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„In welcher Blase stecken wir eigentlich?“

Andri Snaer Magnason ist Poet, Roman- und Sachbuchautor und außerdem der Vordenker einer neuen Umweltbewegung in Island. Beim ».vernetzt # Zukunftscamp 2014« in Hamburg wird er einen Vortrag halten mit dem Titel: »Restart Iceland – wie erfinden wir uns neu?« Ein Skype-Anruf in Reykjavík.

INTERVIEW: ANDREA WALTER

Andri (in Island duzt man sich), du wirst beim Zukunftscamp in Hamburg darüber sprechen, wie Island sich nach dem Platzen der Finanzblase und der Krise neu erfindet?

ANDRI: Oh ja, sie haben meinem Vortrag diesen Titel gegeben. Aber ich werde möglicherweise davon abweichen! (er lacht). Die Krise ist schon so viel diskutiert. Mich interessiert vor allem die Frage, ob es überhaupt möglich ist, außerhalb einer Blase zu denken. Und wie eine Blase so groß werden kann, dass sie zu einer Realität wird, die uns glauben lässt, wir würden auf sicherem Boden stehen. Wir sehen ja, dass das immer wieder passiert. Nicht nur in Island. Es scheint ein globales Problem zu sein.

Lass uns trotzdem mit Island beginnen. Vor sechs Jahren brachen dort die drei größten isländischen Banken, die in Privatbesitz waren, zusammen. Das Land stand kurz vor dem Staatsbankrott. Wie reagiert eine Nation, wenn sie feststellen muss: Das, worauf wir gesetzt haben, war eine Illusion?

ANDRI: Es führte zu einem großen Vertrauensverlust. Denn zuerst hatte das kapitalistische System ja Erfolg. Es konnte große Profite vorweisen, vielen jungen Leuten Möglichkeiten geben und gut bezahlte Jobs. Es erzeugte sogar Helden. Es war fast so, als wären die Banker unser Nationalteam. Als ich klein war – und wir dieses Land mitten im Ozean waren – gab es in unseren Zeitungen Berichte über Isländer, die bei einer Firma in London arbeiteten. Das stand dann: »Sigga macht dies und das – wie welterfahren von ihr, dass sie in der Oxford Street arbeitet!« Plötzlich gehörten den Isländern diese Firmen. Naja, heute wissen wir, dass sie die Firmen den Banken schuldeten, aber damals hatten wir das Gefühl: Jetzt werden wir Weltbürger! Als die Wahrheit ans Licht kam, war es so, als würde David Beckham durch den Dopingtest fallen. Oder eben Lance Armstrong. Dein Held scheitert. Viele Leute hatten an das Wunder geglaubt. Träume wurden zerstört. Es gab dieses unschuldige, blauäugige Vertrauen, obwohl wir nicht wirklich verstanden hatten, wie das Banken-Business funktioniert, wie Dinge sich bewegen. Das tut ja niemand. Du siehst einen Tag Milliarden an Profit und am nächsten kommt es zur drittgrößten Pleite in der Geschichte des Kapitalismus. Das erschüttert Fundamente. Natürlich kam es zu großem Misstrauen gegenüber unseren Kontrollsystemen.

Was passierte dann? In welche Phasen lassen sich die Folgen der Krise einteilen?

