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Die Fiktion der Wahrheit

Das, was vor wenigen Tagen über die Fälschungen von Reportagen beim Spiegel ans Licht gekommen ist, wirft Fragen nach der Wahrheit von Werken mit realem Bezug überhaupt auf. Die Frage, wann eine Reportage etwas Wahres erzählt, kann Anlass sein, über die Wahrheit von Geschichten überhaupt nachzudenken. Wann ist eine Geschichte wahr? Wann ist eine Geschichte Fiktion, wann sind fiktionale Geschichten wahr und was macht vielleicht sogar eine wahre Geschichte zur Fiktion? Ist es am Ende überhaupt eine Fiktion, dass wahre Geschichten die Wahrheit erzählen und unwahre Geschichten eben nicht?

Es wäre unzureichend, wenn wir jetzt nur über den Extremfall des Betrügers diskutieren, der womöglich Personen und Ereignisse ohne jede Verbindung zu Tatsachen frei erfunden und als Ergebnis von Recherchen ausgegeben hat. Das soll aufgeklärt und berichtet werden, und Redaktionen sollen darüber nachdenken, wie sie solchen Betrug zukünftig verhindern können. In diesem Text geht es nicht um den Fall Relotius, schon gar nicht soll das Handeln dieses Mannes gerechtfertigt oder relativiert werden. Es geht um das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion, das sozusagen die Bedingung der Möglichkeit dieses Handelns ist.

Fakten in Fiktionen

Lösen wir den Blick von dem konkreten Fall des neuesten Spiegel-Skandals, der vielleicht ja auch, trotz aller Fakten, eine falsche Geschichte erzählt. In diesem Jahr gab es gleich mehrere erfolgreiche Spielfilme über reale Personen der jüngeren Geschichte, etwa den über Freddy Mercury und Queen, oder den über den ostdeutschen Baggerfahrer Gundermann. Vielleicht könnte man auch „Werk ohne Autor“ dazuzählen, dessen Protagonist zwar einen anderen Namen trägt, der aber gerade in den nachprüfbaren historischen Fakten so nah am Leben des Malers Gerhard Richter ist, dass man ihn ohne weiteres als Geschichte über genau dieses Leben auffassen kann.

Viele Menschen sind enttäuscht, wenn sie erfahren, dass in solchen Filmen gewissen einfache Fakten nicht „stimmen“, dass etwa die Reihenfolge von Ereignissen getauscht wurde, oder dass Ereignisse, die über einen langen Zeitraum verstreut waren, in der Geschichte eng zusammengerückt werden. Man erwartet, dass die Fakten „stimmen“ – auch wenn jede Regisseurin und jeder Drehbuchautor sagen wird, dass das Werk nunmal Fiktion sei und dass es künstlerische Freiheit sei, die Geschichte eben so zu erzählen.

Viele glauben sogar, dass einzelne Szenen, die gar nicht objektiv verbürgt sind, etwa Gespräche zwischen den Protagonisten, weitgehend so stattgefunden haben müssten, wie sie dargestellt sind, auch wenn sie gar nicht dokumentiert wurden. Nicht nur Ort und Zeitpunkt eines Konzerts sollen den historischen Fakten entsprechen, sondern auch der Blick des einsamen Künstlers aus dem Fenster hin zur Wohnung der geliebten Frau soll irgendwie tatsächlich so gewesen sein, wie es der Film zeigt.

Man mag das als naiv abtun, es zeigt aber, dass offenbar der Anspruch weit verbreitet ist, dass über reale Personen nur erzählt werden soll, was faktisch wahr und belegbar ist. Auf der anderen Seite ist es für diejenigen, die Geschichten erzählen, selbstverständlich, dass sie die Fakten abwandeln und die Lücken mit ihrer Phantasie füllen dürfen, damit einen Geschichte entsteht.

Welche Wahrheit interessiert das Publikum?

Welche Wahrheit will ein solcher Film zeigen? Will er einen konkreten Geschehensverlauf exakt dokumentieren? Welche Wahrheit würde darin zu sehen sein? Wir glauben manchmal, die Wahrheit, das wären die Fakten des tatsächlichen Geschehens. Aber wenn eine Geschichte zeigen will, wie die Dinge wirklich, „in Wahrheit“ waren, kann sie ja nicht einfach alle Fakten zusammentragen, dann wäre die Geschichte mindestens genauso lang wie die Ereignisse dauerten, von denen sie berichtet.

