Der französische Semiotiker François Rastier über die Schrift »Irrnisfuge« des Philosophen Peter Trawny, Mitherausgeber der Heidegger-Gesamtausgabe und maßgeblich beteiligt an der Diskussion um Heideggers Antisemitismus in seinen »Schwarzen Heften«. Rastiers neues Buch »Naufrage d’un prophete« ist vor Kurzem erschienen und befasst sich mit heutiger Heidegger-Rezeption radikaler Theoretiker aus dem linken und rechten Spektrum.
Die Veröffentlichung der Schwarzen Hefte war vom Meister zur Krönung seines Werkes vorgesehen. Sie beendet die Scheindebatte um seinen Antisemitismus. Man spricht jetzt nicht mehr von Antisemitismus und Philosophie, sondern von „Heidegger und den Juden“. Damit wird nicht nur dem philosophischen Problem ausgewichen, sondern auch der Frage, welche Position dem Werk zukommt. Außerdem wird das Werk sorgsam vom Leben getrennt. „Werk und Leben“ ist denn auch der Titel des Kapitels, in dem Trawny behauptet, Heidegger habe „mit Juden […] freundlichen und zuvorkommenden, ja intimen Umgang gepflegt“ 1.
Doch wenn man die Problematik der Schwarzen Hefte auf den Antisemitismus reduzieren wollte, so würde man ihren Sinn enorm beschneiden. Aber genau das tun Trawny (Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung) und Di Cesare (Heidegger e gli ebrei, 2014). Die Schwarzen Hefte bestätigen dagegen nicht nur die antisemitischen Themen, sondern auch die Beziehung zwischen seiner Philosophie und dem Nazismus, den Heidegger für seine Barbarei lobt: “Der Nationalsozialismus ist ein barbarisches Prinzip. Das ist sein Wesentliches und seine mögliche Größe. Die Gefahr ist nicht er selbst – sondern dass er verharmlost wird in eine Predigt des Wahren, Guten und Schönen“2. Nur die Philosophie (diejenige Heideggers) erlaubt dem Nazismus, dieser Herabsetzung zu entgehen: „Inwiefern der Nationalsozialismus niemals Prinzip einer Philosophie sein kann, sondern immer nur unter die Philosophie als Prinzip gestellt werden muss.“3.
Nach Heidegger und der Mythos der jüdischen Welverschwörung wechselt Trawny mit Irrnisfuge die Gattung. Bisher Kommentar, geht er nun zur Apologie über, um das Unternehmen einer globalen Radikalisierung vervollkommnen zu können. Irrnisfuge ist also kein akademischer Essay mehr, dessen Aufgabe etwa im Interpretieren läge, sondern ein intellektuelles Manifest gegen die „Political correctness“. Seine 26 Punkte erklären Heidegger zum Führer des heutigen Denkens. In Frankreich wurde es bei dem eher libertären Verlag Indigène veröffentlicht, der auch Stéphane Hessel und Cohn-Bendit verlegt. Die deutsche Fassung trägt den Untertitel Heideggers An-archie. Sowohl das Incipit als auch die Zwischenüberschriften, im Ton Nietzsches gehalten und beinahe sarkastisch, lassen eine Strategie des „Zurück zu Nietzsche“ erkennen. Die Schwarzen Hefte rivalisieren mit Nietzsches Schreibweise, und sowohl die rechten als auch die linken Heideggerianer verständigen sich vermittels dieser ihnen gemeinsamen Sprache.
Die Ausdrücke, die Trawny für den französischen Titel gewählt hat, erlauben es, sein Programm im Detail darzulegen:
1/ Freiheit. – Die hier befreite Freiheit ist die Freiheit der Transgression. In dieser entfesselten Welt geht es, ihrer Losung getreu, darum, die Freiheit zu befreien. So wird unter der Feder Trawnys das Verbrechen zur Freiheit: „Außer sich zu sein, die Ekstase der Flamme und des Sturzes, gehört zur Freiheit“ 4. Einige Kommentatoren entschlüsselten diese Botschaft, wie etwa Patrice Bollon: „Seine Laufbahn im Nazismus war zunächst diejenige eines Extremisten, mit den Visionen eines Betrunkenen, eigentlich unsinnig – aber nichtsdestoweniger im Grunde verteidigbar, und selbst heute noch bedenkenswert“ (Le Magazine littéraire n° 547, S. 24; von mir unterstrichen). Diese Form der dionysischen Lobrede ruft jene Verteidigung der Freiheit auf den Plan.
