Welchen Blick hat ein Chronobiologe – also einer, der die zeitliche Organisation physiologischer Prozesse untersucht – auf das Phänomen Zeit? Und was hat unser Schlaf mit Demokratie zu tun? Ein Gespräch mit Till Roenneberg, Professor am Institut für Medizinische Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München
Interview: Denise Du Rieux
HOHE LUFT: Herr Roenneberg, was verstehen Sie unter Zeit?
TILL ROENNEBERG: Sie könnten auch fragen, was ich unter dem Leben verstehe …
Gern, was verstehen Sie unter dem Leben?
Wie »Leben« ist »Zeit« sehr komplex und hat viele Ebenen. Wir machen einen Riesenfehler, wenn wir das Wort Zeit für alles, was irgendwie mit Zeit zu tun hat, benutzen, ohne es zu differenzieren. Zeit ist nicht Zeit: Es gibt mindestens fünf verschiedene Ebenen der Zeit, die wir zu beachten haben. Die langweiligste davon ist die physikalische – langweilig nicht bezogen auf Einsteins Theorien, nur ist die Relativität der physikalischen Zeit für den Organismus nicht spürbar und daher für die Biologie uninteressant. Neben der physikalischen Zeit gibt es die soziale Zeit, oder besser die soziale Taktung (die zweite Zeitebene). Schauen Sie bitte mal auf Ihre Uhr…
Auf meiner Uhr zeigt es fünf nach sechs an.
Ihre Uhr stimmt, sie geht. Aber sie lügt. Es ist nicht fünf nach sechs.
Sie lügt, inwiefern?
Die Zeit, die Ihnen Ihre Uhr zeigt, ist keine Tageszeit, sondern ein zeitliches Konstrukt der Gesellschaft. Die wahre Tageszeit gibt wieder, wie sich der Sonnenstand verändert (sie ist die dritte Zeitebene). Mittag bezieht sich auf den höchsten Sonnenstand, Mitternacht ist die Hälfte zwischen Sonnenuntergang und -aufgang. Die Sonnenzeit geht uns immer mehr verloren und das hat gesundheitliche und finanzielle Folgen. Schätzungen besagen, dass wir ein bis zwei Prozent des Bruttosozialproduktes für die Schäden ausgeben müssen, die eine direkte oder indirekte Folge unseres heutigen Umgang mit den zeitlichen Ebenen sind.
Unter Schäden meinen Sie physische, aber auch psychische Schäden am Menschen?
Sowohl als auch. Insbesondere im Sommer haben wir einen sozialen Takt, der für die meisten inneren, biologischen Uhren (das ist die vierte Zeitebene) viel zu früh ist. Wir leben heutzutage in einem Dauerdämmerlicht – tagsüber sind wir in Gebäuden ohne Tageslicht; nachts hingegen ersetzen wir die Dunkelheit mit elektrischem Licht. Die biologische Tagesuhr braucht einen starken »Zeitgeber«: tagsüber viel und nachts kaum Licht – vor allem kein blauhaltiges. Im Dauerdämmerlicht müssen die biologischen Uhren später werden, um sich überhaupt noch mit dem 24-Stunden-Tag synchronisieren zu können – die »interne Mitternacht« wird in Richtung des externen Morgens verschoben. Die innere Uhr, die alles im Körper tageszeitlich koordiniert, hinkt daher dem sozialen Takt hinterher. Wir können nur noch spät einschlafen, müssen aber früh raus (über 80 Prozent der Bevölkerung braucht einen Wecker an Arbeitstagen). Wir sind eine chronisch übermüdete Gesellschaft und funktionieren nicht mehr gut, können nicht mehr richtig lernen und werden krank.
Das alles ist für Sie also auf den Schlaf zurückzuführen?
Schlaf ist eines der wichtigsten Dinge, die wir für unsere Gesundheit tun können und zwar meine ich Gesundheit auch wieder auf allen Ebenen: schnelles Rechnen, soziale Kompetenz, Immunsystem … Ohne Schlaf gehen alle diese Fähigkeiten den Bach runter. Als allererstes die soziale Kompetenz!
Die Schlafdauer ist individuell. Ist es insofern nicht ungerecht, dass der eine zwölf Stunden Schlaf benötigt und der andere nur acht Stunden und dass demzufolge demjenigen, der weniger Schlaf braucht, mehr Zeit zur Verfügung steht?
Das stimmt, Leute, die weniger Schlaf brauchen, haben mehr Freizeit als die Menschen, die viel schlafen müssen. Diese Ungerechtigkeit wird aber durch die verschobenen zeitlichen Ebenen vergrößert. Da Schlafmangel sich nicht aufholen lässt, müssen viele Menschen die Hälfte ihrer Freizeit verschlafen. Sie opfern unter der Arbeitswoche ihre Gesundheit und dann am Wochenende ihre Freizeit.
Wenn wir also nun von diesem Gerechtigkeitsanspruch ausgehen und gleichzeitig das wirtschaftliche System miteinbeziehen, in dem wir leben, wie würde sich das praktisch umsetzen lassen?
