Logik-Kolumne von Daniel-Pascal Zorn. Heute: Der mereologische Fehlschluss
Vor etwas mehr als zehn Jahren brachten einige Neurowissenschaftler die Fachwelt mit der Aussage zum Staunen, dass alles, was man bis dato dem ‚Menschen‘, dem ‚Subjekt‘ oder dem ‚Geist‘ zuzurechnen gewohnt war, eigentlich vom ‚Gehirn‘ als Akteur durchgeführt wurde. Es sei das Gehirn, das nachts um zehn noch ein Bier bestellt oder das sich an der bunten Vielfalt einer Blumenwiese erfreut. Das Gehirn würde handeln, wahrnehmen, fühlen, entscheiden – und manches davon sogar ohne unser Wissen.
Was diese Neurowissenschaftler in dem, was man heute einen wissenschaftlichen ‚Hype‘ nennen konnte, in solchen Sprechweisen taten? Sie übertrugen Eigenschaften und Fähigkeiten, die wir ganzen Personen – mit schlagenden Herzen und unbeschädigten Gehirnen, aber auch ohne Mangel an Urteilskraft und der Eigenart, sich zu sich als sich verhalten zu können – zuschreiben, auf einen Teil dieser Menschen: das Gehirn. Sie erklärten eine mögliche Hinsicht auf den Menschen zur einzig möglichen Hinsicht, indem sie dem Konzept ‚Gehirn‘ erlaubten, nach und nach alle anderen Ausdrücke für einen Agenten – also ‚Subjekt‘, ‚Mensch‘, ‚Ich‘, ‚Geist‘, ‚Bewusstsein‘ usw. – als vermeintlich grundlegendste Perspektive in sich aufzunehmen.
Der Grund dafür lag (und liegt) darin, dass das Gehirn zwar eine notwendige und materiale Bedingung dafür ist, dass wir uns mit der Welt und eben auch: mit dem Gehirn gedanklich befassen können. Das konkrete Denken, darunter das logische, ist immer schon korrelativ mit der Existenz eines funktionierenden Gehirns verbunden. Daraus folgt aber keineswegs, dass das Gehirn das Denken im Sinne eines einfachen kausalen Determinismus verursacht oder dass, was wir ‚Denken‘ nennen, als Illusion einer Wirklichkeit, die wir ‚Gehirn‘ nennen, gegenüberstehen würde. Das Gehirn macht etwas möglich – aber was es möglich macht, ist nicht wieder nur das Gehirn, sondern ist das, was wir als Erleben, Wahrnehmen und Denken ganzer Personen begreifen können. Wozu auch das wissenschaftliche Erleben, Wahrnehmen und Denken von Personen gehört, die z. B. neurowissenschaftliche Thesen über das Gehirn aufstellen.
Der mereologische Fehlschluss – von griechisch ‚méros‘, ‚Teil‘ – ergibt sich immer dann, wenn von den Eigenschaften eines Ganzen ohne prüfenden Nachweis des Sachverhalts auf die Eigenschaften von Teilen dieses Ganzen geschlossen wird. Oder wenn von den Eigenschaften von Teilen eines Ganzen ohne einen solchen Nachweis auf das Ganze geschlossen wird.
Wir sehen einen weißen Schwan und ziehen die Schlussfolgerung, dass, weil dieser Schwan weiß ist, auch alle anderen Schwäne weiß sein müssen. Wir machen eine schlechte Erfahrung mit einem Menschen mit bestimmten Eigenschaften, z. B. roten Haaren, und denken dann, dass wir mit allen Rothaarigen schlechte Erfahrungen machen werden. Um diesen Fehlschluss im Grundprinzip zu verstehen, müssen wir uns gar nicht in neurowissenschaftliche Debatten vertiefen. Wir brauchen nur einen Blick in die gegenwärtigen Diskussionen über Flüchtlinge und Einwanderer werfen: Regelmäßig werden einzelne Fälle krimineller Handlungen präsentiert, die ‚beweisen‘ sollen, dass uns von dieser oder jener Menschengruppe, ‚den Nordafrikanern‘, ‚den Albanern‘ oder gleich ‚den Flüchtlingen‘ im Gesamten Unheil droht. Der mereologische Fehlschluss, der Schluss vom Teil auf das Ganze, gehört zur Grundausstattung populistischer Rede. Sie ist es denn auch, die von vornherein ausschließt, es könne sich um ‚bedauerliche Einzelfälle‘ handeln. Denn für sie stehen die Schuldigen von vornherein fest.
