Wolfram Eilenberger stellt der deutschsprachigen Philosophie ein verheerendes Zeugnis aus. Sie sei in einem „desolaten Zustand“, schreibt der Publizist – und selbst Philosoph – in der ZEIT vom 01. März 2018: keine neuen Köpfe in Sicht, keine Antworten auf große und drängende Fragen, nicht einmal Ansätze dazu. Der Nachwuchs werde – vergleichbar jungen Fußballprofis – immer gewiefter, verliere aber jeden eigenen Charakter. Die Zunft reagiert mit abgeklärtem Achselzucken. Hinter vorgehaltener Hand flüstert man sich „Volltreffer“ zu, andere wehren sich gegen die Vorwürfe.
Wenn Verteidigung sinnlos wird, hilft freilich nur noch bessermachen. HOHE LUFT startet deshalb eine Initiative: akademische Philosophie soll zeigen dürfen, was sie kann, wenn man sie nur lässt. Wir geben Raum für Projekte, die mehr sind als nur Glasperlenspiele – Projekte, die mit entscheidenden Fragen unserer Zeit zu tun haben.
Den Anfang macht ein Vorhaben der Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main. Es geht um die Zukunft des Verkehrswesens und das autonome Fahren. Wenn alle Autos sich bald selbst steuern und untereinander abstimmen, ergäbe sich daraus nicht die Möglichkeit, es endlich einmal gerecht zugehen zu lassen? Vollkommene Chancengleichheit? Oder werden die Reichen am Ende wieder alle Vorteile für sich haben? Nur durch einen neuen Gesellschaftsvertrag kann das geklärt werden, meint Martin Gessmann.
Philosophie in desolatem Zustand? Geht doch!
Dorothee Bär hatte keinen leichten Stand in den Interviews, die sie gleich nach Ihrer Nominierung zur Staatssekretärin für Digitalisierung im Kanzleramt zu absolvieren hatte. Immer wieder wurde sie gefragt, wann denn endlich das schnelle Internet kommen würde, überall hin, auch in ländliche Gebiete. Und immer wieder versuchte sie klarzumachen, dass das womöglich noch das geringste der Probleme sei, um die sie sich zu kümmern hätte. Viel schwierigere Fragen stünden an: wie gestalten wir ganz grundsätzlich den digitalen Raum, was lassen wir zu, rechtlich und moralisch? Dürfen wir künftig alle mit Drohnen durch die Luft fliegen, wer hat Vorfahrt auf der Datenautobahn, wie sind die Zugänge geregelt? So schwer es den Interviewern auch fiel, damit etwas anzufangen – Frau Bär hat vollkommen Recht. Denn wie wir mit den technischen Schwierigkeiten umgehen, das wissen wir im Prinzip – wir müssen eben neue Leitungen legen. Was wir nicht wissen ist, wie wir uns grundsätzlich aufstellen wollen, wenn alle Dinge einmal miteinander kommunizieren und vernetzt sind. Unsere ganze Gesellschaft trifft sich schon bald auf einer neuen Plattform wieder, eben einer digitalen, und die Gretchenfrage lautet, wie wollen wir dann miteinander umgehen, was ist uns wichtig, welche rechtlichen Grundsätze wollen wir hochhalten, an welchen moralischen Ansprüchen wollen wir festhalten? Nichts weniger steht auf dem Spiel als das, was wir klassischer Weise Zivilisation nennen. Und wer glaubt, wir seien erst dabei, in eine digitale Welt mit neuen Regeln aufzubrechen, der täuscht sich. Wie Bär es ganz richtig vorhersieht, werden uns wichtige Veränderungen in der Arbeitswelt wohl schon in fünf Jahren erreichen – viele unserer bisherigen Arbeitsplätze wird es so nicht mehr geben, und dies nicht nur bei den handwerklichen Tätigkeiten, auch bei den intellektuellen. In zehn Jahren wird unsere Infrastruktur schon erheblich anders aussehen, was etwa Lieferdienste und Güterversorgung überhaupt betrifft. Und in fünfzehn bis zwanzig Jahren werden wir eine Aussicht darauf bekommen, wie in einem autonom gewordenen Straßenverkehr alles wie von selbst läuft und die klassische Autofahrt mit den Händen am Steuer nur noch als Jahrmarktsgaudi überlebt.
