Große Fragen zeichnen sich dadurch aus, dass jeder kluge Kopf sie auf seine Weise beantwortet. In unregelmäßigen Abständen stellen wir in HOHE LUFT interessanten Persönlichkeiten große Fragen. Unsere zweite große Frage im aktuellen Heft lautet: »Vermissen Sie Gott?« Die Antwort von Volker Gerhardt, Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, hat leider nicht komplett ins Heft gepasst. Da wir Ihnen seine ausführlichen Gedanken aber nicht vorenthalten wollen, kommt hier seine ganze Antwort.
1. „Vermissen Sie Gott?“ Mir diese Frage zu stellen, nehme ich niemandem übel. Schließlich gibt es einen von mir geschätzten Philosophen, dem die Behauptung zugeschrieben wird, Gott sei „tot“. Also braucht man nur anzunehmen, dass Nietzsches Wort für mich verbindlich ist, dass ich Gott selbst zu den lebendigen Wesen gerechnet habe und dass mir ein solcher Gott irgendetwas Positives bedeutet haben könnte. Und schon kann man schließen, ich müsse etwas „vermissen“. Also sollte ich für die anteilnehmende Frage dankbar sein.
Doch die Dankbarkeit hält sich in Grenzen. Denn erstens meine ich nicht, dass man einem Philosophem, er mag noch tief- und abgründig sein, alles abnehmen sollte. Zweitens wäre ich nie auf die Idee gekommen, Gott für ein Lebewesen zu halten, das (wie es bei lebenden Wesen üblich ist) der Tod ereilen kann. Und drittens bin ich sicher, dass der Philosoph keinen faktischen Todesfall konstatieren wollte, bei dem ein zuvor für jeden greifbarer Gott plötzlich nicht mehr unter den Lebenden ist.
Nietzsche hat das viel zitierte Wort zunächst einem „tollen Menschen“ in den Mund gelegt, der damit gewiss keine philosophische These vertreten wollte. Und wenn das Wort in Also sprach Zarathustra wiederholt wird, muss man bedenken, dass der fiktive Prophet sich an der unerfüllbaren Aufgabe versucht, in seinen mit Weisheit getränkten Reden zur „Unschuld“ des Kindes zurückzukehren.
Lassen wir also als Erwachsene von Fragen ab, die so tun, als fänden wir auf das Niveau eines kindlichen Glaubens zurück. Natürlich vermisst jeder, der das Glück hatte, an den Weihnachtsmann oder das Christkind glauben zu können, die Vorfreude auf eine Auszeichnung durch ein himmlisches Geschenk. Aber sobald man einmal weiß, wie es zu den Festtagsgaben kommt, tut man gut daran, sich im menschlichen Miteinander so zu verhalten, dass man weiterhin etwas geschenkt bekommt.
Zwar kann man die Seligkeit des kindlichen Glaubens vermissen; nur sollte man dann nicht vergessen, was dieser Glauben einschließen kann, wenn er im Bewusstsein einer Schuld oder in Erwartung höllischer Strafen fortbesteht.
Nietzsche selbst hat übrigens diesen nachteiligen Aspekt des Glaubens für den wichtigeren gehalten. Er war der Ansicht, dass der erwachsene Mensch (für den er natürlich vorrangig schrieb) durch den Glauben an Gott der Willkür priesterlicher Bevormundung ausgesetzt sei und nur zu leicht in Unmündigkeit gehalten werden könne. Er also hätte auf die Frage: „Vermissen Sie Gott?“ antworten müssen, er vermisse gar nichts, sondern er fühle sich befreit – vor allem auch in der Verantwortung, die der Mensch nun ausdrücklich allein für sein Dasein zu tragen habe.
