Die Logik- und Rhetorik-Kolumne von Daniel-Pascal Zorn. Heute: Die Übergriffe von Köln – Relativierung, Tu-quoque und der doppelte Standard
Die Übergriffe der Silvesternacht in Köln haben eine breite gesellschaftliche Debatte entfacht. Wie jede Debatte ist sie aber nicht frei von argumentationslogischen Fallstricken. Hinzukommt, dass sie stark emotional und politisch aufgeladen ist, so dass jeder Kommentar dazu sich mittlerweile in einer Art diskursivem Minenfeld bewegt.
So wird zwar darauf hingewiesen, dass eine identitär verstandene ‚Kultur‘ nicht ausreicht, um die Ursachen für die Taten zu erklären. Andere merken den Umstand an, dass die Empörung der Silvesternacht sich überhaupt nicht mit derjenigen deckt, die anlässlich anderer Meldungen sexueller Übergriffe, etwa beim Oktoberfest, geäußert wird. Zum Teil sind es sogar dieselben Protagonisten, die bislang die Schuld für sexuelle Übergriffe eher bei den Frauen selbst vermuteten, die sich jetzt selbst zu Vorreitern der Sexismus-Bekämpfung stilisieren.
Solchen Hinweisen – wie der Bitte um Differenzierung möglicher Ursachen oder dem Verweis auf das Oktoberfest – wird der Vorwurf gemacht, dass sie die Ereignisse ‚relativieren‘ wollen, sie ‚kleinreden‘ und ‚beschönigen‘. Aber ist das der Fall? Verharmlost man die Übergriffe von Köln automatisch, wenn man sie mit sexueller Gewalt auf dem Oktoberfest vergleicht?
Klar erkennbar sind jedenfalls in so manchen Abwehrhaltungen gegen Versachlichung der Debatte die Mechanismen des Bestätigungsfehlers. Ironischerweise wirft man aus dieser Perspektive dann gerne ‚Gutmenschentum‘ und ‚Schweigespiralen‘ denjenigen vor, die die eigene undifferenzierte moralische Empörung nicht teilen wollen und die entgegen der Verschweigung komplexer Ursachen zugunsten einfacher Erklärungen auf sachlicher Klärung beharren.
Klar erkennbar ist aber andererseits auch ein ernsthaftes Interesse daran, insbesondere die sexuelle Gewalt von Köln nicht in der Menge gleichartiger Fälle untergehen zu lassen. Auch deswegen muss aber der Vorwurf der ‚Relativierung‘ genauer unter die Lupe genommen werden. Denn nicht jede Einordnung versucht, die Übergriffe in Köln weniger schlimm erscheinen zu lassen.
Die Relativierung
Inwiefern liegt bei dem Hinweis auf das Oktoberfest (oder den Kölner Karneval) eine ‚Relativierung‘ vor?
Der Vorwurf der ‚Relativierung‘ ist nur dann sinnvoll, wenn er einen Fehlschluss anmerkt. Er darf nicht dazu führen, dass man Ereignisse gar nicht mehr in Verbindung bringen kann. ‚Relativierung‘ ist dann ein korrekter Vorwurf, wenn z. B. aus dem bloßen Vergleich ein wertender Schluss gezogen wird: „Das ist auf dem Oktoberfest auch passiert, also ist es in Köln nicht so schlimm“ – das wäre eine Relativierung hinsichtlich der Schwere der Schuld, die deswegen Unsinn ist, weil die bloße Menge an Straftaten diese Taten nicht normalisiert. „Das ist auf dem Oktoberfest auch passiert, also hat es nichts mit der Kultur der Täter zu tun“ – das wäre eine Relativierung insofern, als dass ein bloßer Vergleich natürlich nicht den vollständigen Ausschluss kultureller Ursachen rechtfertigt.
Das Tu-quoque-Argument
Neben dem Vorwurf der ‚Relativierung‘ könnte man dem, der das Oktoberfest anführt, auch den Vorwurf machen, er würde Kritik mit Gegenkritik beantworten. Diese Form der Argumentation nennt man Tu-quoque-Argument, von lat. ‚tu quoque‘, ‚Du auch‘. Dieses Argument kennt jeder von uns: Als Kinder haben wir vielleicht Vorwürfe mit ‚selber!‘ beantwortet und in einem Beziehungsstreit beantworten wir auch als Erwachsene noch manchmal Vorwürfe mit Gegenvorwürfen.