2/ Irren. – Der deutsche Titel, Irrnisfuge, ist eine Umbildung von Todesfuge, Titel eines Gedichts, das Paul Celan 1952 veröffentlicht hat. In Deutschland ist dieses Gedicht so bekannt, dass es in alle Schulbücher aufgenommen wurde. Das der Irrnisfuge vorausgestellte Zitat von Celan bestätigt diesen Zusammenhang, obwohl Trawny ihn leugnet und behauptet, der Ausdruck sei „ein eigener Fund (sc. von Heidegger), ohne Anspielung“ (2014b, Einleitung). Man muss also da, wo „Irrtum“ steht, „Tod“ lesen, denn dieser Irrtum war mörderisch. Irrnis wird so zum Decknamen5.
Die Freiheit zum Irren wird somit zur Freiheit, sowohl zum Mord aufzurufen als auch töten zu dürfen. Trawny erinnert an das Urteil Arendts, die in ihrem Meister einen „“potentiellen Mörder““ sah (2014a, S. 92). Aber ein Irrtum ist, im Unterschied zu einem Verbrechen, selbstverständlich an keinerlei Verantwortung gebunden: der Mörder ist unschuldig („in der Irre gibt es weder Verantwortung noch Schuld“, 2014b, § 22); im Gegenzug dazu sind die Opfer unmenschlich, oder stellen zumindest „unmenschliche Fragen“ (§ 19).
Trotz aller Ausflüchte hält Trawny an einer Verbindung zwischen „Irrtum“ und „Tod“ fest: „“Irrnisfuge“ und „Todesfuge“ gehörten zusammen“ (§ 24), sind also eine für die andere gemacht? Ja – wie der Verbrecher und das Opfer. Das Verbrechen wird sogar zum Wahrheitskriterium: „Letztlich scheinen Wahrheit und Irre dasselbe zu sein“ (§ 16,). Das Böse ist, „dass wir nicht darauf achten, woher die Freiheit des Tötens stammt“ (§ 18): die Freiheit ist nicht „Freiheit zu“, sondern „Freiheit des“, kurz – die Verwirklichung des Willens zur Macht. Das Böse ist das normative, nicht tolerierbare Verbot zu töten.
Der Slogan „Befreiung zur Freiheit“ (GA 96, S. 230) fordert dazu auf, sich von jedem Gesetz zu befreien und einen Ausnahmezustand auszurufen, in dem das Denken sich weder mit Vernunft noch mit Ethik herumzuschlagen hat. Noch dazu nützt er die trendy-Verführung dieses ultraliberalen, bereits zur Mode gewordenen Motivs6 aus.
« Wer groß denkt, muss groß irren“ 7. Dieser Maxime Heideggers im Incipit von Trawny kommt eine Entlastungsfunktion zu, die den Irrtum in Indiz oder gar Beweis eines Genies verwandeln, oder sogar aufdrängen, soll („muss“ deutet auf eine Verpflichtung hin). In dieser Perspektive der Eskalation reicht ein einfacher Aufruf zum Mord nicht mehr aus, der Aufruf zur Vernichtung wird unumgänglich. Die Größe legitimiert sich selbst, so dass also ein Aufruf zur Vernichtung einen Gedanken ausdrückt, der grösser ist als ein Gedanke, der zu einem einfachen Aufruf zum Mord führt. Die Größe ist genau jene Qualität, die Heidegger dem Nazismus 1953 in der Zeit zuspricht. Wenn er also dann im Spiegel-Interview seine Mitgliedschaft im Nationalsozialismus als eine „große Dummheit“ bezeichnet, behält das „groß“ einen lobenden Unterton bei.
Die Größe, die man Heidegger zuschreibt, gehört zu seinen eigenen Kategorien: für Ferry, Finkielkraut, Marion, Bernard-Henri Lévy, Badiou und Cassin, deren Darstellungen sich überbieten, ist diese reinigende Größe nunmehr ein Element der Sprache, das sie davon entlastet zu präzisieren, worin sie denn eigentlich bestehe, denn sie emaniere auf natürliche Weise aus dem Denker, der eine akademische Spielart des Übermenschen ist.
