Gilbert Dietrich ist Philosoph, Personalmanager bei der Musik-Streaming-Seite SoundCloud in Berlin und hat den Blog geistundgegenwart gegründet. Im aktuellen Heft spricht HOHE LUFT-Autorin Rebekka Reinhard mit ihm über das Fokusthema »Globale Vernetzung«. Die Langfassung des Interviews lesen Sie hier.
Hohe Luft: Wie hat sich der Musikkonsum bzw. das Musikgeschäft durch das Internet verändert, auch für Sie ganz persönlich?
Gilbert Dietrich: Der Musikkonsum hat sich mindestens so fundamental verändert wie alles andere, das digital abbildbar ist. Und zwar nicht nur so, dass man nun eben seine CD bei Amazon bestellt, anstatt sie im Mediamarkt zu kaufen, sondern so, dass man weder eine physische noch eine digitale Kopie mehr erwirbt und besitzt. Bei Video und Musik geht der Trend ganz klar zum sogenannten Streaming, keiner möchte mehr etwas im Regal stehen haben oder auf seine Festplatten runterladen. Wir sind ja über unsere mobilen Endgeräte 24 Stunden am Tag über Wifi oder 4G online, warum also noch etwas lokal speichern?
Für mich persönlich hat das den Effekt, dass ich viel mehr entdecke. Das liegt natürlich auch an den Empfehlungsfunktionen. Das heißt, wenn ich ein Stück unterwegs auf meinem Smartphone höre und es ist vorbei und ich unternehme nichts, dann spielt ein Algorythmus einen Song ab, der mir gefallen könnte. Und oft gefällt es mir dann auch. Dabei ist wichtig, dass die Ähnlichkeit nicht zu stark ist, sonst gibt es den Entdeckungseffekt nicht. Diese Spannung gilt übrigens ganz allgemein für Musikgenuss: Die Musik muss so komponiert sein, dass es eine gewisse Vorhersagbarkeit der nächsten Töne gibt, die uns dennoch überraschen müssen.
Wie verändert das Netz die Interaktion zwischen Künstlern und Fans? Welche Rolle spielt die Kommunikation zwischen den Fans?
Wo soll man anfangen? Im Grunde verändert das Netz eben alle dieser Dynamiken. Vielleicht sollte man schon damit anfangen, dass das Produzieren und Veröffentlichen von Kunst – besonders von Musik, Video und Text – kein teures Privileg mehr ist. Die Produktionsmittel, vor allem der Computer selbst also, sind erschwinglich und die Veröffentlichungsplattformen sind durch das Internet für jeden zugänglich geworden. Das bietet einer viel breiteren Gruppe von kreativen Leuten die Möglichkeit, ihre Werke unkompliziert zu produzieren und zu verbreiten. Die Bedeutung und die Macht der traditionellen Torwächter in den Verlagen und noch viel mehr bei den Labels schwindet.
Natürlich bietet das Netz eben auch die Möglichkeit zu einem direkteren Austausch zwischen Publikum und Künstler, jedenfalls dort, wo Veröffentlichungsplattformen auf soziale Netzwerke treffen, wie bei YouTube oder SoundCloud. Dort ist der Einfluss der “Konsumenten” durch Kommentare, Remixe oder “Gegenentwürfe” auf die Arbeit der Kreativen natürlich viel direkter. Ich denke sogar, dass die Unterscheidung zwischen Publikum und Künstler gar nicht mehr so einfach ist. Natürlich gibt es auch die bloßen Abspielkanäle, die eher wie ein intelligentes Radio funktionieren und keine bi-direktionale Kommunikation zwischen Künstker und Fan oder Fan und Fan vorsehen.
Einschlägige Anbieter wie Apple Music haben ja Millionen von Titeln im Angebot. Ist das einfach „toll“ und unproblematisch, oder droht durch die schiere Masse der verfügbaren Musik im Netz eine Überforderung?
Überforderung ist ja ein Zustand, der jeweils auf konkrete Menschen zutreffen muss. Da müsste man die Menschen fragen. Wenn Sie mich fragen, so fühle ich mich nicht überfordert, denn ich suche mir ja die Musik, die ich hören will und bin dabei immer durch meine kognitiven Grenzen und durch infrastrukturelle Grenzen wie “Paywalls” oder geographisch verschiedene Lizenzen beschränkt. Ich fühle mich eher visuell überstimuliert, besonders wenn ich versuche, im Internet einen Text zu lesen und bewegte Bilder meine Augen ablenken. Überforderung durch Musik ist leichter zu unterbinden, denn man kann das Gerät einfach stumm stellen und trotzdem weiternutzen.
