HOHE LUFTpost vom 13.02.15: Der Witz an der Vergebung
Welche Fähigkeit schätzen Sie am meisten an Ihren Mitmenschen? Eine Bekannte stellte mir diese Frage letzthin. Ich hörte mich selbst antworten: »Die Fähigkeit, zu vergeben«. Natürlich verlangte sie eine Begründung. Nun musste ich nachdenken.
Was bedeutet es überhaupt, jemandem etwas zu vergeben? Zunächst einmal etwas anderes, als etwas zu entschuldigen. Vergebung beginnt erst dort, wo es keine Entschuldigung mehr gibt. Wer jemandem etwas vergibt, der hält es ihm nicht mehr vor, obwohl die Schuld bleibt. Auf den ersten Blick ist die Entschuldigung das schlüssigere Konzept: Schwamm drüber, vergessen wir es! Doch dann nimmt man den Schuldigen nicht mehr für ganz voll, denn man entbindet ihn der Verantwortung für sein Tun. Vergebung ist die Kunst, die Schuld und die Verantwortung des anderen anzuerkennen – und dennoch die Beziehung zum anderen nicht von ihnen zerstören zu lassen. »Was du getan hast, war nicht OK. Aber ich empfinde keine Abneigung gegen dich.«
Das »Aber« ist wesentlich. Vergebung hat etwas Paradoxes. Sie erzeugt eine Spannung, die der Vergebende aushalten muss. Daher teile ich nicht die häufig geäußerte Vermutung, Vergebung diene der psychischen Hygiene des Vergebenden. Nein, sie hilft, enge Beziehungen zwischen fehlbaren Menschen zu erhalten.
Vergebung bedeutet also, den anderen in einem besseren Licht zu sehen als jenem, in dem seine Taten ihn erscheinen lassen. Wie die anderen großen Emotionen – Liebe und Vertrauen – kann sie grandios gelingen oder kläglich schiefgehen. Und wie bei ihnen ist keineswegs jeder Mensch zu ihr fähig. Auch nachdem ich darüber nachgedacht habe, würde ich meine Antwort von damals wieder geben.
Was ist Ihre Antwort? Welche Fähigkeit schätzen Sie am meisten an Ihren Mitmenschen?
– Tobias Hürter