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Welche Freiheit brauchen wir?

Vom Sieg Donald Trumps bis zum Aufstieg der AfD: In den westlichen Demokratien wachsen Wut und Angst vor Terror. Was bisher selbstverständlich schien, wird immer mehr infrage gestellt – die liberale, offene Gesellschaft. Ein Plädoyer für eine neue »Radikale Freiheit«, ein freies Wir, das ein- und nicht ausschließt.

Text: Rebekka Reinhard, Thomas Vašek

So viel Freiheit wie heute war nie. wir können und dürfen tun und lassen, was wir wollen – shoppen, chatten, vögeln, völlern, hassen. man kann jederzeit und überall fast alles sagen. auf Facebook hat jeder seine Stimme. es ist möglich, über Flüchtlinge herzuziehen, Politiker zu beschimpfen, gegen die Burka zu wettern. Wir können es unter vollem Namen tun oder ein Pseudonym wählen. Wir sind auch frei, wie wir auf Wutreden und Hassbotschaften anderer reagieren möchten. Wir können sie mit Likes quittieren und einstimmen in den Chor der Gekränkten. wir können auch dagegen votieren, im Vertrauen auf das bessere Argument. Oder wir schalten gleich ab und schauen weg. Niemand zwingt uns zu wählen, zu heiraten, zu arbeiten, wenn wir etwas anderes vorziehen. All diese Freiheiten sind uns so selbstverständlich wie das Atmen. Sie gehören zu unserer Vorstellung einer liberalen, offenen Gesellschaft, zu unserer Idee eines freien Individuums, das sich selbst verwirklichen, stets neu erfinden und seine lebensentwürfe verändern kann. Aber ist das die Freiheit, die wir heute brauchen? oder vergrößert ein so verstandener Liberalismus die Kluft zwischen »uns« und »denen«, zwischen »Elite« und »Abgehängten« – also zwischen jenen, die von ihrer Freiheit optimal Gebrauch machen (können) und allen anderen?

So viel Freiheit wie heute war nie. Und doch: So bedroht war die Freiheit schon lange nicht mehr. In den USA, in Frankreich, in den Niederlanden, in Österreich und Ungarn – überall greifen Populisten nach der Macht, sie attackieren die Flüchtlingspolitik, das »Establishment«, das Modell der liberalen, pluralen Gesellschaft. Und es scheint, als habe der Liberalismus dem Trend nichts entgegenzusetzen: Überall verschärft sich die ökonomische Ungleichheit, das Migrationsproblem ist ungelöst, die Globalisierung teilt die Welt scheinbar auf in Gewinner und Verlierer. Ist das die Schuld der Elite? Hat vielleicht der US-amerikanische Ideengeschichtler Mark Lilla recht, der den »Liberalismus der Identität« mit seiner Fixierung auf die Rechte von Randgruppen für den Wahlsieg von Donald Trump verantwortlich macht?
Der Liberalismus betont seit jeher die Freiheit des Individuums und bestimmte Grundrechte wie Meinungs-, Wahl und Religionsfreiheit, Toleranz und Demokratie. Dazu gehören auch grundsätzliche Skepsis gegenüber staatlichen Eingriffen und das Vertrauen in die Selbstregulierungskräfte des freien Marktes. Aus klassischer liberaler Sicht heißt Freiheit einfach, dass wir in unserem Denken und Tun keinen Einschränkungen unterliegen, uns also frei entfalten können – ob in unserem Liebesleben oder in unserer Berufswahl. Aber kann das alles sein? Was nützt mir meine ganze Freiheit, wenn ich arbeitsloser Single bleibe? Und was hilft uns all die Freiheit, wenn sie uns nicht glücklich macht, uns sogar überfordert?
Die Populisten werben mit schnellen und einfachen Lösungen. Sie versprechen Ordnung, Übersichtlichkeit, Zugehörigkeit, Halt. Sie erheben ihre Stimme, um bestimmte Stimmungen zu erzeugen und stellvertretend für andere zu artikulieren. Zwar ist es mehr als zweifelhaft, ob sich die Probleme einer komplexen Gesellschaft so lösen lassen. Jedoch stoßen die Appelle der Populisten damit in eine Leere im Herzen der liberalen Gesellschaft, die in den letzten Jahrzehnten noch fühlbarer geworden ist.
Bei »Liberalismus« denken viele reflexhaft an »Neoliberalismus«, an entfesselte Märkte und Gier, an das Ende des Sozialstaats, an die Auflösung von Gemeinschaft und Sicherheit. Da haben viele Angst, auf der Strecke zu bleiben, »abgehängt« zu werden. Neoliberalismus, Globalisierung, Digitalisierung: Für viele fallen diese Begriffe zusammen, sie stehen für anonyme Mächte, die man nicht mehr steuern kann. Sie haben den Eindruck, dass sie nicht mehr gehört werden, dass kein Dialog mehr möglich ist – dass sie, bei all ihren »Freiheiten«, in Wahrheit doch unfrei sind.

