In den Bergen Nordvietnams ist die Zeit stehen geblieben. So fühlt es sich zumindest an, als ich ein Dorf der Hmong erreiche. Frauen in traditionellen Trachten aus indigofarbenen Leinen verkaufen bestickte Jacken und Röcke, Männer rauchen Bambus-Bong und Kinder spielen mit einem Ball aus Rattan. Ein Volk, das sich seine ursprüngliche Kultur bewahrt hat – denke ich, bis in der Schürze einer der zahnlosen Stammesfrauen ein Handy klingelt. Das zeigen sie nie auf den Postkarten, indigene Omas mit Smartphone. Jetzt habe ich sechs Stunden auf dem Motorrad auf mich genommen und bekomme nicht einmal hier eine unverfälschte Kultur zu sehen. Doch was macht eine Kultur eigentlich zu einer authentischen Kultur?
Als einer der ersten Philosophen versuchte der Aufklärer Johann Gottfried Herder das Wesen von Kulturen zu beschreiben. Seiner Ansicht nach handelt es sich bei Kulturen um nichts anderes als eine Kugel – also eine in sich geschlossenen Einheit. Diese Kulturkugeln können entweder friedlich nebeneinander her rollen oder sich stoßen wie beim Billard. In beiden Fällen bleiben sie jedoch klar voneinander unterschieden. Ein Smartphone im Bergdorf wäre also ein Stoß einer fremden, in diesem Falle westlichen, Kugel, den es abzuwehren gilt.
Doch das Bild der Kulturen als Kugeln ist äußert zweifelhaft, wenn man die Beschaffenheit moderner Kulturen bedenkt. Durch Internet, Flugverkehr und andere Neuerungen ist die Welt um einiges kleiner geworden. Alles befindet sich zumindest in mittelbarer Reichweite, egal ob es sich um Sushi handelt oder das indische Farbenfest Holi. Anstatt in einer Welt der Kugeln leben wir in einem kulturellen Netz, in dem alles Fremde immer schon mögliches Eigenes ist – ein Phänomen, dass der deutsche Philosoph Wolfgang Welsch als Transkulturalität beschreibt. Doch für Welsch ist Transkulturalität nicht bloß eine moderne Erscheinung, sondern ein essentieller Bestandteil von Kulturen an sich.
Dies wird deutlich anhand der Geschichte der deutschen Kultur (was auch immer diese genau beinhalten mag). Deutsche Kultur, mit ihren Bräuchen und Institutionen, ließe sich nicht begreifen ohne Rückgriff auf zahlreiche fremde Traditionen. Ihrem prägenden Einfluss verdanken wir dasjenige, was wir heute als ursprünglich Deutsch verstehen. Unsere Verfassung etwa wäre in ihrer Form undenkbar ohne die Errungenschaften der französischen Revolution. Gleiches gilt für die Kunst ohne die Renaissance oder unsere Vokabeln und Grammatik ohne Einflüsse aus West- und Osteuropa.
Kulturen verharren nicht als isolierte Inseln, sondern bilden sich erst im Austausch mit anderen. Die technischen und ökonomischen Entwicklungen der Moderne haben diese Prozesse lediglich beschleunigt. Was früher Generationen brauchte, geschieht heute in wenigen Jahren – was erklärt, weshalb die Hmong-Frauen überwiegend Trachten tragen und gleichzeitig Handys besitzen.
Man kann das betrauern und über den Wandel klagen, doch muss man dann an sich selbst die gleichen Standards anlegen – zum Beispiel wenn man Spaghetti isst, Tango tanzt, Yoga übt, amerikanische Serien schaut oder Flip-Flops trägt (deren kulturelle Wurzeln eigentlich in Japan liegen). Wenn wir ehrlich sind, leben wir alle transkulturell – und wollen es auch nicht anders. Wir lieben es, dass wir die Wahl haben und nicht mehr ausschließlich auf die traditionelle Lebensweise unseres Geburtsortes festgelegt sind. Warum sollten wir Angehörigen anderer Kulturen diese Freiheiten nicht zugestehen?
– Robin Droemer