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Reflexe #9: Kinder-Pflichten, Eltern-Sorgen

 

Was macht familiäre Beziehungen so einzigartig? Reflexe-Kolumnist Jörg Friedrich hat sich für die neue Folge Barbara Bleischs Thesen zur Verantwortungsbeziehung zwischen Eltern und Kindern angesehen. 

Philosophische Sammelbände, in denen mehrere Beträge verschiedener Autoren ein Thema aus unterschiedlichen Perspektiven untersuchen, haben einen besonderen Reiz. Als Leser kann man etwas tun, was den Autoren verwehrt bleibt: Man kann die verschiedenen Sichtweisen miteinander verbinden, man kann aus der Sicht des einen den Beitrag des anderen reflektieren.

Allerdings sind solche Beiträge oft an ein Fachpublikum gerichtet, sie zeigen einen Ausschnitt aus einer aktuellen akademischen Diskussion, und so ist dann auch die Sprache der Beiträge oft sehr formal, blutleer. Das macht das Lesen solcher Aufsätze besonders anstrengend.

Eine angenehme Ausnahme bildet der schmale Band »Alles relativ«, der von Mathias Lindenau und Marcel Meier Kressing gerade herausgegeben wurde und der vier anspruchsvolle, aber kurzweilige und verständliche Beiträge über »Ethische Orientierungen zwischen Beliebigkeit und Verantwortung« enthält. Wie für mich als Leser aus der Lektüre von zwei dieser Aufsätze in der Zusammenschau eine neue Erkenntnis entstanden ist, möchte ich in den nächsten beiden Folgen dieser Kolumne zeigen. Zuerst werde ich mich den Gedanken von Barbara Bleisch zuwenden, im August geht es dann um Susan Neimans Beitrag. Auf den ersten Blick haben beide nicht viel miteinander zu tun, aber wenn man genau hinsieht, gibt es einen interessanten Zusammenhang, der eine neue Perspektive auf den deutschen Umgang mit der Vergangenheit möglich macht.

Wie man philosophisch argumentiert

Barbara Bleisch hat sich in ihrem Beitrag mit den besonderen Verpflichtungen von erwachsenen Kindern gegenüber ihren Eltern beschäftigt. Relativieren sich diese Pflichten, zumal die Eltern-Kind-Kleinfamilie eine historisch junge Einrichtung ist, die sich gerade in alle Richtungen aufzulösen scheint? Oder gibt es eine besondere Beziehung zwischen Eltern und Kindern, vielleicht auch zwischen Geschwistern, die gar nicht aufgelöst werden kann und aus der sich besondere moralische Pflichten herleiten?

Der Beitrag der Philosophin ist nicht nur hinsichtlich der entwickelten Thesen und ihrer Begründungen interessant, er demonstriert auch sehr schön, wie eine saubere und systematische philosophische Argumentation aussieht. Zuerst zeigt Bleisch, dass das Problem, welches sie diskutieren will, wirklich existiert. Sie macht das nicht empirisch, denn Empirie ist nicht das Feld der Begründungen in der Philosophie. Das mag für viele merkwürdig klingen, heute, wo man doch alles mit Fakten, am besten mit Statistiken belegen soll. Aber die philosophische Begründung ist der Empirie vorgelagert. Sie fragt ja, wie die empirische Fragestellung überhaupt möglich und verständlich, warum sie überhaupt bedeutsam wird. Ob sich Kinder heute weniger um ihre Eltern kümmern als früher, ob sie sich heute weniger verantwortlich fühlen, das ist eine empirische Frage, da kann man Befragungen und Erhebungen machen und Statistiken zusammenrechnen. Aber ob es diese Verantwortung überhaupt gibt und worin sie besteht, was es bedeutet, wenn wir von dieser Verantwortung reden, darüber kann uns keine Empirie Aufschluss geben, das ist eine Frage des philosophischen Nachdenkens.