2. Romantik der Kritik. Die Betonung der Verantwortlichkeit des Menschen ist der Punkt, der an Nietzsches fragwürdiger Diagnose vom „Tod Gottes“ philosophisch bedeutsam ist. Wir brauchen nur in Rechnung zu stellen, dass der alles andere als „unzeitgemäß“ denkende Autor ein psychologisch und soziologisch hellhörig gewordener Ideologiekritiker des 19. Jahrhunderts ist. Ihn beunruhigen die gesellschaftlichen Auswirkungen religiösen Vormundschaft. Er weiß, welche Funktionen einem angeblich realexistierenden Gott in den Weltanschauungslehren der herrschenden Religionen zugeschrieben werden; und er glaubt zu wissen, wer die Vorteile davon hat, Gott als Garanten nicht nur für das Gute, das Wahre und das Schöne, sondern auch für die Ordnung der Dinge und den Wechsel der Zeiten auftreten zu lassen.
Nietzsche war sich im Klaren darüber, dass die Gott zugeschriebenen Leistungen weder theologisch noch philosophisch gerechtfertigt sind. Aus seiner Sicht sind sie nicht mehr als ein Vorwand derjenigen, die vorgeben, den Willen Gottes zu verwalten und zu vollstrecken. Denn letztlich herrschen die Tempeldiener und Kirchenherren nur im eigenen Interesse. Also muss ihre Macht gebrochen werden, um der vollen Souveränität des Menschen zum Durchbruch zu verhelfen.
Dieser dem Geist der Aufklärung folgende kritische Impuls beschränkt sich bei Nietzsche jedoch nicht auf die Vormachtstellung der Schulen und Kirchen. Er steigert die Radikalität und verfällt dabei dem Irrtum, dem religiösen Glauben selbst ein Ende machen zu müssen, wenn es gilt, die Priesterherrschaft zu brechen. Deshalb versucht er so vorzugehen, wie Heinrich Heine es Immanuel Kant unterstellt hatte, als er meinte, der habe „Gott über die Klinge springen und unbewiesen in seinem Blute liegen“ lassen.
Das ist effektvoll gesagt, aber sachlich falsch. Doch es kommt der Revolutionsromantik des frühen 19. Jahrhunderts entgegen. Ihrer Metaphorik bleibt Nietzsche in seiner eindrucksvoll ausgemalten und gewiss auch tief empfundenen Todeserklärung verbunden. Damit hat er eine beachtliche literarische Wirkung erzielt; doch die vom Autor gehegten hohen Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Es sind keineswegs nur die alten Religionen, die weltweit eine wachsende Anhängerschaft an sich binden; es kommen nahezu täglich neue Konfessionen hinzu. Das von Nietzsche ausgesprochene Todesurteil ist historisch folgenlos geblieben.
Ein Grund dafür liegt auf der Hand: In seiner primär psychologisch und soziologisch fokussierten Perspektive hat Nietzsche seinen Begriff von Gott nach dem Modell seiner klerikalen Gegner angelegt und ihn damit genau so verstanden, wie er von den in Unmündigkeit gehaltenen Gläubigen verstanden werden soll. Der Philosoph geht unter sein Niveau, indem er Gott nach Art eines realexistierenden Wesens vorstellt, der als allmächtiger, allwissender und allgegenwärtiger Herrscher wie eine lebendige Person begriffen werden muss. Tatsächlich kann nur ein so konzipierter Gott als sterblich angesehen und für tot erklärt werden. Wer dessen Tod betrauert, wird den Verschiedenen dann auch „vermissen“.
3. Gedankenloser Umgang mit dem Glauben. Nietzsche glaubte gut daran zu tun, sich mit seiner Kritik auf das Terrain seiner klerikalen Gegner zu begeben. Doch er ist damit nicht weiter gekommen, als das Heer der Agnostiker und Atheisten, die alle Religionen von Anfang an begleiten. Mit seinem populistischen Vorgehen hat er den Gottesbegriff verfehlt, den er sowohl aus der philosophischen wie aus der theologischen Tradition hätte kennen können.
Damit bin ich an dem Punkt, der es mir erlaubt, auf die eingangs gestellte Frage zu antworten: So verfehlt es ist, Gott für „tot“ zu erklären, so abwegig wäre es, ihn generell als „vermisst“ anzuzeigen. Im Gegenteil: Jeder der ihn vermisst, bietet den denkbar stärksten Anhaltspunkt dafür, dass er ihn benötigt. Und allein die Tatsache, dass wir Gott benötigen, um einen uns beruhigenden, uns mit Sinn erfüllenden Aufschluss über uns und unsere Welt zu erlangen, ist das sicherste Indiz dafür, dass er für den Menschen von unverzichtbarer Bedeutung ist.