Ganz bestimmt wollen wir frei sein – aber was heißt das?

Wenn wir nicht wollen, dass Liberalismus künftig mit Unfreiheit assoziiert wird, dann genügt es nicht, Freiheit neu zu definieren. Es reicht auch nicht, dass in Talkshows immer wieder liberale Grundwerte beschworen werden. Und noch aussichtsloser ist es, die Emotionalisierungsstrategien der populistischen Rhetorik zu übernehmen. Worauf es wirklich ankommt, das ist, über Freiheit nicht nur zu diskutieren. Wir müssen sie vielmehr neu und anders »tun«, um das Vakuum inmitten der liberalen Gesellschaft zu füllen. Aber welche Freiheit brauchen wir, und wie können wir sie realisieren?
Ganz bestimmt wollen wir frei sein, unseren Lebenspartner zu wählen, unsere Meinung zu sagen, zu essen, was wir für richtig halten. Wir brauchen die Freiheit von äußeren Zwängen. Niemand soll uns schuldlos verhaften oder zensieren dürfen.

Was wir brauchen, ist eine Freiheit auch von inneren Hinderungsgründen – etwa der Angst oder dem hemmenden Gefühl, ein »Opfer« zu sein, das undurchschaubaren Kräften hilflos ausgeliefert ist; oder von tiefsitzenden Vorurteilen, die Menschen darüber täuschen, was für sie machbar ist. Menschen sind weder rein rationale Akteure noch isolierte Subjekte, die der Welt als distanzierte Betrachter gegenüberstehen. Wir sind vielmehr soziale Wesen, denen ein kulturelles Erbe mitgegeben wurde – und die idealerweise mit »situierter Intelligenz« (John Dewey) ausgestattet sind. Dazu gehört die Einsicht, dass unser Wissen beschränkt ist, dass wir fallibel sind, also uns irren können in Bezug auf unsere Urteile und Lebenskonzepte. Das heißt, dass wir in Auseinandersetzung
mit anderen unsere Vorstellungen von einem guten Leben immer wieder revidieren können müssen.
Wir brauchen daher eine Freiheit, die uns erlaubt, aus unserer beschränkten Perspektive heraus zu urteilen und zu leben, während wir für Einsichten und Kritik von außen offen bleiben. Die Freiheit, die wir brauchen, ist nicht die des atomisierten Individuums. Sondern eine, die Vertrauen, Halt und Zugehörigkeit einschließt. Freiheit kann nicht allein ausgeübt werden. Sie muss von anderen erkannt und bestätigt werden. Denn jemand könnte ja von sich glauben, frei zu sein, tatsächlich aber unfrei sein.

Eine Freiheit, die von radikal Dummen definiert und praktiziert wird, ist gefährlich, weil sie in ihrem Kern nur eine als Freiheit getarnte Unfreiheit ist.