Wir haben festgestellt, dass es auf der individuellen Ebene eine Ungerechtigkeit gibt, die auch noch gesundheitliche Folgen hat. Jetzt ist Ihre Frage: Wie kann ich diese ändern, ohne die gesellschaftliche Zeit aus den Angeln zu heben?
Ja, genau. Wie kann ich mich nach meinem eigenen Schlafrhythmus richten, ohne dabei mein komplettes Leben verändern zu müssen?
Diese Frage wird von allen gestellt, ohne auch nur einmal darüber nachzudenken, was sie bedeutet! Wir haben eine moderne Gesellschaft, die glaubt eine 24-Stunden-sieben-Tage-Woche umsetzen zu müssen. Aber gleichzeitig hat sie die Spießigkeit zu sagen, du musst um sieben bei der Arbeit sein, und es ist mir völlig egal, ob du schon denken kannst, ob du öfter krank wirst etc. Ich möchte, dass du um sieben bei der Arbeit bist.
Dabei ist nicht nur die Schlafdauer, sondern auch die Schlafzeit wichtig?
Wenn jemand sagt, er möchte gerne die acht Stunden arbeiten, aber nicht um sieben, sondern um zehn Uhr beginnen, dann sagt er nicht »ich bin faul«, sondern er sagt, er möchte seine innere beste Zeit, nach einer ausgeschlafenen Nacht, und damit mit einer höheren Gesundheit, und auch mit einer sehr viel höheren Produktivität dem Arbeitsprozess zur Verfügung stellen. Wo ist da die Ungerechtigkeit, wenn jemand um zehn kommen will?
Wo sehen Sie also die Ansatzpunkte, an die gesellschaftlich, aber auch individuell herangegangen werden muss?
Erstens müssen wir mehr Licht in unsere Gebäude lassen – das ist vor allem eine architektonische Herausforderung – und nachts die Blauanteile aus unseren künstlichen Lichtquellen herausnehmen. Das heißt wir müssen den »Zeitgeber« für unsere innere Uhr stärken. Zweitens müssen wir unsere Einstellung zur Arbeitszeit – also gegenüber dem sozialen Takt – drastisch ändern und individualisieren. Unsere Gesellschaft hat einfach noch nicht begriffen, dass es biologisch gesehen keine Demokratie der Gleichheit, sondern nur eine Demokratie der Empfindlichkeit gibt.
Wie genau darf ich das verstehen?
Kein Arbeitgeber würde sagen, ihr bekommt von mir alle Arbeitsschuhe, aber nur in einer Größe, weil diejenigen mit kleineren Füße aus den Schuhen fallen, und die mit größeren Blasen bekämen. Keiner könnte unter diesen Umständen wirklich produktiv sein. Diesen Blödsinn würde niemand machen. Aber wenn es um weniger sichtbare Produkte der Biologie geht, nämlich um die individuelle Innenzeit, wird genau das genauso gehandhabt. Alle sollen um acht oder um sieben zur Arbeit erscheinen, alle müssen Früh-, Spät- und Nachtschichten machen, gleichgültig welcher Schlaftyp sie sind. Das ist die dumme Demokratie der vermeintlichen Gleichheit aber nicht die kluge Demokratie der biologischen Individualität. Unter den heutigen Gleichheitsbedingungen bekommt der eine viel und der andere wenig Schlaf – das ist ungerecht, arbeitet gegen Gesundheit und Produktivität und verursacht hohe Kosten!
Die praktische Konsequenz daraus muss also wie aussehen?
Wir müssen die Arbeitszeit so gestalten, dass sie so wenig wie möglich schädigt. Das heißt vor allem: Spättypen in der Nachtschicht arbeiten lassen, das bedeutet aber auch, dass überhaupt Spättypen sein dürfen, also die, die wir gemeinhin fälschlicherweise als »Langschläfer« bezeichnen.
Demokratie im gesellschaftlichen Umgang mit Zeit besteht also gerade nicht in der Gleichheit…?
Eine der wichtigsten Aufgaben der Gesellschaft ist ja gerade die Individualität anzuerkennen und eine Toleranz gegenüber Andersartigkeit zu entwickeln. Das Potential der Menschen in ihrer Gesundheit, ihrer Konzentrationsfähigkeit, aber auch in ihrer Arbeitskraft kann vielfach besser ausgenützt werden, wenn nicht alle gezwungen werden Schuhgröße 42 zu tragen.
Sie nannten fünf verschiedene Zeitebenen, wir sind bisher aber nur auf vier eingegangen
Die fünfte Ebene ist die psychologische, die uns etwa die Zeit im Wartezimmer anders erscheinen lässt als auf unseren Flitterwochen. Wie viele der angesprochenen Ebenen hat sie gar nicht so viel mit der Zeit zu tun, sondern auf dieser Zeitebene damit, wie viele neue Ereignisse wir erleben.
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