Obwohl also philosophisches Fragen keine Empirie braucht, knüpft sie doch explizit an die Erfahrung von Autorin und Leser an. Das heißt im Falle der Verpflichtungen von Kindern gegenüber Eltern, dass Bleisch im nächsten Schritt verschiedene Ansätze beschreibt, diese Verpflichtung zu begründen und diese Ansätze auf ihre Konsequenzen hin abklopft – und das, indem sie zeigt, dass bestimmte Konsequenzen aus Sicht der Erfahrung unbefriedigend oder absurd sind. Ein Beispiel: Zunächst beschreibt sie das Schuldner-Modell, das sich schon von Aristoteles herleitet und das kurz gesagt besagt, dass die Kinder sozusagen Schulden bei ihren Eltern haben, weil diese so viel für die Kinder getan haben. Das mag zunächst plausibel klingen, ist es aber nicht, wenn wir genauer darüber nachdenken. Schulden kann man abtragen, sie haben einen bestimmten Wert. Es müsste also einen Moment geben können, in dem die Schuld eines Kinders gegen die Eltern getilgt ist. An irgendeinem Tag sagt die Tochter zu ihrer alten Mutter: So, ich hab dich jetzt soundso oft besucht, damit ist meine Schuld getilgt, ich komme nun nicht mehr. Klingt absurd und ist es auch.

Kinder haben keine Schulden

Hinzu kommt, dass Schulden eigentlich nur entstehen, wenn man den anderen um einen Dienst gebeten hat. Kinder werden aber von ihren Eltern betreut und großgezogen, ohne dass sie das gewünscht hätten. Oft erbringen Eltern ja sogar Leistungen, die die Kinder explizit nicht wünschen. Es mag sein, dass die erwachsen gewordene Tochter irgendwann sagt, dass es doch gut war, was die Mutter da getan hat, es kann aber auch sein, dass sie auch später gern auf die eine oder andere Leistung verzichtet hätte. Dadurch sinkt aber nicht die Verantwortung, die sie gegen ihre Mutter und ihren Vater verspürt.

So zeigt Bleisch, dass das Schulden-Modell untauglich ist, um die Verantwortung des Kindes gegen seine Eltern zu verstehen, und sie zeigt gleichzeitig wie man philosophisch argumentiert, indem man an die eigenen Erfahrungen und die der Leser reflektierend anknüpft und sozusagen einen generellen Erfahrungs-Konsens aufbaut und stabilisiert. Dabei können die gefundenen Einsichten natürlich immer wieder auf ihre Voraussetzungen hin befragt und in ihrer Plausibilität kritisch bewertet werden. Dabei werden Thesen nicht als falsch widerlegt, es wird lediglich gezeigt, wo sie unplausibel sind, wo sie Probleme in der Erklärungskraft und der Beschreibungsleistung unseres Erlebens haben – und warum das Bedürfnis entsteht, diesen Ansätzen einen neuen entgegenzusetzen, der die aufgezeigten Schwierigkeiten nicht hat.

Barbara Bleisch entwickelt einen solchen Ansatz, indem sie dem Schulden-Dankbarkeits-Modell, das sie als transaktionales bezeichnet, ein Beziehungsmodell, ein relationales entgegensetzt. Was geschieht, wenn Menschen miteinander Beziehungen eingehen? Bleisch untersucht das zunächst am Beispiel der Freundschaft, von der sie sagt, dass das Gefühl, einander verpflichtet zu sein, geradezu Voraussetzung der Beziehung ist. Vor ein paar Monaten hatte uns die Freundschaft in dieser Kolumne schon einmal beschäftigt, als wir über »Neue Freunde« von Björn Vedder reflektiert haben. Mit den Worten von Barbara Bleisch könnten wir nur sagen, dass Vedder dort ein transaktionales Modell der Freundschaft entwickelt und erst am Ende die relationalen Strukturen jeder Freundschaft entdeckt hat. Sie meint, dass jeder, der Freundschaft als Folge von Transaktionen versteht, den Sinn der Freundschaft nicht verstanden hat – und dem ist zuzustimmen.

Beispiel Freundschaft

Kurz gesagt entsteht die Freundschaft als Relation darin, dass wir in der Freundschaft einen Wissensvorsprung gegenüber dritten erwerben, dass wir uns auf den anderen verlassen können, und letztlich, dass wir uns dem anderen emotional ausliefern. Die drei Aspekte gehören zusammen und bedingen sich wechselseitig, das entwickelt Bleisch sehr schön und das sollte man bei ihr selbst nachlesen. Wichtig ist, dass daraus eine besondere Verletzlichkeit bei den Freunden entsteht: Wir sind verletzt, wenn vertrauliches Wissen ausgeplaudert wird, wir sind verletzt, wenn wir uns auf Rituale und Traditionen nicht mehr verlassen können, und wir sind verletzt, wenn die Freundin unser emotionale Zuneigung nicht mehr teilt.