Die Freiheit, die wir brauchen, darf weder überfordern, noch vorgeschrieben werden. Zwar soll jeder sein »eigenes Ding« machen können – aber nicht machen müssen. Ein ideologisch verkürzter Neoliberalismus, der in jedem Individuum einen Unternehmer seiner selbst sehen möchte, führt in die Unfreiheit. Die Forderung nach totaler Selbstverantwortung ist verantwortungslos.
Die Freiheit, die wir meinen, darf auch nicht von radikaler Dummheit vereinnahmt werden. Der radikal Dumme nimmt Fakten nicht zur Kenntnis, er unterliegt seinen Vorurteilen und Ressentiments, er macht sich die Welt einfach so, wie sie ihm gefällt. Der radikal Dumme zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass er nichts weiß. Vielmehr glaubt er auch noch, dass er schlauer ist als die anderen. Eine Freiheit, die von radikal Dummen definiert und praktiziert wird, ist in ihrem Kern nur eine als Freiheit getarnte Unfreiheit.
Es gibt eine unbestreitbare Affinität zwischen radikaler Dummheit und Populismus. Der Populist glaubt, dass er und nur er für das Volk spricht. Der radikal Dumme ist überzeugt, dass er und nur er weiß, was wirklich der Fall ist. Insofern ist er genauso tendenziell Antidemokrat wie der Populist. Beide sind letztlich Dogmatiker, die ihre eigene Weltsicht absolut setzen – und damit die Freiheiten der anderen einschränken. Wir brauchen keine identitätspolitisch aufgeladene Freiheit, von links wie von rechts.
Ein »Wir«, das das Eigene durch den Ausschluss des Anderen definiert, kann nicht frei sein. Soziale Medien wie Facebook oder Twitter geben jedem »Wir« seine Stimme. Sie fungieren als eine Art Versammlungsort für Gleichgesinnte, für Menschen aus den gleichen Milieus, mit dem gleichen Erfahrungshintergrund.
Zwar sind sie frei, ihre Facebook-Gruppe für sich zu wählen und sich nach Belieben an diesem Ort aufzuhalten, sich zu äußern, mit anderen auszutauschen – und mit ihren Worten zu handeln. Aber sie sitzen in einer Art goldenem Käfig – in der Echokammer wechselseitiger Selbstbestätigung. Ihnen fehlt die nötige Pluralität, der Dissens, den sie bräuchten, um die Freiheit zu »tun«. Ihre Vorurteile gegen die anderen – gegen Muslime, gegen die »Elite« etc. – bleiben bestehen: Sie sind die inneren Hinderungsgründe, die sie dazu bringen, den Dialog mit Andersdenkenden systematisch zu vermeiden.

Das »Wir« in den sozialen Medien ist nur in der gewohnten Situation der Echokammer frei und sicher. Außerhalb dieser Situation, in der Konfrontation mit anderen, deren Ausschluss das »Wir« begründet, schlagen Freiheit und Zugehörigkeit in Unfreiheit und Haltlosigkeit um. Plötzlich ist die Welt kein Ort der Selbstentfaltung mehr, sondern einer der Bedrohung.

