HOHE LUFT
Schreibe einen Kommentar

Vom Verschwinden der Dinge

Leerstehende Fabriken, Industrieruinen, verlassene Villen, ausrangierte Güterwagen – das lässt die Herzen sogenannter „Urban-Explorer“ höher schlagen.

Eine von ihnen ist die freiberufliche Journalistin und Informationsarchitektin Anna Livsic. Sie lebt in Berlin und betreibt ein Blog, das sich mit der Magie verlassener Orte auseinandersetzt. In Berlin etwa verändern sich ganze Straßenzüge innerhalb kürzester Zeit – sie verkommen zu teuren Betonwüsten. Ohne Herz, Sinn und Verstand.

Eine Kolumne von Anna Livsic.

Vor einigen Jahren bin ich in die Chausseestraße gezogen. Es ist eine Straße der mittelmäßigen Hässlichkeit, die Berlins Bezirke Mitte und Wedding verbindet. Alles war hier zu finden, Plattenbauten und dunkle, gemütliche Häuser aus der Gründerzeit und verlassene Fabriken mit leeren Fenstern und buntem Gestrüpp vor den schweren Metalltoren. Im Innenhof des „Viva Mexico!“ Hauses lagen Künstlerateliers. Was dort alles geschah, kann ich nicht erklären. Ein Hämmern und Schamanenrufe waren zu hören. Ein Mal ging das Tor auf und ein bärtiger und betrunkener Don Juan fiel heraus. Er sprach Gedichte von Bertolt Brecht und schenkte mir einen dicken Pinsel aus echtem Eichhörnchenhaar. Ob Zufall oder Wissen dem Bärtigen die Zunge lenkte, an der Chausseestraße 125 lebte tatsächlich Bertolt Brecht. Er wohnte im ersten Stock des Hinterhauses und seine Frau Helene Weigel im zweiten.

So ein Eheleben stelle ich mir sehr praktisch vor. Wenn Frau Weigel danach war, ging sie zu Brecht die Treppen hinunter. Sanftes Licht und die Abendstunde in der alle Frauen gut aussehen. Alles, was gewöhnlich macht und desillusioniert, blieb draußen. Alles, außer Kunst und Poesie. Der bärtige Don Juan schrie Brechts Gedicht in den apfelgrünen Himmel. Ich weiß nicht, ob er auch ein Romantiker war, aber etwas bewegte ihn sehr: „Die Gute, die dem Liebsten nichts verwehrt Und sich ihm hingibt für den Fall des Falles Muß wissen: Guter Wille ist nicht alles Begabung ist’s, was er von ihr begehrt.
Selbst wenn da mit der Schnelligkeit des Schalles Ihr Ichbindein sich in den Beischlaf kehrt – Er legt so viel nicht auf die Eile wert
 Bei der Entleerung seines Samenballes“… Ich lebe am anderen Ende der Chausseestraße, nicht allzu weit von Brechts Haus entfernt. Im Grunde trennt uns ein monströser Krater – das Fundament der neuen Bundesnachrichtenagentur. Den Krater umgibt ein brauner Zaun, vollgespritzt von Hunden, Menschen und vorbeifahrenden Autos. Über dem Zaun blinken die Überwachungskameras. Später wird sich aus dieser Kulisse ein ominöser Baukomplex in der Größe einer chinesischen Provinzstadt erheben. Er würde selbst dann wachsen, wenn die Medien im Stundentakt vom Verlust seiner Baupläne berichteten. Momentan erzittert durch den Baulärm meine Wohnung und eine zarte cremefarbene Orchidee samt glänzenden Blumentopf stürzt sich im Suizidversuch vom Regal. Auf dem Boden liegen bereits weitere Selbstmordkandidaten, ausgebreitet in unnatürlichen Posen. Es ist ein Portugal Reiseführer und ein Meditationshandbuch.