Rhetorisch wird der mereologische Fehlschluss, neben der unzulässigen Verallgemeinerung, vor allem in sogenannten extremen Beispielen (‚extreme examples‘) gebraucht. Gegenwärtig findet man solche Beispiele vor allem in der Diskussion darum, ob der Islam an sich eine ‚gefährliche Religion‘ sei, ob Muslime mit einem ‚kulturellen Programm‘ ausgestattet seien, dessen sie sich am Ende doch nicht erwehren können und ob also mit der Einwanderung von Muslimen nach Deutschland notwendig auch Gewalt in unser Land einwandert. Als Belege werden typischerweise mereologische Fehlschlüsse aufgerufen: Als typische Beispiele muslimischer Länder werden Saudi-Arabien oder der Iran genannt; als typische Beispiele muslimischer Religionsausübung verschiedene Spielarten des Islamismus bis hin zum Terrorismus. Der ‚Islamkritiker‘ übt sich – wie die von ihm als abschreckendes typisches Beispiel gewählten religiösen Fundamentalisten – in wörtlicher Koranauslegung, die er dann allen anderen Muslimen als das Gesetz vorwirft, dem sie nicht nur folgen müssen, sondern – seien wir ehrlich! – auch insgeheim folgen wollen.
Der Fehlschluss versucht, den Horizont verfügbarer Informationen von Anfang an zu verkleinern.
Aber, wie ein englisches Sprichwort sagt: Extreme examples make bad rules, oder auch: Hard cases make bad law. Der Denkfehler des mereologischen Fehlschlusses liegt darin, dass von vornherein davon ausgegangen wird, dass sich das genannte Beispiel dazu eignet, stellvertretend für eine Regel oder ein Gesetz zu stehen. Der Fehlschluss versucht, den Horizont der verfügbaren Information von Anfang an zu verkleinern und so die Realität den eigenen Vorstellungen anzupassen. Deswegen findet er sich oft auch im Zusammenhang mit der Confirmation Bias oder dem Slippery-Slope-Argument.
Der mereologische Fehlschluss gehört – wie viele andere Fehlschlüsse auch – zu den rhetorischen Figuren, die wir in machen Kontexten vollkommen absurd finden, denen wir in anderen Kontexten aber jederzeit zustimmen würden oder die wir sogar selbst einsetzen. In einfachen Syllogismen können wir uns jederzeit davon überzeugen, zu welchen absurden Folgen der Fehlschluss führen kann:
(1) Alle Münsteraner Studenten zusammen essen eine Menge Eis. (2) Susi ist eine Münsteraner Studentin. (3) Also isst Susi eine Menge Eis.
(1a) Ein islamistischer Terrorist ermordet Menschen, weil er glaubt, dass der Koran es ihm befiehlt und (1b) Der islamistische Terrorist betrachtet sich als Muslim. (2) Süleyman, der Gemüsehändler, betrachtet sich auch als Muslim. (3) Also wird Süleyman Menschen ermorden, weil er glaubt, dass der Koran es ihm befiehlt.
Ein fanatischer Evangelikaler aus Baden-Württemberg hält die Evolution für eine Erfindung des Teufels. (1) Der fanatische Evangelikale betrachtet sich als Christ. (2) Peter Müller, Biologielehrer in der 10a des örtlichen Gymnasiums, betrachtet sich auch als Christ. (3) Peter Müller hält die Evolution für eine Erfindung des Teufels.
Jeder kann weitere, mehr oder minder absurde, Beispiele dafür geben, warum mereologische Fehlschlüsse nicht funktionieren. Ein noch so großer Anteil von Intensivtätern mit Migrationshintergrund wird nicht ausreichen, um aus der Intensivtäterschaft dieser Einzelnen eine Eigenschaft für alle Menschen mit Migrationshintergrund abzuleiten. Weil es eben auch noch dutzende andere Gründe und Ursachen gibt, dutzende Kontexte, Situationen und persönliche Geschichten, die alle ausgeblendet werden müssen, damit dieser eine Zusammenhang als wesentlich erscheint.
Mehr noch als bei den anderen Fehlschlüssen, die ich bisher behandelt habe, ist das Kriterium der prüfende und für alle anderen prüfbare Nachweis einer wesentlichen Beziehung. Behauptet man diese Beziehung für einen Gegenstandsbereich, der ‚Alles‘ oder das ‚Ganze‘ einschließt, muss man es auch für ‚Alle‘ oder das ‚Ganze‘ beweisen.
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