Das Ziel der Radikalen Freiheit ist das gelingende Leben

Die Freiheit, die wir brauchen, gibt es nur, wenn sie »getan« wird. Sie besteht in einem ständigen Probieren und Experimentieren, in der Anwendung auf die Wirklichkeit; in einer bestimmten Art des Miteinander. Wir nennen sie Radikale Freiheit. »Radikal« bedeutet gründlich, vollständig, aber auch: »die Wurzel betreffend«. Radikale Freiheit »wurzelt«, so glauben wir, nicht allein in der Vernünftigkeit des Menschen, wie Kant dachte. Vielmehr besteht sie in dem, was ein Mensch aus seiner jeweiligen Lage macht. Ihr Ziel ist das gelingende Leben.
Radikale Freiheit heißt, Freiheit zu »tun«, sie zu entfalten, zu kultivieren. Unter den richtigen Bedingungen kann sie wachsen und gedeihen wie eine Pflanze, die genügend Nährstoffe, Wasser und Licht bekommt. Unter den falschen Bedingungen wird sie verdorren. Wie das Wachstum von Pflanzen hängt auch ihr Wachstum von ihrer Umgebung ab – und damit von bestimmten Entscheidungen.
Aber kann Freiheit nicht einfach so sein, wie sie will? Einfach die Möglichkeit sein, alles zu tun, was man kann und darf oder auch nicht? Verhalten wir uns mit unserer Positionierung nicht genauso dogmatisch wie die von uns so genannten »radikal Dummen«?
Nein.
Wir setzen unseren Begriff von Radikaler Freiheit nicht absolut – obwohl wir wissen, dass Argumentation auf Setzungen zurückgeht. Unsere Selbstwidersprüchlichkeit ist gleichsam nur der wandelnde Beweis für die (mögliche) Richtigkeit unserer Thesen, wenn man davon ausgeht, dass es jenseits (inter)subjektiver Präferenzen für eine bestimmte Erklärungs- oder Begründungsnorm keinen vernünftigeren Grund gibt. Vielmehr gehen wir davon aus, dass jede Freiheitsdefinition nur vorläufig sein kann und als heuristisches Prinzip fungieren muss. Was Freiheit ist, weiß keiner; auch wir nicht. Freiheit muss sich in der Praxis zeigen.
Wir gehen davon aus, dass Radikale Freiheit nicht allein ausgeübt werden kann, sondern von anderen erkannt und bestätigt werden muss – und mehr noch: Dass sie nur dann erkennbar ist, wenn uns andere für unser Tun verantwortlich machen können, wie der irische Philosoph Philip Pettit meint. Verantwortlich machen kann man uns aber nur als Personen, die in einer bestimmten Art von Beziehung zu anderen stehen.

Im »Tun« der Freundschaft artikuliert sich unsere Art zu leben – und genau darin realisieren wir unsere Freiheit.

Radikale Freiheit zeigt sich in Freiheitspraktiken. Was heißt das genau? Das Wort »praxis« kommt aus dem Griechischen; bei Aristoteles steht der Begriff für ein miteinander umgehendes Handeln, das seinen Zweck in sich selbst hat. Wissenschaft, Politik, Kunst, Sport, Freundschaft und Familie – all das sind laut dem schottischen Philosophen Alasdair MacIntyre Beispiele für solche Praktiken im aristotelischen Sinne.
Die Praxis der Freundschaft etwa übt man nicht aus, weil sie einem etwas bringt. Sie macht glücklich, weil sie in sich wertvoll ist. Zugleich gibt es bestimmte Regeln, ohne die eine Freundschaft nicht funktioniert – zum Beispiel, dass man einem Freund nicht den Partner ausspannt. In der Praxis einer Freundschaft lernen wir, bessere Freunde zu werden. Nur indem wir die Freundschaft kontinuierlich pflegen, ihre Möglichkeiten und Grenzen testen, existiert die Praxis und bleibt sie bestehen. Im »Tun« der Freundschaft artikuliert sich unsere Art zu leben – und genau darin realisieren wir unsere Freiheit.