Wahrheit – das ist kein Attribut, das den Fakten, dem getreulichen Nacherzählen von Ereignissen, zukommt, sondern den Aussagen über diese Ereignisse, Aussagen über die Menschen, von denen berichtet wird. Im Falle von Gundermann etwa die Antwort auf die Frage, ob er ein Stasi-Verräter, ein großer berührender Musiker, ein zerrissener, tragisch-großer gescheiterter Mensch war. Eine solche Wahrheit, oder das, was die Autorin und der Regisseur für diese Wahrheit halten, kann auch in erfundenen Dialogen und dramatisch variierten Abläufen erzählt werden. Es ist dann allerdings immer ihre Wahrheit. Gefährlich ist dabei die suggestive Kraft der Bilder, die den Eindruck erwecken, diese subjektive Wahrheit sei in ihrer Plausibilität auch in irgend einem Sinne „objektiv wahr“.

Etwas ähnliches begegnet uns in den so genannten Doku-Dramen des Fernsehens, in denen historische Ereignisse in einer Mischung aus Spielfilm-Sequenzen und Experten-Interviews präsentiert werden. Die Wahrheit liegt in diesen Fällen auch nicht in trockenen historischen Fakten, die aufgezählt und berichtet werden können, sondern im Urteil über die Geschehnisse und ihre so genannte „historische Einordnung“. Hier wird ebenfalls die Suggestivität der dokumentarisch scheinenden bewegten Bilder genutzt, um eine Beurteilung des Geschehens plausibel zu machen. Dabei stützen sich die Experten-Aussagen und die Spielfilmszenen gegenseitig. Die Szenen scheinen das, was der Experte behauptet, zu belegen. Natürlich weiß jeder, das sie nachgestellt sind. Aber sie machen das, was der Experte erklärt, plausibel, nachvollziehbar. Gleichzeitig wird diese Plausibilität aber überhaupt nur dadurch erzeugt, dass der Experte das, was man da sieht, als Tatsachen beschreibt.

Sagen, was wirklich war?

Allerdings muss man ja feststellen, dass weder der Experte noch das Spielfilm-Team bei den längst vergangenen Ereignissen dabei gewesen sind. Vieles von dem, was wir sehen, kann niemand wissen – genau wie beim Spielfilm.

Mit den Doku-Dramen im Fernsehen sind wir schon ziemlich nah an dem dran, was einem Reporter vorgeworfen wird, der Geschichten erfindet um Wahrheiten über ferne Personen und Gegenden zu berichten. Auch das Doku-Drama erfindet Handlungen, Dialoge, Protagonisten. Die Drehbuch-Autorin legt dem Schauspieler Worte in den Mund, die sie sich ausgedacht hat, um das Urteil des Experten über die Geschehnisse zu „belegen“. Auch die Experten erzählen Geschichten, sie reden nicht in trockenen Fakten, zählen nicht auf, was sie mehr oder weniger plausibel aus den Dokumenten rekonstruieren können. Sie „erwecken die Vergangenheit zum Leben“ – allerdings die Vergangenheit so, wie sie in ihren Augen jeweils gewesen sein könnte.

Genau besehen unterscheidet sich das, was der Reporter macht, nicht prinzipiell vom Prinzip des Doku-Dramas. Aus mehr oder weniger gesichertem indirekten Wissen und einigen Recherchen hat er Geschehnisse ersonnen, die seiner Meinung nach so gewesen sein könnten, und die „seine Wahrheit“ plausibel illustrieren konnten. Man könnte allenfalls einwenden, dass die wissenschaftlich arbeitenden Expertinnen und Forscher nach anerkannten Methoden zu ihren Urteilen über die historischen Wahrheiten gekommen sind – und dass ihnen die Geschichten, die sie sich dazu zusammen mit den Spielfilm-Autoren ausdenken, nur der populären Vermittlung dienen. Aber vom Reporter verlangt man eben nicht nur eine gut recherchierte Beurteilung einer Situation in einer Weltgegend, sondern auch, dass alle Details seiner Geschichte stimmen – was wir vom Doku-Drama über ferne Vergangenheiten merkwürdigerweise nicht verlangen.

