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HOHE LUFTpost – Gotteslästerung heute und damals

HOHE LUFTpost vom 23.01.15: Gotteslästerung heute und damals

Es ist leicht, sich fortschrittlich zu fühlen angesichts der Proteste von Millionen Menschen weltweit – und nicht nur Muslimen – gegen die neuerlichen Mohammed-Zeichnungen in Charlie Hebdo. Haben die noch immer nicht verstanden, dass die Zeiten unangreifbarer Religionen vorbei sind?

Dabei sollte man allerdings nicht vergessen, dass diese Zeiten auch bei uns noch nicht so lang her sind. In den 1960er Jahren brachte die in München gegründete Künstlergruppe SPUR eine Zeitschrift heraus, deren Zeichnungen und Texte weitaus harmloser waren als Charlie Hebdo. Die Ausgabe Nr. 6 geriet in die Hände von Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI. Er nahm Anstoß an Sätzen wie »Christi agfacoloreskes Blut beschmutzt meinen Anzug« und erstatte Anzeige. Die Gerichte folgten ihm in mehreren Instanzen und verurteilten die Künstler wegen »Gotteslästerung und Pornographie« zu Gefängnisstrafen. In solchen Sätzen trete »die Verhöhnung Christi klar zu Tage«. Noch 1975 lehnte das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde der SPUR ab – obwohl das Grundgesetz die Freiheit der Kunst als ein besonders hohes Gut schützt.
Heute hängen Werke der SPUR-Künstler in der Londoner Tate Gallery und im New Yorker Museum of Modern Art. Aber nicht im Münchner Haus der Kunst. Dort haben sie bis heute Ausstellungsverbot. Auch die offiziell verordnete Schwärzung der SPUR 6 wurde bisher nicht aufgehoben.
Die Ära der Toleranz, in der wir heute leben, ist jung, sie begann eigentlich erst in den 1990er Jahren, als es nicht mehr nur um Religion ging, sondern auch um Ethnien, Kulturen, Lebensformen und sexuelle Orientierungen. Und offenbar gibt es Leute, die würden sie gern schon wieder beenden. Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo kamen Forderungen aus dem Bundestag, den Blasphemie-Paragraphen wieder zu verschärfen. Ich hoffe, dass wir großzügig bleiben, und die Künstler aufmüpfig.

– Tobias Hürter 

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