Das Ziel von Praktiken Radikaler Freiheit ist ein gelingendes Leben, das nicht nur subjektiv definiert und empfunden werden kann. Zwar ist es die persönliche Angelegenheit eines jeden, worin er sein Glück, seinen Erfolg, seine Liebe finden will. Aber wenn das Ziel des gelingenden Lebens nur in Praktiken erreicht werden kann, kann es keine individuelle Geschmackssache sein. Ein gelingendes Leben soll auch für andere gut sein.
Ein Mensch, der sich »freiwillig« dafür entschieden hat, von Hartz IV zu leben und den ganzen Tag Egoshooter-Spiele zu spielen, der hat vielleicht viel Spaß und trainiert seine Fähigkeiten als Computerspieler. Ist dieser Mensch frei? Hat er ein gelingendes Leben?
Nein.
Er nimmt weder an einer Praxis teil, noch agiert er als eine Person, die man für ihr Tun verantwortlich machen kann (außerhalb seines Computerspiels). Er setzt sich auch keinen anderen Situationen und Menschen aus, seine »situative Intelligenz« kennt nur die Welt der Egoshooter. Aus der Sicht des Ökonomen und Philosophen Amartya Sen kann jeder für sich bestimmen, was für ihn wichtig ist im Leben – vorausgesetzt, er hat eine Verwirklichungschance« (capability), die Sen mit substanzieller Freiheit gleichsetzt. Denken wir uns eine Person namens Paul. Paul macht eine Menge Geld, sein wichtigstes Ziel ist Erfolg. Trotzdem steht Paul schlechter da als seine Nachbarin Paula, die sehr viel weniger verdient. Denn Paul kann sein Ziel nicht realisieren, weil er an Prostatakrebs leidet und zu häufigen Krankenhausaufenthalten gezwungen ist. Aus Sens Sicht wäre Paul also unfrei.

Aus unserer Perspektive kann es Verwirklichungschancen nur im Rahmen von Praktiken Radikaler Freiheit geben. Paul mag nicht nur gut verdienen, sondern auch gesund sein. Aber die Praxis seines Jobs besteht darin, Waffen nach Syrien zu liefern. Zwar kann er so das für ihn wichtigste Ziel Erfolg realisieren. Doch man kann nicht davon sprechen, dass er ein gelingendes Leben führt, denn mit seinem Tun nimmt er in Kauf, Menschenleben zu vernichten. An einer Praxis Radikaler Freiheit teilzunehmen bedeutet auch, zu experimentieren und dabei bestimmten Regeln zu folgen. Das heißt nicht, keinen Einschränkungen zu unterliegen. Experimentieren kann man nur, wenn man eine bestimmte Versuchsanordnung hat, an die man sich so lange hält, wie sie sich als sinnvoll erweist. Paula könnte etwa an einem spannenden Projekt eines Start-up-Unternehmens beteiligt sein, dessen Erfolg ungewiss ist. Das Projektteam legt Arbeitszeiten und Kooperationsformen fest, passt diese aber immer neu an. Man löst gemeinsam Probleme und lernt im Dialog und aus Erfahrung, was sich bewährt und was nicht.
Integraler Bestandteil dieser Lernprozesse sind Pluralität und Dissens: Nur wenn es verschiedene Meinungen gibt, können sich die Teammitglieder selbst korrigieren und damit weiterentwickeln. Und nur im Rahmen dieser Praxis sind sie frei, auch weil sie für ihr Tun verantwortlich gemacht werden können. Weil sie sich so gegenseitig befähigen, sich selbst wie den anderen Praxisteilnehmern zu vertrauen.

Wenn wir behaupten, dass Freiheit »getan« werden muss, dann heißt das für uns, Verantwortung zu übernehmen – und zwar für uns selbst und für andere.

