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Die Hydra des Terrors. Carl Schmitt als Autor der Stunde?

Reinhard Mehring ist Politikwissenschaftler an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Er schreibt hier darüber, was es bedeutet, wenn angesichts der tragischen Ereignisse von Paris vom „Ausnahmezustand“ gesprochen wird.

In diesen Tagen nach dem schwarzen Freitag vom 13. November 2015 erklingt an manchen Gedächtnisorten die hymnische Hippieutopie „Imagine“ von John Lennon. Man muss erinnern, dass das Lied über 40 Jahre alt ist und John Lennon erschossen wurde. „Imagine there’s no countries / It isn’t hard to do / Nothing to kill or die for / And no religion too / Imagine all the people living life in peace“. Das alte Lied ist heute ein sentimentaler Abgesang aus der Welt von gestern. Staatszerfall und offene Außengrenzen sehen wir heute anders, Staat und Religion schließen sich nicht mehr anarchistisch kurz. Die Politik wagt sich wieder an eine andere Rhetorik: Man spricht von Ausnahmezustand und Krieg.

Reinhard Mehring, Heidelberg

Reinhard Mehring, Heidelberg

Am 24. August 2015 erklärte die Bundeskanzlerin an der Seite des französischen Staatspräsidenten Hollande zur Flüchtlingskrise nach fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Heidenau: „Es gibt Momente in der europäischen Geschichte, wo wir vor außergewöhnlichen Situationen stehen. Heute ist das so eine außergewöhnliche Situation, aber eine außergewöhnliche Situation, die anhalten wird, so lange die Krisen nicht gelöst sind. Wir sollten nicht warten und nicht nur Tag für Tag versuchen, diese Situation zu handhaben. Wir müssen uns organisieren und unsere Politik absprechen. Das schlagen Deutschland und Frankreich vor.“ Der Rekurs auf den Ausnahmezustand ist hier in epiphanischer Rede oder Semantik der Eventkultur als „außergewöhnliche Situation“ euphemistisch verschleiert; die beiläufige Rede von einer „anhaltenden“ Situation oder Perpetuierung des Ausnahmezustands aber klingt bereits leicht drohend. Es wird nur von Politik gesprochen, nicht vom Recht, und Kerneuropa, das in letzter Zeit nur zu oft kerngespalten war, strandet gerade als Motor der Europäisierung erneut überall an mangelnder europäischer Solidarität. Die letzten Monate und Wochen haben die Tonlage der „Willkommenskultur“ auch längst verstimmt. Die Asylverfahren wurden „beschleunigt“ und die Pragmatik des Krisenmanagements zerschellt an den Ausmaßen der Herausforderungen. Die Vorboten neuer Völkerwanderungen sind da. Bürgerkriege und Klimakatastrophen scheinen heute in der „Festung Europa“ definitiv anzukommen. Die „neuen Kriege“ brechen in der Mitte der Gesellschaft und an den Rändern aus. Nach den Pariser Attentaten hat Frankreich förmlich den Ausnahmezustand erklärt und seine militärischen Einsätze in Syrien intensiviert. Der Staatspräsident spricht offen vom „Krieg“. Selbst das Wort vom „Guerre totale“ scheuen manche Politiker nicht mehr.

Lieder des Gedenkens gehören zur Trauerarbeit einer Gesellschaft. Den großen Gefühlen müssen aber klare Antworten folgen. Man spricht nicht leichtfertig vom Ausnahmezustand und Krieg. Jeder Kampfbegriff hat in der Welt der Politik seine Folgen. Versucht man die Antworten zu klären, so ist die juristische Rede vom „Ausnahmezustand“ vor allem mit dem Namen Carl Schmitt (1888-1985) verbunden, des „Kronjuristen“ des Weimarer Präsidialsystems und des Nationalsozialismus. Schon dessen erste größere juristische Publikationen widmeten sich den korrelierenden Themen von Diktatur und Ausnahmezustand. Es gibt Normalzustände und Ausnahmezustände, meinte Schmitt; mit der förmlichen Erklärung des Ausnahmezustands suspendieren Verfassungsstaaten bestimmte Rechte: vor allem einzelne liberale Grundrechte wie Versammlungsfreiheit und Postgeheimnis. Polizeiliche Maßnahmen und justizielle Verfahren werden „vereinfacht“ und radikalisiert. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Schmitt analysierte die Erosion des „bürgerlichen Rechtsstaats“ und den Umbau einer liberaldemokratischen Verfassung in die „kommissarische Diktatur“ des Präsidialsystems und später die „souveräne Diktatur“ des nationalsozialistischen Leviathan. Der aktive Nihilist sprang dabei 1933 aus der Analyse in die Affirmation. Was fällt, soll man stoßen?

Die Politik propagiert heute optimistische Siegesparolen. „Unsere“ Freiheit und Lebensform werde siegen. Solches Wunschdenken ist nicht angebracht. Im Zielkonflikt von „Freiheit“ und „Sicherheit“ erodiert der Primat der Sicherheit längst die liberalen Freiheiten. Das Niveau der Überwachung wird vorerst nicht zurückgeschraubt werden, wenn es überhaupt einen Souverän und ein Auge des Leviathan gibt, und der Verfassungsstandard ist vollends perdu, wenn Sonntagsreden oder auch Volkstrauerreden die konkreten Maßnahmen verklären und verschleiern. Der Kampf gegen den Terror ändert die Verhältnisse. Auch an der Pragmatik elementarer Grundrechte wird geschraubt. Asylrecht und Glaubens- und Gewissensfreiheit, um nur die zu nennen, werden faktisch eingeschränkt.

Die neuzeitliche säkulare Staatlichkeit, lehrte Carl Schmitt, ist eine Antwort auf die konfessionellen Bürgerkriege der frühen Neuzeit. Der Staat entmachtete die Kirchen und neutralisierte die Konfliktpotentiale, indem er den Glauben privatisierte und aus dem öffentlichen Raum verwies. Die europäische Aufklärung begann mit einer radikalen Religionskritik, deren Waffe die philologische Bibelkritik wurde. Vom historischen Jesus blieb da schon Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr viel übrig. Der Kampf um die Glaubensfreiheit muss heute erneut die offensive Auseinandersetzung mit den Weltreligionen suchen. Mit dem Mauerfall endete der Windschatten der alten Bundesrepublik. Wenn auf den erklärten Ausnahmezustand nicht europäische Bürgerkriege folgen sollen, ist die Form des säkularen Verfassungsstaates ohne rhetorischen Schleier und alte Illusionen neu zu bedenken.

[1] www.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2015/08/2015-08-24-pressestatements-merkel-hollande.html

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