3/ Mit Heidegger. – Der Ton bleibt apologetisch: einerseits beschönigt Trawny, ja kokettiert beinahe, ruft den Zeitgeist an und macht aus dem Antisemitismus eine Art anekdotische Ergänzung des Heiligenbildes: „der Skifahrer, der Hüttenbewohner, der Universitätsrektor mit dem Parteiabzeichen, der philosophische Esoteriker, der Liebhaber, der Lehrer, der strenge Denker“ (2014b, § 3). Aber würde man die Freiheit zum Irren mit Husserl oder Cassirer einklagen? Hier ist der Meister nicht einfach nur das Beispiel eines Gedankens, sondern auch der Führer des politischen Handelns. Indem man die Freiheit, sich mit ihm zu irren, einklagt, engagiert man sich, sein Handeln fortzusetzen.
Auch hier dienen die Juden als Garanten. Heidegger, wie viele Andere, hatte jüdische Studenten; vielleicht hatte er sie durch den latenten Messianismus seiner Rede (wie etwa „Nur noch ein Gott kann uns retten“ (Der Spiegel, 23, 1976, S. 193), oder der obskuren Vermutung, dass die Juden einen zentralen Platz in seinem Denken einnehmen, verführt. Trawny belegt die Aussagen Heideggers mit Verweis auf jüdische Autoren wie Szondi oder Adorno. Bereits die vorausgestellten Zitate lassen darauf schliessen, dass Celan eine besondere Stelle einnimmt. Er wird dann auch 15 mal in der Irrnisfuge erwähnt und steht im § 24 sogar im Mittelpunkt. Schließlich übernimmt Trawny auf seine Weise das Argument von Kertecz, dass Auschwitz ein „Mythos“ sei (Kertecz meint damit lediglich, dass die Vernichtung, außer für die Geschichte, auch für die Literatur zu einer Art Materie geworden ist). Warum sollte man also nicht zulassen können, was so viele vorbildliche Juden und Jüdinnen, Arendt, Blochmann, und Kaléko an der Spitze, derart schätzten?
Die Irrnisfuge setzt sich in Inhalt und Ausführung von den Schwarzen Heften ab. Der Stil hat sich verändert, die rednerischen Vorsichtsmaßnahmen und akademischen Gepflogenheiten machen lapidaren Behauptungen Platz. Allerdings will Trawny den modischen Einschlag beibehalten. So findet man Sätze, die aus einem Wort bestehen, wie man sie aus Mädchenzeitschriften kennt, oder einfache Slogans wie etwa: „“Europa“ ist auch „Auschwitz““ (§ 25).
Eine Widerlegung der Irrnisfuge wäre vergebliche Mühe. Übrigens davon überzeugt, dass der Mythos der Argumentation vorzuziehen und diese demnach zu verweigern sei, handhabt Trawny hier äusserst geschickt die „dekonstruktivistische“ Dialektik. Er verweigert sich der aporetischen Technik, die doch den philosophischen Dialog begründet hat und widerspricht sich selbst in aller Ruhe. Eine Serie von Ausflüchten ermöglicht es ihm, eine zweideutige Sprache zu entwickeln, die einerseits aus ihrer eigenen Unverantwortlichkeit eine Theorie macht und andererseits verhindert, seine Thesen voneinander zu isolieren, da er sie immer schon von einer Gegenthese begleitet sein lässt – welche das Verschwiegene maskiert. Seine argumentative Nachlässigkeit kämpft für eine Emanzipation der Vernunft. Eine regelrechte „Modeschau“ von ideologischen Schlagwörtern lässt die Wirklichkeit verschwinden; Ergebnis dessen, was Derrida die „bonne volonté de puissance“ nannte.