Subjektivität der Wahrheit

Verständlicherweise haben wir ja auch ein tiefes Misstrauen gegen subjektive Wahrheiten. Wir müssen uns aber, das sollten die Beispiele der Spielfilme und der Doku-Dramen zeigen, eingestehen, dass wir oft und unkritisch bereit sind, subjektive Wahrheiten als Tatsachen zu akzeptieren, wenn sie uns nur plastisch und plausibel präsentiert werden. Wir wissen auch, dass auf diese Weise Vorurteile reproduziert werden – wenn die Geschichte so präsentiert wird, wie wir sie schon zuvor geglaubt haben, bestärkt uns die gut erzählte Geschichte, das gilt für das Leben von Künstlern wie Mercury und Gundermann ebenso wie für historische Ereignisse oder Geschehnisse in einer Kleinstadt im mittleren Westen der USA.

Wäre die Lösung nun, tatsächlich bei der so genannten „nackten Wahrheit“, den bloßen Fakten zu bleiben? Offenbar nicht. Wie schon das Spielfilm-Beispiel gezeigt hat, müssen immer ein paar wenige Fakten aus der Vielzahl möglicher und relevanter Fakten herausgesucht werden – und diese Auswahl trifft immer der Autor, der damit eben seine Geschichte, und nicht die Geschichte, erzählt. Ein Reporter kann sich etwa in einem Städtchen im mittleren Westen die zwei dümmsten Rassisten unter 1000 intelligenten und toleranten Bürgern suchen und mit denen ein Interview machen und sie ausführlich portraitieren. Das würde die Wahrheit über diese zwei Personen zeigen, aber nicht die Wahrheit über die Situation in dem Städtchen. Ein anderer Reporter könnte die 1000 anderen interviewen, und aus den vielen Einzelsplittern ein paar „typische Charaktere“ herausarbeiten, aus denen er eine konsistente Geschichte konstruiert, die plausibel und verständlich ist, die spannend ist und die Zuschauer berührt. Diese Geschichte wäre im konkreten hinsichtlich der dargestellten Personen nicht wahr, aber sie würde zumindest die subjektive Wahrheit des Reporters über das Städtchen, über die tatsächliche Stimmung dort, über die Leute erzählen.

Was wir erwarten sollen

Die Frage ist, welche Erwartungshaltung das Publikum hat, welchen Wahrheitsgehalt es erwartet und an welcher Wahrheit es interessiert ist. Die Beispiele haben gezeigt, dass Zuschauer und Leser womöglich mehr Tatsachen-Wahrheiten erwarten, als überhaupt möglich ist, und dass eine Fiktion von Wahrheit von denen, die Reportagen und Dokumentationen produzieren, als Antwort auf diese Erwartungen produziert wird. Das Publikum meint womöglich zum großen Teil, dass es möglich wäre, in einfachen, unterhaltsamen, wahren Einzelgeschichten die Wahrheit über eine ganze Situation zu erfahren und zu verstehen. Ganz davon abgesehen, dass es eine objektive, sichere Wahrheit über historische oder aktuellpolitische Situationen, die sich auf begrenztem Raum schildern umfassend darstellen lässt, nicht gibt, dürfte es auch selten möglich sein, diese auch noch in packenden, wahren und verständlichen Einzeltatsachen zu berichten.

Wenn nun in den nächsten Wochen womöglich weitere Fälle von Fälschung und Betrug im Journalismus ans Tageslicht kommen, muss die Diskussion nicht nur über die Verbesserung der Qualitätssicherung und Wahrhaftigkeit des journalistischen Betriebs gerichtet werden, sondern vielmehr darauf, was wir als Leser und Zuschauer von Geschichten erwarten, was wir wünschen. Und wir müssen lernen unseren kritischen Umgang mit journalistischen und künstlerischen Erzeugnissen, die immer eine Fiktion von Wahrheit produzieren, umgehen wollen.

Ich danke Wolfgang Scheida für das lange Gespräch, in dem sich einige der hier dargestellten Gedanken entwickelt haben, sowie Thomas Vašek für die kritische Durchsicht.

Jörg Phil Friedrich lebt in Münster und ist Philosoph. Sein „täglich Brot“ verdient er mit der Entwicklung von individuellen Apps und WebApps. Über seine philosophischen Projekte kann man sich auf seiner Webseite informieren.

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