Das alles wird so rasant von Statten gehen und unsere Lebenswelt so grundlegend verändern, dass es einige Anmoderation und viel Vermittlungsarbeit braucht. Dabei wird es darauf ankommen, wie wir geltende Standards beibehalten, aber auch lange gehegte Wunschvorstellungen endlich einmal zum Zuge kommen könnten. Und klar ist auch, dass man solche grundlegenden Veränderungen nicht einfach den beteiligten Unternehmen und einer profitorientierten Wirtschaft überlassen kann. Der öffentliche Aufschrei, als kürzlich in US Amerika das schnelle Netz nur noch für zahlungskräftige Kunden offenstehen sollte, gab einen Vorgeschmack. Es braucht eine Zustimmung unsererseits, eine demokratische Beteiligung, eine ganz grundsätzliche Debatte und Abstimmung darüber, wie wir künftig – auf digitaler Basis und damit im Grunde auf allen gesellschaftlichen Feldern – miteinander umgehen wollen. Und dazu kann die Philosophie, nein, sie muss sogar etwas beitragen. Sie hat zu zeigen, wie sich probate Konzepte aus der Vergangenheit neu denken lassen und dabei zum Schlüssel werden, den kommenden Herausforderungen zu begegnen. Es braucht Konzepte, die uns heute gedanklich wirklich weiter bringen.
Ein Beispiel, an dem sich das anschaulich durchspielen lässt, ist die Zukunft unseres Verkehrswesens. Darüber wird an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach nachgedacht im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsprogrammes, das mit Geldern aus einem Exzellenzprogramm des Landes Hessen (LOEWE) gefördert wird (»Infrastruktur – Design – Gesellschaft. Designforschung in Mobilitätssystemen zur Entwicklung multimodaler, umweltfreundlicher Mobilität im Ballungsraum Rhein-Main«. Kooperationspartner: Frankfurt University of Applied Sciences, Technische Universität Darmstadt, Goethe-Universität Frankfurt; assoziierte Kooperationspartner: House of Logistics und Mobility, Rhein-Main-Verkehrsverbund, ivm GmbH (Integriertes Verkehrs- und Mobilitätsmanagement Region Frankfurt RheinMain)).
Ein Ballett harmonischen Zusammenspiels aller Verkehrsteilnehmer
Wir wissen heute schon, wozu die Technik etwa im Straßenverkehr fähig sein wird, eines gar nicht mehr so fernen Tages. Fahrzeuge, die sich auf der Straße befinden, sind dann untereinander vernetzt und kommunizieren über eine zentrale Verkehrssteuerung. Heute schon melden unsere Navigationsgeräte, wo sich der nächste Stau befindet und wie er zu umfahren ist. Künftig werden aber nicht mehr wir die weitere Planung und Entscheidung übernehmen, sondern ein Zentralrechner. Nehmen wir an, dass alle Fahrzeuge derart an der ‚langen Leine’ hängen, dann wird es auch möglich sein, sie in nie gesehener Weise aufeinander abzustimmen: Geschwindigkeit und Route, Beschleunigung und Bremsverhalten werden so justiert, dass ein optimales Durchkommen gewährleistet ist. Fraglich in dem Zusammenhang ist nur: was heißt hier ‚optimal’? Wie sieht eine bestmögliche Koordination in der Praxis aus? Wer würde denn wie tatsächlich durchkommen?