Das Manifest erreicht seinen Höhepunkt im Kapitel „Der Aufhalter der Moderne“ (§ 14) mit einer Lektüre Heideggers durch die Brille Schmitts. Carl Schmitt meinte, dass der Führer, in der Rolle des Katechon, die Apokalypse aufhielt, indem er die Juden vernichtete. Für Trawny ist es Heidegger, der diese wunderbare Rolle in der Seinsgeschichte besetzt. Er habe vorausgesagt, dass der Triumph der (verjudeten8) Technik dazu führen wird, „dass sich die Erde selbst in die Luft sprengt und das jetzige Menschentum verschwindet“ (GA 96, S. 238). Aber das sei der Beginn eines neuen Zeitalters, „die erste Reinigung des Seins von seiner tiefsten Verunstaltung durch die Vormacht des Seienden“ (ebd.) – rufen wir in Erinnerung, dass die Juden die Seienden9 sind, und keinen Zugang zum Sein haben. Trawny kündigt den Ablauf dieser hygienischen Reinigung mit geheimnisvollen Worten an: „Eine Sintflut muss kommen, um den Dreck der Technik wegzuspülen“. Die thematische Kontinuität zwischen triumphierender Technik, nach Hegemonie strebender Seiender und angesammeltem Dreck, drei homologe Gefahren auf drei Sätze verteilt, ist durch die Juden dargestellt. Obwohl sie nicht erwähnt werden, sind die semantischen Korrelate eindeutig: Technik verweist auf Berechnung, hegemonisches Seiendes verweist auf den entwurzelten Kosmopolitismus, und der Dreck ist schon immer ein Attribut des mythologischen Juden gewesen. 10
Einige Zeilen vor der von Trawny zitierten Passage verkündet der Meister: „dass „das Schreiben“ das geheimnisreichste und deshalb strengste Hand-werk ist“ (GA 96, S. 236). Er verschleiert durch semantischen Überfluss: die Juden, als fundamentale Feinde, erscheinen in der Form verschiedener Bezeichnungen in verschiedenen Bereichen – konform der Verschwörungstheorie. Dieses Vorgehen nennt Lévi-Strauss „structure feuilletée“ des Mythos.
Hier, wie so oft, sind Heidegger und Trawny solidarisch. Sie zitieren dasselbe, die Aussagen des Zweiten ergänzen die des Ersten, eine lückenhafte semantische Form im Zitat des Ersten wird durch einen Kommentar des Zweiten vervollständigt, der sogar noch eins drauflegt, denn „Dreck“, häufig bei Streicher zum Beispiel, kommt in der zitierten GA 96 nicht vor.
Trawny entwickelt und aktualisiert die Thesen Heideggers mit einer unverkennbaren Anbiederung an das Publikum der intellektuellen « Linken », wie die Referenz auf Lyotard und seine Theorie der „großen Erzählungen“ belegt. Zu diesen großen Erzählungen gehören die Protokolle der Weisen von Zion und … „Auschwitz“: „Dann aber gehören die „Protokolle der Weisen von Zion“ und „Auschwitz“ zusammen. Sie gehören zum großen Narrativ der Irre, das Heidegger erzählt“ (§ 24). Trawny siedelt somit eine von der zaristischen Polizei verfertigte Fälschung und den am besten dokumentierten Völkermord der Weltgeschichte auf derselben Ebene an. Aber da das Ende der großen Erzählungen die „Entzauberung der Welt“ ist (er bezieht sich hier auf Max Weber), wird Heidegger am Ende seines Manifestes als Bezauberer eingesetzt: indem er den Mythos zum Horizont der Philosophie macht, bezaubert er sie wieder.
Die Nachfolge ist also geregelt (§ 25): Badiou, der „hervorragende Philosoph“, verlängert in seiner Introduction à la philosophie Heideggers Denken, indem er die Begegnung von Heidegger und Celan als Gleichnis für die Begegnung von Philosophie und Poesie inszeniert. Dies gelingt ihm desto besser, da er in der „Geschichte eine Erzählung (deshalb auch die epochale Rolle der „Kulturrevolution“ etc.)“ (§ 25) sieht.