Welche Rolle spielt das Netz heute bei der Rekrutierung von Mitarbeitern? Welche Schwierigkeiten stellen sich dabei (Stichwort „Selbstvermarktung durch Selbstinszenierung in Sozialen Netzwerken“)?
Erst einmal ist es eine Riesenerleichterung, dass man nicht mehr tausend Umschläge öffnen und dann schreddern oder zurücksenden muss. Das Netz hat also auch hier alles verändert und vor allem die physischen Hürden in der Kommunikation abgebaut. Im nächsten Schritt ist es von Unternehmen zu Unternehmen sicher ganz unterschiedlich. Mein Eindruck ist, dass Selbstinszenierung nur auf den ersten Metern hilft, denn die wirkliche Entscheidung fällt nicht ohne direkten Kontakt und gut strukturierte Interviews. Man muss also auch wirklich das können, was man inszeniert hat.
Welche Auswirkungen hat das Netz überhaupt auf die Beziehungen zwischen den Menschen? Sind wir einsamer – oder sozialer als zu analogen Zeiten?
Wenn ich manchmal richtige “Selfies” sehe, dann beschleicht mich schon der Gedanke, dass das eine einsame Form der Selbstinszenierung ist. Aber im Grunde ist es Quatsch, denn wir wissen ja nicht, was diese Person ohne Smartphone und Facebook oder Instagram gemacht hätte. Vielleicht hätte sie zu Hause einfach vor dem Fernseher gesessen und Talkshows mit Kartoffelchips konsumiert. Das ist noch viel einsamer. Oder denken wir an alte Menschen: Ich freue mich darüber, dass mein Alter durch den Zugang zum Netz und entsprechende Communities geprägt sein wird. Ich werde nicht irgendwo sitzen und Tauben füttern, sondern vielleicht im Park über mein Tablet mit Freunden und Kindern chatten und Fotos austauschen. Unterm Strich ist es also eine Frage der individuellen Nutzung und es kann schon sein, dass wir noch lernen müssen, das Netz wirklich sozial zu nutzen.
Was haben Sie bei Google gelernt und was kann man von Google lernen?
Ganz banal gesagt, habe ich gelernt, wie man Teams und individuelle Mitarbeiter managt und welche Herausforderungen das in so einem sehr modernen Arbeitsumfeld mitsich bringt, z.B. die Zumutung, sich ständig weiter zu entwickeln und niemals stehen zu bleiben. Und das ist auch, was andere Firmen von Google lernen können: Heute ist eine ständige Innovation von Nöten, um sich dauerhaft ganz vorn behaupten zu können. Denken Sie an die frühen Zukäufe von YouTube, Android oder später Motorola, denken Sie an vermeintliche Rohkrepierer wie Google Glass oder Mondprojekte wie selbst fahrende Autos oder flächendeckendes Wifi bereitgestellt von Luftballons. Zig solcher Projekte sind nötig, damit eines ein Erfolg wird. Aber wenn das dann ein Erfolg wird, wie Android oder YouTube, dann sind das eben über Jahre und Jahrzenhte hinweg die führenden Technologien. Eine Firma wie Alphabet (Google) ist keine Internetfirma oder Suchmaschine, sondern eine Ansammlung von Brutkästen im Zukunftslabor.
Wie sehen Sie die Kritik an der Macht der Internetkonzerne (Datensammelei usw.)?
Das ist beides: ein großes Problem und ein großer Witz. Die pragmatischen Amerikaner lachen sich kaputt über unsere alteuropäische Naivität und unser Beharren auf eine impermeable Identität. Und wir stehen da, wollen immer nur verhindern, dass etwas passiert, aber selbst etwas Produktives beitragen, das können wir nicht. Dass dieselben Pragmatiker das gesamte Internet inzwischen zur E-Commerce-Plattform degradiert haben, finde ich widerwärtig aber ich glaube nicht, dass das ein bestimmendes Thema der Zukunft wird. Mit Kriegen, Naturzerstörung und weltweiter Klimaerwärmung haben wir größere Probleme als das.
…aber sehen Sie konkrete Gefahren des Internets? Worin würden die liegen?