Im ersten Reflex könnte man annehmen, eine Antwort sei schnell gefunden. Am besten müsste es doch sein, wenn jeder von uns gleich behandelt würde und alle so gut durchkommen, wie es nach Lage der Dinge überhaupt geht. Jeder hätte damit grundsätzlich den gleichen Anspruch darauf, rechtzeitig an sein Ziel zu kommen, und keiner würde bevorzugt oder benachteiligt. Die ganze Raserei auf den Autobahnen, das Drängeln, Wegschieben und Rechtsüberholen, wäre Vergangenheit. Ein Ballett harmonischen Zusammenspiels aller Verkehrsteilnehmer die Alternative. Beinahe elegant würden sich Fahrzeuge aller Art umeinander herumbewegen, immer so, dass für jeden Beteiligten die Fahrzeit so kurz wie möglich wird. Aus der Distanz betrachtet gäbe es auch ein übergeordnetes Ziel: der Gesamtverkehr muss laufen, so gut es nur irgend geht. Dass es auch bei einer solchen Harmoniegleichung noch Reste gibt, die nicht aufgehen, ist klar. Sind einfach zu viele Akteure unterwegs, oder spielt etwa das Wetter nicht mit, wird es auch dann wieder zu Wartezeiten kommen. Leibniz ließe aber grüßen: immerhin lebten wir in der besten aller möglichen Verkehrswelten. Der Mathematiker-Gott namens Leitsystem hätte das zu verantworten.
In einem zweiten Reflex melden sich jedoch Zweifel, und es kommen Nachfragen auf. Wollen denn alle wirklich einen solchen Verkehrskommunismus, in dem zentral verteilt jeder die genau gleichen Chancen und Möglichkeiten zugeteilt bekommt? Gibt es nicht Ausnahmen, die man in jedem Fall zugestehen sollte: Einsatzfahrzeuge von Polizei oder Feuerwehr oder auch der Notarzt? Müssen nicht wichtige Staatsgäste durchgelassen werden? Und fängt man erst einmal an, Privilegien einzuräumen: was ist mit denen unter uns, die es ‚ausnahmsweise’ einmal sehr eilig haben, sprichwörtlich: auf dem Weg zum Krankenhaus, wenn bei einer hochschwangeren Frau während der Fahrt die Wehen einsetzen? Und was ist, wenn wir es nicht nur ausnahmsweise eilig haben, sondern immer – weil unser Job nicht anders zu machen ist, weil wir sowieso im Stress sind, oder weil unser Temperament es anders nicht zulässt? Werden wir nicht absehbar leiden im Straßenverkehr oder sogar wahnsinnig werden, wenn es nicht schneller geht, als es im Einzelfall doch auch gehen könnte? Wieso müssen denn alle immer gleich behandelt werden? Der oder die eine mag es eher gemütlich, andere eher hektisch. Was wäre falsch daran, jeden nach seiner individuellen Façon glücklich werden zu lassen? Es hat doch auch bisher immer so funktioniert, und viele von uns sind stolz auf Unterschiede, die in unser Gesellschaft grundsätzlich und gerne so bestehen dürfen.
Bleibt wenigstens eine Überholspur für Edelmarken?
Klar ist, dass bislang vor allem Interessen im Spiel sind, wenn über derlei Fragen nachgedacht wird. Was wird aus all den Sportwagen oder überhaupt den schnellen Autos, wenn künftig alle ungefähr gleich schnell vom Fleck kommen? Wozu brauche ich tolle Sprintwerte, wenn grundsätzlich niemand mehr abgehängt wird? Wird man nicht Einfluss nehmen wollen dahingehend, dass wenigstens eine Überholspur für die Edelmarken offen bleibt? Wird man nicht unter Labels wie ‚notwendiger Fahrspaß’ dafür werben, wenigstens ein Hintertor zum rasanten Vorpreschen offen zu halten? Umgekehrt: haben nicht die Hersteller von Brot-und-Butter-Fahrzeugen ein Interesse daran, gegenteilige Lobbyarbeit zu leisten? Sekundiert etwa von Umwelt- und Sozialverbänden?
Was wäre nun der Beitrag der Philosophie? Er muss darin bestehen, Modelle bereitzustellen, wie man nicht mehr nur Interessen nachgeht bei einer möglichen Entscheidung, sondern dabei übergeordneten Einstellungen folgt. Es geht dann um Fragen der Gerechtigkeit und einer ganz grundsätzlichen Einigung dahingehend, was für alle und die Gesellschaft im Ganzen das Beste wäre. Über die konkrete Gestaltung unseres Verkehrswesens hinaus steht auch zur Debatte, wie wir uns gesellschaftlich und gemeinschaftlich verstehen. Wer und was wollen wir eigentlich sein?