Schließlich, als letzte Garantie des Manifestes, taucht noch Nancy mit Vérité de la démocratie auf. Trawny weiß ganz genau, dass dieser Text rundweg gegen die Institution der Demokratie gerichtet ist. In dem Sammelband Démocratie, dans quel État ? (Paris, La Fabrique, 2009), in dem unter anderem auch Agamben, Badiou, und Zizek vertreten sind, setzt Nancy die Demokratie, die für ihn ohne Fundament ist, der Gemeinschaft (communauté) entgegen, von der er heute einer der maßgeblichsten Theoretiker ist. Er setzt die Gemeinschaft mit einem idealisierten Kommunismus gleich, aber vergisst zu präzisieren, dass communauté die offizielle Übersetzung des Nazi-Begriffes Gemeinschaft ist (im Sinne von „Volksgemeinschaft“) und dass das wichtigste Buch des Maréchal Pétain den Titel Principes de la Communauté trägt. Das Thema der Gemeinschaft wurde europaweit zu einer der wichtigsten Scheidelinien der rotbraunen politischen Theorie.
Trawny belegt keine einzige seiner Aussagen durch Zitate heute lebender deutscher Philosophen, denn wie Heidegger vor ihm, zur Zeit des Humanismusbriefes, zielt er auf Frankreich – er weiß, wie er hier an bedeutenden Orten auftreten und internationales Echo erzeugen kann, wohingegen er in Deutschland auf berechtigtes Misstrauen stößt11. Die Gleichgültigkeit gegenüber philologischer Genauigkeit, sowie die vorgebliche Unempfindlichkeit ordnen seinen Diskurs in die Strömung der Pop-Philosophie ein, die sich durch orakelhafte, blendende Sätze auszeichnet. Er steht zu dem, was er ganz richtig „Ideologeme“ nennt. Da eine Ideologie kein einziges Realitätsprinzip anerkennt, kann sie die Wissenschaften instrumentalisieren (hier in erster Linie die Geschichte), aber sie zwingt auch ein Delirium auf: Weltanschauung wird zum Wahrheitskriterium.
Der Fall des Hitlerismus zog nicht die intellektuelle Niederlage des Nazismus nach sich, außer eventuell in Deutschland. Die Schriften der Nazi-Denker, Heidegger und Schmitt an erster Stelle, bilden nach wie vor eine Gewaltreserve, die nur danach fragt, reaktiviert zu werden.
Die Abfolge „Leugnung > Beschönigung, Banalisierung > Wiederinkraftsetzung“ ist dabei, sich vor unseren Augen zu erfüllen, indem sie das Programm, das Heidegger nach dem Krieg durchführte, wiederholt. Dieses Programm setzt Trawny heute in Bewegung: sein erste Buch bestätigt und banalisiert, sein zweites erteilt die Genehmigung.
Dazu muss die kritische Dimension der Philosophie zerstört werden, die von der Vernunft untrennbar ist. Nun ist Schluss mit der Vernunft und ihrer Dienerin, der unverhohlen kalten Argumentation: „Wo das Lebewesen Mensch als solches schon vernünftig ist, wird der Philosoph geradezu zu einer Vernunft-Maschine; zu einem Roboter, der am Wohl der Menschheit rechnet“ (§ 23). „Das Argument – Schlüssel zu einer Welt, die auf den Mythos verzichtet. Seine Wahrheit, die Rationalität, prallt nicht am Narrativ ab“ (§ 26; vgl. auch: „In der Welt des Arguments hat sich das Drama des Denkens verflüchtigt“, § 26).
Die wahren Werte einer „Welt, die auch heute noch zäh ihr Nachleben verteidigt“, sind bedroht: „Heimat, Grenze, Erde, Dichtung, Ort, Gemeinschaft, Stimmung, all das kann im universalen Transitraum der Technik keine Ansprüche mehr erheben“ (§ 14). „Heimat, Grenze, Erde, Dichtung12, Ort, Gemeinschaft, Stimmung“, die völkischen Themen hallen in der Identität von Heimat und Gemeinschaft13 wieder.
Die Rolle der Philosophie bestehe darin, durch den Mythos die Welt wieder zu bezaubern, um die Realität zu schaffen: „Die Wirklichkeit wird erzählt” (§13). Da die Philosophie in der Geschichte des Seins zur Handlung eines abendländischen Narrativs (§13) wird, warum sollte sie nicht auch das „Narrativ, das die „Protokolle“ entfalten“ (§ 22), erzählen?