Mal abgesehen von Cyber-Attacken auf Drohnen und Atomkraftwerke und ähnliche James-Bond-Szenarien, ist die größte Gefahr, dass das Internet sich selbst abschafft. Facebook ist beispielsweise so angelegt, dass Nutzer diese Blase gar nicht mehr verlassen müssen. Sie bekommen das Gefühl, dass dort alles verfügbar ist, was für sie zählt. Sie werden abgeschirmt von wirklichen Diskursen und finden sich wieder zwischen Kätzchen und Baby-Fotos, mit denen man sich ohne Zweifel die Zeit vertreiben kann. Facebook versucht Chat-Funktionen, Videos, Musik, Games, E-Commerce und alles, was man sonst so im Internet findet, zu vereinen, damit der Nutzer die Blase nicht verlassen muss. Mich verblüfft, dass wir immer wieder Technologien entwickeln, die überaus kollaborativ und kreativ sein können, aber am Ende schaffen wir es doch, die große Mehrzahl der Nutzer in ihrer Rolle als Konsumenten festzuschnallen. Das Rhizom, das horizontale, untergründige Geflecht ohne Hierarchien, als das wir das Netz in den 90er Jahren noch gefeiert haben, verholzt zusehends und vertikalisiert sich. Es ist also weniger eine große Gefahr, die ich sehe, als das Vertun, einer großen Chance.
Wo liegen für Sie die Grenzen globaler Vernetzung?
Ich fürchte, es gibt sie beinahe gar nicht. Außer in den Menschen selbst. Die Idee vom Global Village ist doch wohl ein Euphemismus. Naürlich sehen wir heute schneller, deutlicher und intimer, wenn ein Tsunami über Urlaubsparadiese rollt oder wenn jemand in Syrien von schwarzmaskierten Fanatikern enthauptet wird. Aber was ändert es wirklich? Haben wir jetzt mehr Mitleid? Ich glaube, dass es uns gesellschaftlich und politisch zwingt, das zur Kenntnis zu nehmen und damit umzugehen. Und das ist schon mal gut. Aber es macht uns nicht zu einer globalen Sippe, wie wir auch in der heutigen Flüchtlingssituation merken. Wir fallen weiter in Familien, Stämme und Nationalitäten auseinander. Die Wirtschaft, das Geldwesen, all das wächst zusammen, aber das ist kein globales Dorf, sondern ein weltweiter Marktplatz, zu dem nur noch Hochfrequenzrechner Zugang haben.
Was ist für Sie Privatsphäre, die im Netz unbedingt geschützt werden muss?
Das muss jeder für sich selbst definieren und dann durchsetzen. Um das tun zu können, müssen die Leute kompetent im Umgang mit den Maschinen werden. Das wird in Zukunft mit dem “Internet der Dinge” noch eine viel größere Herausforderung, denn spätestens dann, wenn unser Haus mit unserem Auto, dem Wetterdienst und dem Supermarkt vernetzt ist, verlieren wir die Kontrolle über die von uns ins Netz entlassenen Daten. Heute ist es noch so, dass ich zwischen Nutzen und Risiko abwäge. Meine bisherige Einschätzung ist, dass Öffentlichkeit helfen kann, wenn man seine Ideen in Umlauf bringen möchte. Die Risiken, die damit verbunden sind, dass ich meinen Namen und mein Bild veröffentliche, sind gering, solange ich Kontrolle darüber habe. Natürlich würde ich keinem Hersteller für Blutgerinnungsmittel oder Insulin auf Facebook folgen, wenn ich noch eine Lebensversicherung abschließen oder die Krankenkasse wechseln will. Nicht, dass das jetzt bereits ausgewertet wird, aber die ökonomischen Anreize sind zu groß, als dass so etwas in Zukunft keine Rolle spielen würde.
Sie schreiben sich eine „schizoide Disposition“ zu. Können Sie erklären, was Sie damit meinen? Kann man sagen: Das Internet stellt gerade für Menschen wie Sie eine große Erleichterung dar, was die Kommunikation mit anderen betrifft?
Ich bin kein Psychologe und vielleicht ist das ein veralteter Begriff. Ich habe ihn von Fritz Riemanns Grundformen der Angst. Im Grunde ist es eine Form des Einzelgängertums gekoppelt mit einer Schwierigkeit im offenen Umgang mit Gefühlen. Wenn Sie mich das so fargen, dann denke ich sofort zurück an Ihre Frage zur Privatssphäre. Das ist jetzt schon grenzwertig. Was, wenn mein nächster Arbeitgeber meinen Blog oder die HOHE LUFT liest? Aber es geht mir nicht um Prsönlichkeitsstörungen, sondern um Dispositionen. Das heißt, ich bin eher ein Einzelgänger und kein Gruppenmensch und das ist kein Problem, sondern eine Präferenz. Wir brauchen alle möglichen Typen von Menschen in dieser Welt. Der Artikel beschreibt, wie wichtig es ist, seine Dispositionen zu kennen und damit gestalterisch umgehen zu können.