Wenn wir recht haben, dann ist Freiheit nicht beliebig. Radikale Freiheit impliziert ein bestimmtes Wie. Einfach nur machen zu können, was man will, ist noch lange keine Freiheit. Sie kann sogar Unfreiheit bedeuten. Wenn wir behaupten, dass Freiheit »getan« werden muss, dann heißt das für uns, Verantwortung zu übernehmen – und zwar für uns selbst und für andere. Nur ein freier Mensch kann überhaupt verantwortlich sein – und damit an einer Praxis teilnehmen. Aber erst wenn er tatsächlich freiwillig und konsequent Verantwortung übernimmt, ist er radikal frei.
Niemand weiß, was Freiheit ist. Ausgehend von der Beschränktheit der Perspektive, aus der heraus wir urteilen und handeln, müssen wir zeigen, dass wir verantwortlich genug sind, im Wissen unseres Unwissens unsere Freiheit immer wieder an der Realität abzugleichen. Verantwortung übernehmen können wir nicht allein im stillen Kämmerlein, sondern nur im Rahmen von Praktiken, in denen uns andere zur Verantwortung ziehen können. Das aber verlangt ein Minimum an (Selbst-)Reflexion. Eine »Art des kritischen Lernens aus Erfahrung«, das John Dewey (1859 –1952) als »Intelligenz« bezeichnete. Radikal Dumme sind somit unfähig, an Praktiken Radikaler Freiheit
teilzunehmen. Sie sind radikal unfrei.
Wer radikal freie Menschen will, muss Menschen die Chance bieten zu atmen und zu wachsen, ihnen also ermöglichen, eine Vorstellung von einem gelingenden Leben zu verwirklichen, die nicht nur für sie selbst gut ist, sondern auch für andere. Radikale Freiheit heißt nicht, sein »wahres Selbst« zu realisieren, also »authentisch« zu sein. Unsere Identität können wir nicht für uns allein definieren, sondern nur vor einem
»Bedeutungshorizont« (Charles Taylor), der diese Identität verständlich macht. Soziale Praktiken geben Menschen die Chance, eine Identität anzunehmen, zu erproben und zu entfalten. Jemand kann Familienvater sein, Taxifahrer, Hobbyfußballer, Freund und Partner – in jeder dieser Praktiken gelten andere Regeln, andere Kriterien. In jeder Praxis lernt man, was »üblich« ist, was »geht« und was nicht. Die Tatsache, dass Menschen über diese Normen und Gebräuche teilweise ihre Identität definieren, denunzierte Martin Heidegger als »Diktatur des ›man‹«. Aber erst eine gewisse Konformität macht soziales Miteinander überhaupt möglich. Eine Gesellschaft von Menschen, in der jeder ständig seine Identität ausdrücken will, kann nicht funktionieren.

Radikale Freiheit lebt nicht davon, dass Menschen so handeln, wie sie »wirklich sind«. Radikal freie Menschen »sind« vielmehr so, wie sie wirklich handeln. Radikale Freiheit besteht im Wechselspiel von Experiment und
Gewöhnung. Einerseits geht es darum, Regeln zu folgen, so weit sie sich bewähren. Anderseits heißt es, kreativ und sensibel auf Situationen zu reagieren, wenn die Gewohnheit nicht mehr weiterhilft. Radikale Freiheit ist daher eine Art von »Untersuchung«, eine »inquiry«, wie es John Dewey nannte. Zusammen mit anderen versucht man herauszufinden, welcher Weg zum gelingenden Leben der richtige ist. Wie das konkret aussieht, können wir uns in einem Modell dreier konzentrischer Kreise vergegenwärtigen.

Radikale Freiheit beginnt im Privaten.
Nehmen wir an, Paul will nicht nur beruflich erfolgreich sein, sondern zielt auch auf ein gelingendes Familienleben. Dann genügt es nicht, dass er einfach nur eine Partnerin wählt und mit ihr ein Kind zeugt. Er muss sich schon ein wenig mehr anstrengen, seiner Verantwortung gerecht werden, die sich aus seiner beschränkten Perspektive ergibt. Es geht nicht mehr allein um ihn, sondern um ein Wir, das Vertrauen, Halt und Zugehörigkeit stiftet. Die Familie muss also eine kollektive Praxis etablieren und entsprechende Regeln festlegen – etwa dass immer derjenige, der sich in der Nähe des vollen Müllbeutels befindet, diesen zeitnah entsorgt. Zu einer wirklich freien Familie gehört aber auch das Streiten, das gemeinsame Experimentieren, das kooperative Problemlösen, um ein dauerhaft gutes Zusammenleben zu erreichen. Eine funktionierende Praxis schafft Zugehörigkeit nicht durch Homogenisierung und Zensur, sondern durch die Praxis selbst: Das freie Wir entsteht aus dem gemeinsamen Tun.