Apologetischer Kommentar der Schwarzen Hefte, verbleibt das erste Buch Trawnys im Wesentlichen im Bereich der akademischen Interpretation, wenngleich verzerrt, und es behält einen beruhigenden, gar entspannenden Charakter bei, der ihm die Zustimmung von Intellektuellen wie etwa Maurice Olender oder Mehdi Belhadj Kacem eingebracht hat. Im Gegenzug dazu gibt das zweite den radikalen Intellektuellenmilieus die notwendigen Kautionen und Anweisungen zur Verstärkung einer rotbraunen Internationalen, die von Zizek und Badiou bis Dugin reicht.
Die Nazis begnügten sich nicht mit dem Pessimismus Spenglers. Sie wollten das Schicksal des Abendlandes wiederherstellen und es im Großen Europa Deutschlands regenerieren. Heidegger spricht hier von einer „abendländischen Verantwortung“ der Deutschen (vgl. GA 16, S. 378 und Trawny, 2014a, 62f); doch jene Verantwortung scheint gegenwärtig aus politischen und ethnischen Gründen14 Russland zuzufallen. Das zumindest ist die These Dugins15, wie sein Buch Martin Heidegger: The Philosophy of Another Beginning (2010)16 belegt.
Der Hass der Demokratie und des Abendlandes dienen somit einem weitaus allgemeineren politischen Projekt.
1 Peter Trawny, Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Frankfurt a. M., Klostermann 2014a, 1. Aufl., S. 80. Die französische Übersetzung trägt den Titel Heidegger et l’antisémitisme. Sur les « Cahiers Noirs » (Paris, Seuil, 2014). Unter dem Titel Heidegger und die Juden hatte Trawny im November 2014 in Wuppertal eine Tagung, die eine Elite internationaler Referenten versammelte, organisiert. Diese Tagung könnte zum Errichten eines Heiligenbildes beitragen. Der Antisemitismus wäre dann nur die Meinung einer Person gewesen, und nicht etwa Gegenstand eines Werkes. Man könne ihn sogar so nachsichtig behandeln wie Badiou und Cassin in Heidegger, le nazisme, les femmes et la philosophie, Paris, Fayard, 2010 es mit dem Nazismus Heideggers tun.
2 GA 94, S. 194.
3 GA 94 S. 190.
4 Peter Trawny, Irrnisfuge. Heideggers An-archie, Berlin, Matthes & Seitz, 2014b, § 17 (frz.: La liberté d’errer, avec Heidegger, Montpellier, Indigène, 2014). Die Flammenexstase könnte auf den Feuerspruch, den Heidegger 1933 bei der symbolischen Bücherverbrennung vortrug, verweisen. „Sturz“ ist eines der zentralen Worte der Nazi-Offensive des Blitzkriegs (zum Beispiel Stuka, Abkürzung von Sturzkampfflugzeug).
5 Dieser Hinweis ist umso unverkennbarer, da es Heidegger um die ethnische Reinigung der Sprache ging und er deshalb gewissenhaft alle Latinismen, wie etwa „Fuge“, vermied – außer, wenn es sich um antisemitische Äußerungen handelte, wie es die Beispiele commercium in Sein und Zeit, oder brutalitas in den Schwarzen Heften zeigen.
6 Im September 2014 bildete ein Free Freedom-Banner den Abschluss der Modedemonstration Lagersfeld für Chanel.
7 Aus der Erfahrung des Denkens, Pfullingen, Neske Verlag, 1963, S. 17.
8 Das mittelalterliche Motiv des berechnenden Wucherers, völlig eingenommen durch das Zählen seines Judaslohns, ist auf die gegenwärtigen Wissenschaften und Techniken übertragen. So reicht diese beispiellose Erweiterung eines Stereotyps aus, um die gesamte Neuzeit zu verdammen. In der Konferenz Die Gefahr (1949) behauptet Heidegger, die Kybernetik sei dadurch, dass sie ihre Herrschaft auf die ganze Welt ausdehnt, auch für die Vernichtung verantwortlich. Obwohl Heidegger in den Vorkriegsjahren nicht besonders auf die Technik losgegangen ist, und sogar zum Beispiel die « „Motorisierung“ der Wehrmacht » als « metaphysische<n> Akt » (GA 48, S. 333) lobte, verbindet er sie in den darauffolgenden Jahrzehnten mit den Juden, was nicht daran hindert, dass er immer noch als bedeutender Kritiker der modernen Welt gilt.