Interessant finde ich, dass meine Artikel rund um Introvertierte, Schizoide und Misanthropen dauerhaft die höchsten Besucherzahlen und hunderte von Leserkommentaren von Menschen erhalten, die sich dadurch angesprochen fühlen und sich mit diesen Charakterisierungen identifizieren. Ich denke, das Internet ist eine große Erleichterung für alle Introvertierten, Schizoiden oder sonstwie übersensiblen Menschen. Hier kann man sich mit unzähligen anderen Menschen austauschen, ohne den für diese Menschen nötigen Schutzraum zu verlassen. Ein großer Gewinn! Was meinen Sie, warum die Geeks und Sonderlinge heute die Leute sind, die das meiste Geld verdienen? Weil sie sich in der Jugend gern zu Hause einschlossen, um Systeme zu hacken. Unsere auf Technologie basierende Wirtschaft benötigt heute genau diese hackenden Sonderlinge.
Wie sollten und könnten Philosophen das Netz nutzen? Gibt es so etwas wie eine spezielle „Netz-Philosophie“, die unser Denken und Schreiben verändert?
Ich meine, dass das Netz für Philosophen vor allem ein prima Medium sein kann, das sie erst mal ernst nehmen sollten, um überhaupt noch jemanden zu erreichen. Wenn Philosophie einen Anspruch darauf hat, auch außerhalb der akademischen Diskurse relevant für uns alle zu sein, dann muss sie neben den Inhalten auch die Wege finden, uns zu erreichen. Das ist doch ein Traum für die Philosophie: Auf bisher ungekannt leichte Art und Weise können wir Menschen mit Texten, Bildern, Videos und Podcasts erreichen. Da wird schnell eingeworfen, dass man da ja mit einer Menge Müll konkurriere und daher kaum sichtbar werden könne. Das stimmt aber nur dann, wenn man das Medium nicht versteht, wenn man nicht weiß, wie man sich selbst aus dem Müll hervorhebt. Der sogenannte Longtail – also die vielen Menschen, die über die Welt verteilt an weniger populären Inhalten interessiert sind – kann zum ersten Mal gebündelt ohne Hürden und Schranken direkt zu Hause erreicht werden. Das Schöne ist ja: Wir Philosophen müssen diese Menschen gar nicht finden, denn sie suchen uns aus eigenem Antrieb. Wir müssen daran arbeiten, auffindbar und lesbar zu sein und das kann man nur, wenn man das Netz und seine Nutzer versteht.
Ein Philosoph, der das verstanden hat, ist Alain de Botton. Mit seinem YouTube-Kanal, dem digitalen und sich ständig erweiternden “Book of Life” und Ted Talks zur Philosophie erreicht er über das Netz Millionen Menschen weltweit und arbeitet mittlerweile an Franchise-Konzepten seiner School of Life in der ganzen Welt. Und wenn man sich die Themen ansieht – Wie finde ich die richtige Arbeit?, Wie funktioniert Liebe? oder Wie geht Gemeinschaft ohne Religion? – dann versteht man, wie sehr relevant Philosophie für den Alltag sein kann, ohne dass sie dazu trivial sein muss. Ich hatte auch Sympathien für das Philosophische Quartett oder die Sternstunde Philosophie vom SWR, aber wir merken diesen Formaten die Schwerfälligkeit der alten mono-direktionalen Medien an. Das ist weit von einer Mediennutzung entfernt, die auch die neuen Generationen erreicht.
Wie lange halten Sie es aus, offline zu sein?
Ich bin ja kein Digital Native, sondern gewissermaßen ein Immigrant. Ich kenne ein Leben vor dem Netz, aber ich sehne mich nicht danach zurück. Entzugserscheinungen habe ich nicht. Im Urlaub, in der Natur oder mit Freunden kann ich auch unbegrenzt offline leben. Im Alltag liebe ich das Netz vor allem, wegen seiner Möglichkeiten, produktiv und kreativ zu sein. Ich kann mir kein Leben mehr vorstellen, in dem mich irgendwelche Programmdirektoren per TV unterhalten und ich darf nichts erwidern.