Das gilt, sagt Barbara Bleisch, noch mehr für die Familie als für die Freundschaft. Denn wenn eine Freundschaft zerbricht, dann gibt es immer die Möglichkeit, neue Freunde zu finden. Eine neue Mutter oder einen neuen Sohn werden wir aber nicht irgendwo finden können. Verliert man, weil man fortzieht, eine Freundin aus den Augen, weiß man doch, dass es dort, wo man hinzieht, auch Menschen geben wird, denen wir unser Vertrauen und unsere Zuneigung schenken können. Neue Eltern finden wir dort jedoch nicht.

Wegen dieser Unersetzbarkeit der Familie und wegen der besonderen Stärke der Relation haben wir also für diese Relation auch eine besondere Verpflichtung, ergibt sich eine besondere Verantwortung für den Erhalt der Nähe zu den Eltern und Geschwistern.

Das ist plausibel und doch irgendwie unbefriedigend. Denn es läuft ja darauf hinaus, dass Familienbeziehungen nicht mehr als besonders feste Freundschaften sind. Und irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass die Auflösbarkeit der Freundschaft dann eben doch die Auflösbarkeit der Familienbeziehung impliziert, und dass alle Pflicht und Verantwortung, auch den Eltern gegenüber, dann eben doch endlich ist. Mag es zwar, so könnte man mit Barbara Bleisch vermuten, besonders schwierig sein, sich von den Eltern emotional zu trennen, so ist es doch nicht unmöglich. Und das scheint mir dann doch nicht mit aller denkbaren Erfahrung vereinbar.

Mir scheint allerdings, dass das relationale Modell, das die Philosophin entwirft, eine gute Basis für das weitere Nachdenken über die Unauflösbarkeit des familiären Bandes ist. Sie ist insbesondere geeignet, auch komplexere Familienbeziehungen in Patchwork-Familien abzubilden. Sie zeigt auch, dass Verpflichtung in der Familie eben keine Einbahnstraße von den Kindern zu den Eltern ist, sondern dass auch Eltern eine Verantwortung für den Erhalt ihrer Beziehung zu den Kindern, und der Kinder zueinander, haben.

Vielleicht müsste man, um damit die Verantwortungen und die Verpflichtungen in der Familie genauer verstehen zu können, zunächst differenzieren zwischen Verantwortung, Verpflichtung, und Pflicht. Barbara Bleisch verwendet diese Begriffe synonym, aber die meisten Menschen werden wohl sagen, dass es da große Bedeutungsunterschiede gibt. Das können wir hier nicht entwickeln.

Auf jeden Fall aber ist, wenn wir in uns hineinhören, eine Differenz da zwischen Freundschaft und Familie, die nicht nur graduell ist, sondern die geradezu wie ein Abgrund wirkt. Etwas in uns lässt sich nicht beruhigen, wenn es um die Eltern geht. Über jedes Ende einer Freundschaft kommen wir irgendwann hinweg, egal, wie sehr wir verletzt worden sind. Selbst das Ende einer langen Liebesbeziehung werden wir irgendwann verkraften und verschmerzen, die Texte der Popmusik sind voll davon. Aber das Ende einer Beziehung zu den Kindern oder den Eltern kann nicht verwunden werden. Immer bleibt eine Sehnsucht, es wieder zu heilen, und wenn es bis an das Lebensende des Anderen nicht gelingt, bleibt ein Schmerz, der nicht gestillt werden kann.

Jörg Friedrich lebt in Münster und ist Philosoph und IT-Unternehmer. Er schreibt und spricht vor allem über technik-und wissenschaftsphilosophische Themen und Fragen der praktischen Philosophie (Ethik, politische Philosophie, philosophische Ästhetik). In seiner monatlichen Kolumne »Reflexe« reflektiert er über einen aktuellen philosophischen Ansatz und lädt zum kritischen Weiterdenken ein.

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