ANDRI: Erst kam natürlich der Schock, dann die Wut über die regierende Partei. Es folgte eine Protestbewegung – und zusammen mit ihr entstanden viele gute, Hoffnung spendende Ideen. Der soziale Aktivismus kreierte Jobs und fing die Leute auf, die fielen. Da gab es sehr viel positive Energie. Dann wurde eine linke Regierung gewählt. Sie versuchte, einige Dinge umzusetzen, wie etwa die Verfassung neu zu schreiben (Anmerkung: Der Entwurf einer neuen Verfassung erfolgte mithilfe eines Bürgergremiums. Die Isländer konnten ihre Ideen via soziale Medien einbringen). Aber die neue Regierung trug zugleich auch die enorme Schuldenlast. Und so begannen diejenigen, die zuvor an der Macht waren und vieles davon mitverursacht hatten, die neue Regierung schlecht zu machen. Sie kamen mit vereinfachenden Ideen daher, wie die Schuldenlast zu tilgen sei. Auf diese Weise wurden plötzlich die alten Konservativen zu den Aktivisten. Und die neue, linke Regierung sah in den Augen wütender Bürger auf einmal unloyal aus. Unser heutiger Premierminister gehörte zu jenen damaligen Kritikern. Aber jetzt sieht es so aus, als könne er selbst das, was er versprochen hat, nicht halten. Er verbündete sich mit anderen Konservativen, die auf dem Weg waren, aus den Fehlern zu lernen. Aber erstaunlicherweise wurden die noch konservativer als zuvor. Statt aus Fehlern zu lernen, fingen sie an, sie zu leugnen. Und sie zerstörten den schönen Prozess, eine neue Verfassung zu schaffen. Wir sind also durch eine Phase der Hoffnung gegangen, aber dann hat eine Gruppe den Moment gestohlen. Jetzt haben wir diese seltsame Situation, dass es sehr interessante Bewegungen gab, wie etwa die »Beste Partei« von Jón Gnarr, aber auch sehr konservative Reaktionen. Man erkennt so etwas in fast allen Revolutionen, die es gibt.

Jón Gnarr ist der Komiker, der mit seiner Partei „Besti flokkurinn“, die vor allem aus Künstlern bestand, 2010 ins Rathaus von Reykjavík einzog und bis 2014 Bürgermeister der isländischen Hauptstadt war. War die »Beste Partei« erfolgreich?

ANDRI: Ja, sehr. Nicht auf nationaler Ebene, aber auf lokaler. In solchen Krisenmomenten ist es immer möglich, dass Rassisten oder Populisten an die Macht kommen. Aber es war eine Gruppe von sehr humanen, humorvollen Künstlern, die die Verantwortung übernahmen. Sie schafften es, die polarisierte politische Kultur, die in Reykjavík vorgeherrscht hatte, zu zerstören. Es gelang ihnen, die Art, wie man in der Politik miteinander redet, zu ändern. Sie haben etwas Neues geschaffen. Wir haben also beides: sehr schöne Zeichen, aber auch welche, die mir fremd sind.

Glaubst du daran, dass ein Land sich neu erfinden kann?

ANDRI: Ich glaube, dass diese Dinge sehr langsam vor sich gehen. Und gerade in diesem Zusammenhang ist es interessant, wie Entwicklungen wahrgenommen werden. Liest man zum Beispiel spanische Medien, steht dort: Island hat alle seine Banker verhaftet, eine neue Verfassung geschaffen und ein anderes politisches und wirtschaftliches System errichtet (lacht). Und wenn du ihnen dann erzählst: Das stimmt nicht, es ist in Wirklichkeit komplizierter und langweiliger, dann schreiben sie trotzdem noch den gleichen Artikel. Es geht ihnen nicht wirklich um Island an sich, sie wollen selbst erleben, dass etwas Neues geschieht. Und indem sie den Leuten erzählen, dass das geht, glauben sie auch, dass es in Spanien wahrscheinlicher ist.

Es geht also immer um eigene Interessen.

ANDRI: Ja. Oder nehmen wir das deutsche Island-Bild: In Deutschland würde man so gern daran glauben, dass man es schaffen kann, eine Art Pferdeflüsterer zu sein und trotzdem eine moderne Person. Jemand, der ein schönes Zuhause hat und ein Auto und trotzdem noch mit Elfen redet. Ihr wünscht euch, dass es einen Ort gibt, an dem man fortschrittlich sein kann, ohne die Unschuld zu verlieren und die Natur zu zerstören. Diese Art von Geschichte ist in Deutschland sehr beliebt.

Und was ist die isländische Geschichte, der isländische Traum für die Zukunft, von dem du beim Zukunftscamp sprechen wirst?

