HOHE LUFT
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Die Kunst des Kunstverständnis‘

Kunst boomt. Deutsche Museen verzeichnen jährlich konstant über 100 Millionen Besucher – Tendenz steigend. Doch nicht nur die Besucherzahlen steigen, auch die Unsicherheit in Gegenwart moderner Kunst wächst. Als hätte Schriftsteller Edmond de Goncourt einen Blick in die Zukunft gewagt, stellte er vor über 135 Jahren fest: „Niemand auf der Welt bekommt so viel dummes Zeug zu hören wie die Bilder in einem Museum.“

Vom Minimalismus erdrückt, fällt es schwer, Einblick in die tiefere Botschaft eines kleinen schwarzen Punkts auf weißer Leinwand zu erhalten. Wie gut, dass wir auf das Urteil der Kunstelite zurückgreifen können. Oder? Ganz im Gegenteil, wettert Alain de Botton, Philosoph und Mitbegründer der School of Life in London. Wir müssen nicht für wichtig halten, was Andere für wichtig halten: Wenn wir im kleinen schwarzen Punkt die schönste Liebeserklärung aller Zeiten erkennen wollen, so ist das unser gutes Recht. Mehr noch: De Botton sieht darin sogar die Erfüllung des Sinns von Kunst. Kunst ist nichts eindeutig Festgelegtes, sondern eine Einladung zur Spiegelung unseres Selbst. Indem wir uns den Freiraum nehmen, Kunst unvoreingenommen zu betrachten, reflektiert sie unsere Bedürfnisse und Sehnsüchte.

Anfang 2014 versuchte de Botton eine Lanze für seine These „Kunst ist Therapie“ zu brechen: Er versah 150 Kunstwerke des Amsterdamer Rijksmuseums mit übergroßen Klebezetteln, die dazu aufforderten, einen persönlichen Bezug zum jeweiligen Kunstwerk herzustellen. Neben Adriaen Coortes Walderdbeeren stand in schwarzen Lettern auf gelbem Hintergrund: „Ich will die Scheidung“. De Bottons Ansatz: Coortes Gemälde zeigt nicht nur eine Schale Erdbeeren, sondern eine Aufforderung zur Auseinandersetzung mit uns selbst. Tausendmal schon haben wir Erdbeeren gesehen und gekostet, aber wann haben wir das letzte Mal ihre Schönheit bewundert? Wann haben wir das letzte Mal wertgeschätzt, was wir an Erdbeeren haben? „Was Coorte mit den Erdbeeren tut, sollten wir mit unserem Leben tun. Vor allem mit unseren Geliebten.“, rät der Klebezettel.

Der Post-it-Philosoph musste sich dafür Kritik gefallen lassen: Ihm wird nachgesagt, dass er im Versuch, die Kunst von Bevormundung zu befreien, selbst zu bevormunden begonnen hat. Ein grobes Missverständnis: Seine Klebezettel sind keine Wegweiser, sondern Beispiele. „Ich will die Scheidung“ hätte genauso gut „Ich sehne mich nach Schönheit“ oder „Ich bin traurig“ heißen können. De Botton hält uns dazu an, genauer hinzusehen. Wenn uns das gelingt, können wir durch Walderdbeeren zu uns selbst sprechen.

– Christina Geyer

VERANSTALTUNGSHINWEIS
ART.FAIR 2014
24.-27.10.2014 in der Koelnmesse (Halle 1&2)

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