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VISION EUROPA?

Europa steht derzeit vor fundamentalen Fragen: Zerfällt die EU? Verliert sie ihre Währung? Warum überhaupt Europa? Ein guter Zeitpunkt, um die Idee »Europa« bis auf ihren Grund zu durchleuchten. Sie kam lange vor der Gründung der EU auf. Bereits zur Zeit des höfischen Absolutismus ersann der Geistliche Abbé de Saint-Pierre (1658 –1743) einen Zusammenschluss aller christlichen europäischen Staaten. Auch Kant erwähnte 1795 in seinem Werk »Zum ewigen Frieden« ein solches Bündnis. Tatsächlich finden sich einige Kernideen der EU sowohl bei Saint-Pierre als auch bei Kant wieder. Doch trotz vieler Ähnlichkeiten ist es wichtig, die Konzepte von Saint-Pierre und Kant in ihrem historischen Kontext zu betrachten.

Insbesondere der Entwurf von Saint-Pierre ist geprägt vom Ancien Régime, einer Zeit des erbitterten Kampfes um Vorherrschaft und Macht. Der Geistliche propagierte einen Zusammenschluss der europäischen Staaten zum Zwecke des Friedens, doch man kann ihm unterstellen, auch andere Motive gehegt zu haben. So betonte er immer wieder die Bedeutsamkeit des Handels zwischen den christlichen Staaten. Darin stecken gleich zwei Motive: Wirtschaftsförderung und Einheit der Christenstaaten. Von Letzterem erhoffte sich Saint-Pierre eine klare Abgrenzung des Christentums zum Osmanischen Reich. Es waren also vornehmlich hegemoniale Interessen, die Saint-Pierre mit einem geeinten Europa verfolgte.
Ganz anders Kant: Der große Königsberger Philosoph dachte an einen »föderativen Verein«, dem sich alle gewillten Staaten anschließen dürften, nicht nur christliche. Inspiriert vom Geist der Französischen Revolution entwarf er ein universelles Recht mit drei Grundkomponenten: der bürgerlichen, republikanischen Verfassung; dem föderal verfassten Völkerrecht und schließlich dem Weltbürgerrecht. Hierüber wollte er sämtliche kriegerischen Konflikte für alle Zeit beenden und den Frieden als Selbstzweck einführen.

Was davon findet sich nun in der heutigen EU wieder? Auf der offiziellen Seite der Europäischen Union wird die Gründung der EU mit folgender Absicht erklärt: »Alles begann mit der Förderung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Dahinter stand die Idee, dass Länder, die Handel miteinander treiben, sich wirtschaftlich verflechten und daher kriegerische Auseinandersetzungen eher vermeiden.«
Wirtschaft und Frieden – ein bisschen Saint-Pierre, ein bisschen Kant. Dass es allerdings fragwürdig ist, Frieden ausschließlich an wirtschaftliche Beziehungen zu knüpfen, zeigt heute die Finanz- und Wirtschaftskrise. Es braucht mehr, um die Identität eines geeinten Europas zu stiften. Es fehlt an Solidarität und europäischer Selbstbegründung, wie die Schuldenkrise um Griechenland veranschaulicht.

Was also bleibt vom geeinten Europa, wenn der Bestandteil, der es zusammenhalten sollte, die Wirtschaft, ins Wanken gerät? Eine von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebene Meinungsumfrage gibt eine traurige Antwort: 2012 empfinden insgesamt nur noch 28 Prozent aller EU-Bürger das Bild der Union als »positiv«. Im Vergleich hierzu: 2007 waren es noch 49 Prozent. In den Herzen ist Europa noch nicht angekommen – in den über 200 Jahren seit Saint-Pierre und Kant.

– Christina Geyer

(Der Beitrag ist in HOHE LUFT 03/13 als Miniatur erschienen)

VERANSTALTUNGSHINWEIS:

Freiheitskongress NovoArgumente, 17.05.2014 im Kino Zukunft in Berlin.

Eine Woche vor der Europawahl beschäftigen sich Experten im Rahmen des Freiheitskongress‘ mit der Frage, welchen Wert die Freiheit in der EU noch hat.
In welchem Europa wollen wir leben und welche Rolle fällt dabei der Toleranz zu?
Hier geht es zum Flyer!

 

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