Radikale Freiheit setzt sich Fort im Sozialen.
Nehmen wir an, Paula arbeitet in einem interkulturellen Team, das einmal pro Woche gemeinsam boxen geht. Zur Praxis des Teams könnte es gehören, dass die Kolleginnen muslimischen Glaubens ihre Kopftücher während des Boxens ablegen. Diese Praxis erfordert, dass wir von der Identität des anderen (Glaube, Hautfarbe, sexuelle Orientierung) abstrahieren; diese als gleichsam so »gewichtslos« wahrnehmen wie unsere eigene, wie die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Elaine Scarry vorschlägt. Auf diese Weise fingieren wir pragmatisch einen Zustand, in dem Identitäten und deren Attribute – für die Dauer der Praxis – keine Rolle spielen. In Anlehnung an John Rawls (1921–2002) könnte man von einer »Burka des Nichtwissens« sprechen.

Radikale Freiheit vollendet sich im Politischen.
Auch die liberale Demokratie ist eine Praxis, sie lebt vom Tun. Es geht nicht nur darum, an Wahlen teilzunehmen. Demokratie braucht auch den öffentlichen Diskurs. Im Gegensatz zur Diktatur, die auf der »Methode der Autorität« (Charles Sanders Peirce) beruht, basiert Demokratie auf den »Methoden« von Pluralität, Dissens und Wettbewerb. Rein konsensorientierte Diskursrationalität im Sinne von Jürgen Habermas ist nicht nur unrealistisch, sondern auch »praxisfern«. Auch das situierte Wissen der »Abgehängten« zählt in der Demokratie, gerade weil es nicht aus rationalem Diskurs unter idealen Bedingungen hervorgeht, sondern weil es einen wichtigen Ausschnitt der Realität auch für andere sichtbar macht.
Die liberale Demokratie braucht den Wettbewerb, das »Agonale«, wie die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe es nennt – aber weder das schrankenlose Wutbürgertum noch die unbegrenzte Schlacht um die größten Gewinne.Das Problem mit dem Neoliberalismus ist nicht, dass er schlecht ist, sondern dass er missverstanden wird. Die Begründer des Neoliberalismus wie etwa Friedrich August von Hayek (1899 –1992) propagierten keineswegs bloß die schrankenlose Gier. Vielmehr sahen sie den Markt als ein »Entdeckungsinstrument« für bisher unbekannte Bedürfnisse der Bürger.
Wir können den Neoliberalen so weit folgen, dass Marktmechanismen bestimmte Probleme lösen können. Aber der Markt ist für uns nicht das einzige »Entdeckungsinstrument«. Entscheidend für eine funktionierende, freie Demokratie sind politische Praktiken, die mit anderen (sozialen, privaten) Praktiken verwoben sind. Insofern das gemeinsame Ziel aller Praktiken das gelingende Leben darstellt, sind das Private und das Soziale immer auch politisch. Die Aufgabe einer Politik, die sich an der Idee Radikaler Freiheit orientierte, bestünde daher darin, ihren Bürgern die Teilnahme an solchen Praktiken zu ermöglichen. Politik muss die Bedingungen schaffen, unter denen Menschen wachsen können. Das ist keineswegs nur eine Frage materieller Ressourcen oder der Beseitigung ökonomischer Ungleichheit.
Was wir brauchen, das ist eine radikal liberale Politik, die sich als Garant der Möglichkeit eines gelingenden Lebens versteht. Gegen die Populisten, gegen die Feinde der Freiheit, gegen die radikal Dummen gewinnt man nicht mit dem besseren Argument. Man gewinnt gegen sie, indem sich in der Praxis erweist, dass Radikale Freiheit die Menschen glücklicher macht.

Dieser Artikel erschien in HOHE LUFT 2/2017.

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