnen, aber wusste nicht, was. Seit jener Nacht scheint sie auf der Flucht zu sein. Sie wurde hin und hergereicht von einer hilfsbereiten Hand zur anderen. »In den ersten Tagen fühlte ich mich wie ein Kind. In meinem Kopf war nur noch Schlamm. Ich konnte nichts mehr entscheiden«, sagte sie. Sie schlief in alten Kinderzimmern, kam in ein Auffanglager, in das ein Verletzter auf einer Baggerschaufel gebracht wurde; sie schlief in einer Altbauwohnung, wo sie sich unwohl fühlte, weil alles um sie herum so normal war. Dabei war doch gerade die Welt untergegangen. Sie kam im Arbeitszimmer eines jungen Ehepaares unter, wo auch ich ein paar Nächte bleiben durfte. In der Nacht hatte sie Angst vor dem Wasser. Sie redete im Schlaf. Sie nahm meine Hand und schluchzte leise. »Ich muss mir ein Auto organisieren«, sagte sie mehr zu sich selbst. Sie war ruhelos. Sie wollte nach Hause. Tags liefen wir durch Straßen, die nicht mehr wiederzuerkennen waren. Ein Mann stand vor den Trümmern seines Hauses und weinte. Am Verpflegungszelt erzählte eine Frau, sie könne sich an nichts mehr erinnern. Wunden vereiterten durch das Eindringen des giftigen Schlamms. Mitarbeiter*innen vom THW legten Schaufeln beiseite und gedachten in einer Schweigeminute der 134 Toten. Die Geschichte meiner Familie ist eine Geschichte von 42 000. Es ist die Geschichte von Menschen, die Glück im Unglück hatten. Für sie gibt es jetzt ein Davor und ein Danach.

ES WAREN DIE VIELEN professionellen und freiwilligen Helfer*innen, die in diesen Tagen Mut machten. »Menschen aus dem ganzen Land sind hier, um anzupacken. Der Welle der Flut folgt eine Welle der Menschlichkeit«, sagte meine Mutter, und ich bewunderte sie dafür, in allem das Gute zu sehen. Ich war erleichtert, dass die Katastrophe ihre innere Stärke nicht davongespült hatte. Da war etwas, das sie trug. Helfer*innen bildeten Ketten, reichten sich Eimer voller Schutt, organisierten Mitfahrgelegenheiten, Werkzeug und Verpflegung. Es ging zu wie in einem Ameisenhaufen. Alle rannten, die Luft war erfüllt von einem geschäftigen Surren. Wir arbeiteten gegen den Schmerz und für einen Neuanfang. Wir arbeiteten für die Verarbeitung. Solidarität war nun heilsam. Es galt, Schlamm aus Kellern zu pumpen und Schichten am Essenszelt zu übernehmen. Mit einem Stromaggregat schlossen wir Lampen an, um Keller auszuräumen. »Jetzt ist das Altglas auch endlich raus«, sagte einer der Männer lachend. Am Abend tranken Helfer*innen mit Dorfbewohner*innen Bier. Es hätte so schön sein können, wenn es nicht so traurig gewesen wäre.

Manche Veränderungen finden ganz unbemerkt statt. Als ich Tage später wieder im ICE sitze, um in meine heile Welt zu fahren, merke ich, dass sich etwas in mir verschoben hat. Da sind Demut, eine Liebe zu Menschen und zur Natur und eine nie gefühlte Verbundenheit mit meiner Heimat. Eine Dankbarkeit gegenüber dem sozialen Netz, das meine Eltern trägt. Erinnerungen und Vertrautheit bis in die Tiefe, wie Schichten aus Schiefer, die ich nur dort finden werde. Dort, wo ich aufgewachsen bin, wo ich Menschen und ihre Vergangenheit kenne und Freund*innen gefunden habe, die mir bis heute treu sind. Fast, als wäre ich heimgekehrt – jetzt, wo alles kaputt ist. •

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