HOHE LUFTpost vom 20.03.15: Die Philosophie des Pieks
Die Masern gehen um in Deutschland, dieses Jahr sind es schon über tausend Fälle. Eigentlich wollten die Gesundheitsbehörden diese besonders ansteckende Krankheit bereits ausgerottet haben, doch stattdessen folgt eine Infektionswelle auf die andere. Dahinter steckt ein Glaubensstreit: Impfbefürworter gegen Impfgegner.
Experten sagen entschieden, dass die guten Wirkungen der Masernimpfung die schlechten überwiegen. Die Nebenwirkungen sind meist leicht und folgenlos. Todesfälle durch Masernimpfung gibt es so gut wie gar nicht. Hingegen sterben weltweit pro Tag 400 Kinder an Masern.
Doch es gibt eine Asymmetrie zwischen den Nebenwirkungen einer Impfung und den Folgen der Krankheit – eine Asymmetrie, die diese Zahlen offenbar in manchen Köpfen verblassen lässt. Man versetze sich in Eltern, die ihr Kind zum Impfen gebracht haben. Nun leidet es unter seltenen Nebenwirkungen. Dann fühlen sich diese Eltern womöglich eher schuldig als andere Eltern, deren ungeimpftes Kind unter den Masern leidet. Die einen Eltern sind aktiv geworden, die anderen haben »nur« etwas unterlassen: Wir waren das nicht, es waren die Masern.
Meine Vermutung ist: Diese Asymmetrie trägt dazu bei, dass die Schauergeschichten über das Impfen von manchen Menschen ernster genommen werden als die Zahlen. Aber die Asymmetrie täuscht. Durch Unterlassung kann man sich ebenso schuldig machen wie durch Handeln.
– Tobias Hürter