Weil wir solche Gegenvorwürfe oft mit den Worten „Und was ist mit …?“ einleiten, heißt eine Form des Tu-quoque-Arguments auch ‚Whataboutism‘. Sie ist besonders beliebt als politisches Ablenkungsmanöver, wenn auf Kritik mit dem Hinweis auf einen Missstand im kritisierenden Lager hingewiesen wird. Im Kalten Krieg nutzte vor allem die Sowjetunion dieses Manöver: Kritik der USA an Menschenrechtsverletzungen konterte sie regelmäßig z. B. mit dem Hinweis auf den US-amerikanischen Rassismus.
Aus Diskussionen mit Leuten, die in einem dogmatischen Fehlschluss oder einem Bestätigungsfehler festsitzen, kennt man schließlich auch die Forderung, der Kritiker einer Behauptung solle beweisen, dass die Behauptung falsch ist. Da die Pflicht zur Begründung oder zum Beweis einer Behauptung, die ‚Beweislast‘, aber stets beim Behauptenden und nicht beim Kritiker liegt, handelt es sich bei dieser Form von Tu-quoque-Argument um eine ‚Beweislastumkehr‘. Dem Kritiker wird die eigene Pflicht aufgebürdet.
Der Fehlschluss in diesem Argument liegt darin, dass wir versuchen, dasselbe Argument zu ignorieren und anzuwenden. Wir ignorieren die Kritik des Anderen – und fordern von ihm, unsere Kritik zu akzeptieren. Und das funktioniert nicht, weil es unterschiedliche Maßstäbe an die einzelnen Gesprächspartner anlegt.
Wer also die Silvesternacht in Köln mit dem Hinweis auf das Oktoberfest quittiert, ohne – und das ist zentral – die Kritik an den dortigen Tätern anzuerkennen, der begeht einen Tu-quoque-Fehlschluss. Denn in einem solchen Hinweis hat er versucht, von den Taten in Köln abzulenken und den Blick auf die Taten am Oktoberfest zu lenken.
Der doppelte Standard
Anders liegt der Fall aber, wenn man die Kritik an den Übergriffen in Köln explizit anerkennt, dann aber darauf verweist, dass diejenigen, die jetzt scharfe Urteile über Köln fällen, in ähnlichen Fällen ganz anders gehandelt haben. Dadurch werden die Taten weder ‚relativiert‘ – denn sie werden ja, auch in ihrer Schwere, explizit anerkannt – noch liegt ein Tu-quoque-Argument vor. Vielmehr handelt es sich um einen Vorwurf des doppelten Standards: Wer gleichartige Ereignisse in derselben Hinsicht mal mit dem Standard A und mal mit dem Standard B beurteilt, dessen Urteil ist unglaubwürdig. Ein Beispiel für einen doppelten Standard ist etwa die Entrüstung von Birgit Kelle, die die „sexuelle Gewalt gegen Frauen“ in Köln anprangert, während sie deutschen Frauen rät, die sich über sexuelle Anzüglichkeiten und Übergriffe beschweren, „Dann mach doch die Bluse zu“.
Die Diskussion über die Übergriffe von Köln eignet sich also hervorragend, um aus ihr zu lernen: Wenn wir uns der Gefahr solcher Fehlschlüsse bewusst sind, können wir solche Diskussionen – gerade wenn sie emotional und politisch aufgeladen sind – produktiver führen.
Sie führt auch vor Augen, dass der Tu-quoque-Fehlschluss eine schwer zu beherrschende Strategie ist: Wer hier anderen ‚Gutmenschen‘-Moralismus vorwirft, verlangt gleichzeitig, dass der eigene Moralismus absolute Geltung besitzen muss. Wer sich jetzt auf die Seite der Frauenrechte und gegen Sexismus positioniert, als hätte er es immer schon getan, der tut gut daran, es auch immer schon getan zu haben. Und wer denselben „Aufschrei“ angesichts sexueller Gewalt einfordert, den er vorher ein ums andere Mal lächerlich gemacht hat, der versucht im Vorwurf der Doppelmoral nur von der eigenen abzulenken.
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