9 Im Bereich der Seienden verbleibend, sind sie ohne Bezug zum Sein und leben also nicht – als seien sie Akzidentien ohne Substanz: die Juden, heimatlos und kosmopolitisch, haben kein Dasein, sind nirgends und bleiben also ohne Welt („weltlos“).
10 Clémenceau denunzierte dereinst „le Juif crasseux au nez crochu (den Juden mit der Hakennase)“. Die Verbindung zwischen Juden und Dreck, allgegenwärtig in der Naziliteratur, ist immer noch fruchtbar. So findet man auf der Webside fanatischer Sportfans, dieser Tage abgerufen, jene Beschimpfung des gegnerischen Vereins: „Gleich liegen sie im Dreck, wie die Juden damals!“ http://www.ultrafans.de/index.php/gleich-liegen-sie-im-dreck-wie-die-juden-damals/
11 Im Vorwort zur französischen Ausgabe schreibt er: „Nous avons dû et devons prendre note du soupçon selon lequel en Allemagne nous nous sentirions obligés de caractériser toute opinion non philosémite comme antisémite (Wir mussten und müssen beachten, dass wir uns in Deutschland gezwungen fühlen würden, jede nicht philosemitische Äusserung als antisemitisch zu charakterisieren, um dem Verdacht des Antisemitismus zu entgehen)“ (2014a, S. 19). Die Anspielung ist klar: wir seien zum Philosemitismus gezwungen – Badiou und Hazan sagen im L’antisémitisme partout dasselbe –und Dieudonné denunziert es in seinem Kreuzzug gegen die political correctness.
12 Trawny schreibt: „Es ist einzig und allein das Denken (und das Dichten), das die Welt und die Geschichte mit Bedeutungen versieht“ (Einleitung, S. 11). Stefan George stellte den Dichter als idealen Führer dar, Brasillach den Führer als Dichter. Diejenigen, die Heideggers Nazi-Engagement mit dem Hinweis auf sein Lob der Dichtung entschuldigen wollen, sollten über diese Sätze nachdenken. In Trawnys Broschüre taucht die Wortfamilie „Dichtung“ 55 mal auf. Dichtlosigkeit antwortet auf Ortlosigkeit.
13 Trawnys Übersetzter hat „Erde“ vergessen. Aber in der Rektoratsrede beglückwünscht Heidegger den Nationalsozialismus, die erd- und bluthaften Kräfte erweckt zu haben.
14 Schon lange sieht die europäische extreme Rechte in Russland das genetische Reservoir der weißen Rasse. In seiner Rede vom 17. April 2014 preist Putin den „sehr anpassungsfähigen, sehr resistenten genetischen Code Russlands, der unser Konkurrenzvorteil ist“, sowie den „Menschen der russischen Welt (Rousski mir)“, bewegt von „einem höheren moralischen Ziel“.
15 Mitbegründer der nationalbolschewistischen Partei nazbol (1994), führt Alexander Dugin, den man für die éminence grise von Putin hält, seit 2001 die Eurasia-Bewegung an, die für ein eurasisches Reich kämpft – kurz, ein von Russland beherrschtes Europa, das von Dublin bis Wladiwostok reicht.
16 Moskau, Academic Project, 2010; englische Übersetzung Washington, Washington Summit Publishers, 2014; besonders interessant ist sein Kommentar des Gevierts (oder Hakenkreuzes, vgl. S. 121-126). Die politische Problematik dieses Werkes ist in The Fourth Political Theory (London, Arktos, 2012) entwickelt. Übersetzer von Julius Evola, Dugin bezieht sich auch auf Werner Sombart, Klaus Haushofer, Ernst Niekisch (der Theoretiker des Arbeiterflügels des Nazismus) und selbstverständlich auf Carl Schmitt. Er wird von den deutschen Heideggerianern anerkannt (vgl. vor allem das einvernehmliche Gespräch mit Friedrich-Wilhelm von Hermann, dem letzten Assistenten Heideggers und vor Trawny maßgeblichen Herausgebers der Gesamtausgabe: http://m.youtube.com/watch?v=b93z2yPo4pA; https://www.youtube.com/watch?v=qw3B55Il8cM sowie seine Proklamation: „Russland muss Europa erobern“: https://www.youtube.com/watch?v=e-oH58VA5Rw).
– François Rastier