Nietzsche, der als Psychologe wusste, dass der Mensch in allem stets nur nach „geglaubten Motiven“ handeln kann, hat sich in seinem Verlangen, ein Vorkämpfer des Neuen und ein Wegbereiter des freien Geistes zu sein, dazu verleiten lassen, gegen eine naive Vorstellung von Gott ins Feld zu ziehen. Darüber haben er und seine Anhänger vergessen, dass dieser Kampf schon längst erfolgreich von Platon und Aristoteles geführt worden ist.
Ihnen sind alle großen Denker gefolgt, zuletzt Kant, Schleiermacher und Hegel. Auf dem Niveau ihrer zeitgenössischen Einsicht haben sie zu zeigen versucht, wie das Göttliche zu verstehen ist. Alle haben sie auf ihre Weise daran gearbeitet, die mythische Vorstellung von Gott als einem ins Große gerechneten Menschen zu überwinden. Und nun kommt Nietzsche, um diesem vergötterten, alles in seiner Hand haltenden Übermenschen, den die Philosophie schon vor Jahrtausenden überwundenen hat, den Tod zu erklären!
Die kindliche „Unschuld“, mit der Nietzsche hier zu sprechen sucht, ist teuer erkauft. Denn er muss nicht nur alles beiseiteschieben, was freie Geister vor ihm an rationalen Erwägungen über das Göttliche beigesteuert haben. Er muss auch gegen seine eigene Einsicht so tun, als gebe es den Glauben im Grunde nur in der religiösen Ausrichtung auf Gott.
Tatsächlich aber wirkt der Glauben in allem, was Menschen tun. Er wirkt vor allem auch in dem, was sie aus Überzeugung und mit besonderen Nachdruck tun: in der Gestaltung ihres Lebens, in der Sicherung ihrer Zukunft und damit in allem, was sie im Namen von Kultur, Moral, Wissenschaft und Kunst an Kraft und Mühe aufbringen. Und wenn sie sich dabei (wenigsten gelegentlich) fragen, wozu sie das alles tun, gibt es bis heute keine bessere Antwort, als die, auf das unbegreifliche Ganze des Daseins zu verweisen, zu dem das menschliche Leben wohl oder übel gehört.
Und wer in seiner Ernsthaftigkeit das Verlangen hat, diesem Ganzen einen Namen zu geben, der kann es im Anschluss an eine große, vielfältige, gewiss von vielen Irrtümern und Verbrechen belastete, aber doch in sich auch produktive Tradition, „göttlich“ nennen. Eine bessere Bezeichnung für das Ganze, zu dem alles, buchstäblich alles gehört, kenne ich nicht. Sie hat überdies den Vorzug, vom Menschen als eine Herausforderung begriffen werden zu können.
Ein weiteres kommt hinzu: Wer diese Herausforderung durch das Ganze des Daseins persönlich nimmt, dem kann nicht verwehrt werden, das „Göttliche“ als „Gott“ – als seinen Gott – anzusprechen und darin das zu erkennen, was ihn, von allen alltäglichen Anforderungen abgesehen, in seiner, notfalls auch unbedingten, individuellen Verantwortung bestärkt.
Meine Antwort auf die Frage: „Vermissen Sie Gott?“ liegt damit auf der Hand: Vermissen kann ich Gott in nur, wenn ich mich selbst vergesse. Doch in diesem Fall sollte mir seine umfassende Gegenwart hinreichend Anlass geben, wieder zu mir selbst zu finden.[1]
[1] Die mit der hier skizzierten Antwort verbundene rationale Theologie entwickelt der Autor in seiner Studie: Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München 2014. Siehe ferner: Volker Gerhardt, Glauben und Wissen. Ein notwendiger Zusammenhang, Stuttgart 2016, sowie die Beiträge in dem von Michael Kühnlein herausgegebenen Sammelband: Gott und Sinn. Im interdisziplinären Gespräch mit Volker Gerhardt, Baden-Baden 2016.
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