Weiterhelfen kann die Tradition der Gesellschaftsverträge. Besonders zwei Modelle lassen sich im gegebenen Zusammenhang heranziehen. Das erste könnte man als republikanisch bezeichnen, wenn man dabei auf Jean-Jacques Rousseaus Konzept zurückgreift und zugleich an die neueren, kommunitaristischen Ansätze denkt. Dann müsste man von der Frage ausgehen, was wir gemeinschaftlich wollen und für das Verkehrs- und Gemeinwesen insgesamt das Beste wäre. Mit dem Eintritt in die Ära autonomen Fahrens wäre dann die Vorstellung verbunden, dass ein jeder von uns von seinem individuellen Vorteilsbedürfnis absieht und sich umgekehrt bestätigt fühlt, wenn es für uns alle so gut wie möglich vorangeht. Rousseau meinte, das ginge nicht ohne eine Änderung unserer Gesamteinstellung, Kant dachte, es hätte etwas mit Vernunft zu tun – und Hegel brachte all das auf die eine Formel: aus Ich wird Wir.
Selbstbestimmt in eine digitale Zukunft?
Das zweite Modell muss umgekehrt liberalistisch genannt werden. Vorbild wäre John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit. So viel Selbstverleugnung wie im ersten Fall wird dabei nicht mehr abverlangt. Entscheidend ist immer noch mein altes Eigeninteresse. Gerecht wird eine Grundordnung jedoch dadurch, dass bei der Entscheidungsfindung Unsicherheit herrscht. Stichwort ‚veil of ignorance’: es sind uns die Augen verbunden dahingehend, wie ausgestattet wir uns im künftigen Straßenverkehr bewegen. Keiner weiß, ob er im Porsche daherkommt oder im Smart, im Lastwagen oder in der Straßenbahn, alles ist offen. Wenn ich – und außer mir auch alle anderen, die betroffen sind – finde, die grundsätzlich möglichen Unterschiede sind akzeptabel, dann ist die Regelung gut und gerecht. Und wenn alle finden, mindestens eine Hochgeschwindigkeitsspur muss sein und die Lichthupe müsse nicht ausgebaut werden, dann soll es eben so sein, dann erscheint eben das als richtig und passend.
Unnötig zu sagen, dass es nicht de facto zu Urabstimmungen über das autonome Verkehrswesen unter uns kommen muss. Denkbar ist auch, dass Parteien sich die Modelle zu eigen machen und im öffentlichen Diskurs diskutieren und durchstreiten. Unnötig auch zu sagen, dass in verschiedenen Gesellschaften solche ‚Verträge’ ganz unterschiedliche Formen und Inhalte annehmen können. Womöglich wird man in skandinavischen Ländern die kollektive Freude am gleichmäßigen Durchkommen schätzen, in Ellbogengesellschaften wie der unseren den liberalen Wettbewerb auch weiterhin auf der Straße austragen wollen.
Ohne eine gründliche Diskussion und eine Abstimmung über unsere Prinzipien werden wir aber mit dem unguten Gefühl zurückbleiben, das Wichtigste im Zusammenleben aus der Hand gegeben zu haben: den Eindruck, selbstbestimmt in eine digitale Zukunft zu schauen. Und ganz zum Schluss ist auch noch klar: unser Verkehrswesen ist nur ein Beispiel und es ist gerade einmal ein Anfang. Einkommen, Karriere, Bildung, so lauten die größeren Hausnummern, und dann gibt es noch einen ganzen Schweif von Neuerungen, vom künftigen Wohnen über das Einkaufen bis zum individuellen Ferienmachen, in den unsere Lebenswelt eingehüllt werden wird. Weite Horizonte tun sich auf für eine Philosophie, die mehr sein will als eine akademische Pointe zur späten Stunde.
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