ANDRI: Ich würde in meinem Vortrag gern eine größere Diskussion anregen, in der es nicht um Island geht, sondern darum, inwiefern, die Dinge, die in Island passieren, Größeres widerspiegeln. Ich möchte zum Beispiel die Frage stellen: In welcher Blase stecken wir eigentlich jetzt?

Glaubst du, wir springen von Blase zu Blase?

ANDRI: Ja, recht oft. Ich würde gern zeigen, wie große Systeme siegen, obwohl es Informationen gibt, die uns eigentlich mitteilen, dass wir auf dem Weg sind, Fehler zu begehen. Das macht einen schon skeptisch. Es ist doch erstaunlich, nirgendwo sonst in der Welt gab es mehr Leute mit Doktortiteln pro Quadratmeter als in den Institutionen, die für unsere Krise verantwortlich waren und nirgendwo sonst gab es mehr Risikomanager pro Einwohnerzahl. Und trotzdem gab es bei uns die drittgrößte Pleite in der Geschichte des Kapitalismus. Das lässt einen über das Fällen von Entscheidungen und über Systeme nachdenken. Oder darüber, dass wir oft Informations-Blasen kreieren, die keinen Zugang zu anderem Wissen haben, das dafür sorgen könnte, dass wir ein umfassenderes Bild von dem bekommen, was wir hier eigentlich tun. Darüber habe ich mir in den vergangenen drei Jahren sehr viele Gedanken gemacht: Wie kann das passieren, obwohl wir die Informationen haben? Die isländischen Banken zum Beispiel hatten im Jahr 2006 bereits eine Mini-Krise. Aber zu keinem Zeitpunkt wurde mehr riskiert als im Jahr 2007. Selbst nach der Warnung fuhr man volle Kraft voraus. Das finde ich sehr interessant.

Worüber wirst du in deinem Vortrag also sprechen?

ANDRI: Es wird darum gehen, wie erstaunlich das menschliche Verhalten sein kann, die Bildung, das Fällen von Entscheidungen und das Kreieren von Blasen. Haben wir vielleicht missverstanden, was eine umfassende Ausbildung ist? Kreieren wir eine Mono-Kultur des Wissens? Verdreht Geld die Art, wie wir denken? Es ist ja bemerkenswert: Was die Banken betraf, gab es keine Alternative. In der Musik ist es anders: Wir können entscheiden, ob wir zu der Aufführung eines Symphonie Orchesters gehen, ein Death Metal-Konzert besuchen oder einem Minnesänger lauschen. Aber die Banken scheinen nur Death Metal anzubieten. Warum gibt es eigentlich kein Symphonie-Banking? Weil alle – sei es in Kolumbien oder in Harvard – lernten, die Banken auf Death-Metal-Art zu führen. Niemand entwarf eine andere Option, ein anderes System.

Hast du denn eine Idee, wohin Island – oder die Welt – aufbrechen könnte oder sollte?

ANDRI: Vielleicht sollte ich einfach mit »Ja« antworten – und den Leuten die Hoffnung geben, dass jemand mit der magischen Pille daher kommen kann (lacht). Nein, das ist es, was ich sagen will. Ich habe keine Lösung, aber ich habe einige verblüffende Beispiele menschlichen Verhaltens. Und ich kann erzählen, was man aus der isländischen Situation lernen kann – Gutes wie Schlechtes. Ich kann keine Entscheidungen für andere fällen. Aber ich kann hoffen, dass mein Vortrag dazu führt, dass jemand eine gute Entscheidung trifft.

 

VERANSTALTUNGSHINWEIS

».vernetzt # Das Zukunftscamp 2014« 
All is lost – Nichts ist schon zu spät.
Vorträge und künstlerische Beiträge rund um die Gestaltung einer besseren Zukunft.
HOHE LUFT Chefredakteur Thomas Vašek wird am 11.10. um 19 Uhr das Gespräch »schöner Scheitern – Brauchen wir einen Neustart?« mit Kerstin Bund, Dirk Knipphals und Greta Taubert moderieren.

9. – 11. Oktober mit und auf KampnagelJarrestraße 20, 22303 Hamburg
sowie der ZEIT Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.
Der Eintritt ist frei. 

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