Meditieren ist nicht wirklich mein Ding. Und rauschende Küsten Portugals sind zu weit weg. Was ich brauche ist einfach nur Ruhe. Der Friedhof der französischen Gemeinde ist nur einen Katzensprung von meiner Wohnung entfernt. Dieser Friedhof ist ein prächtiger Ort. Eine Allee aus meterhohen Tannen gibt es hier und darunter uralte und verwischte Grabsteine. Die Ruhestätte von Theodor Fontane und seiner Frau schwimmt wie ein glänzendes schwarzes Luxusboot im Meer von einfachen Holzdschunken und ist ein Ergebnis der modernen architektonischen Huldigung.

Ich lege mich neben dem Eingang auf eine Wiese und schließe die Augen. Früher standen auch hier die Gräber. Dann kam die Berliner Mauer. Jetzt wächst hier ein Teppich aus Gänseblümchen und davor das „Betreten verboten“ Schild. Eine Rentnerin sieht meine nackten Arme und Beine und schüttelt bestürzt den Kopf. „Unverschämt“, zischt sie und schlürft davon. Ich will ihr etwas antworten, doch alle Worte machen augenblicklich keinen Sinn. Die Dinge sind nur so viel Wert, wie viel Bedeutung wir ihnen beimessen. Für mich ist es nur eine Blumenwiese. Für sie ist sie mehr als das. Überhaupt ist es so eine Sache mit den Dingen und ihrer Bedeutung. An der Ecke zur Liesenstraße befindet sich eine alte Fabrik. Sie steht auf einem großen leeren Areal, Bäume wachsen an ihrer gelben Wand. Daneben ist ein Fragment der Berliner Mauer. „Yuppies fickt euch“ und andere Liebesbekenntnisse zieren seine Oberfläche. Die Mauer wurde für eine Filmproduktion hergebracht und nicht mehr abgeholt. Vielleicht wurde sie einfach vergessen.

Touristen kommen auf Fahrradtouren hierher. Sie tragen gelbe Warnwesten und zucken ihre Smartphones. Es ist ihnen egal, dass einige Meter weiter eine Gedenkplatte aus hellem Metall im Asphalt schimmert. Dort, wo früher die echte Mauer verlief.
Menschen sehen die dunklen Fenster der Fabrik und den bunten Staub auf ihren Schuhen. Der „Grenzübergang Chausseestraße.“ war früher hier, erklärt ihr Guide und zeigt eine Postkarte mit der Aufschrift „Sie verlassen den amerikanischen Sektor“, in schwarzen Lettern, in drei Sprachen. Jemand hebt ein paar helle Steine auf und steckt sie in die Jackentasche. Ein Stück Geschichte zum Mitnehmen. Ein Gefühl, das echt ist. Das ist Berlin.
Und hinter den Häusern ragt die Spitze des Fernsehturms hervor. Nur wenige Minuten von hier pulsiert die Stadt. Club Mate schlürfende Mädchen in Flip Flops und Hipsterjungs in engen Hosen und Hundescheiße mitten auf dem Trottoir.

Touristen setzen sich auf die Fahrräder und treten in die Pedalen. Manche drehen sich um und machen noch ein letztes Bild. Sie wissen nicht, dass sie diesen Ort nie wieder sehen werden. Denn im Herbst rücken die Bagger an. Sie reißen die Dächer von den Ateliers und zermalmen die alte Fabrik. Sie vernichten alles, was keinen Wert und keinen Namen hat und deshalb so lieb und teuer ist. Sie sind unersättlich, diese fetten Rhinozerosse mit ihren Kiefern aus Stahl. Ein ominöser Betonkomplex in der Größe einer chinesischen Provinzstadt wächst nun hier aus dem Boden. Von „Luxus“ und „Appartements“ ist die Rede. Schön wird sie nun, die Chausseestraße, die Berlins Bezirke Mitte und Wedding verbindet. Schön und glatt und ohne Seele, ohne Herz und ohne Verstand. Nie wieder wird mir hier ein bärtiger Don Juan mit einem Pinsel aus echtem Eichhörnchenhaar begegnen, nie wieder Bertolt Brecht unter dem spätabendlichen, apfelgrünen Himmel. Oder Gänseblümchen unter den Füßen. Dafür Beton, feinsäuberlich, grau und teuer.

– Anna Livsic

© Anna Livsic

© Anna Livsic

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert