HOHE LUFT
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Muscheln sammeln gegen den genealogischen Abgrund

Kein Stuhl bleibt leer in der Denkerei, Berlin-Kreuzberg. Und immer noch strömen neue Zuhörer in den Raum. Es sind die echten Fans, die ohne Anmeldung, die auf den Stehplätzen. Es ist die Südkurve der Philosophie, und sie grölt heute für Sloterdijk.

Der Meister hat mal wieder mit Tinte gekleckst. Ergebnis: „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“. Ein gewaltiges Feuerwerk deutscher Sprache, das jedem die Haare versengt, der sich frei wähnt, wirklich Neues zu erschaffen. Denn die schrecklichen Kinder sind Bastarde. Jene, die sich von allem lossagen, ohne Rücksicht auf Vor- und Nachfahren: Die Napoleons, die Marcel Duchamps, die Avantgarde. Das Bürgertum ist empört, und Klassensprecher Sloterdijk weist die Frechdachse in ihre Schranken. Keine Zukunft ohne Herkunft!

Heute sitzt der Autor selber auf dem heißen Stuhl. Zumindest ist es das, was Gastgeber Bazon Brock verspricht. Wolfgang Ulrich und Beat Wyss sollen Sloterdijk zeigen, was sie von seiner intellektuellen Rolle rückwärts wirklich halten. Zum Glück hat Brock diese beiden angefragt. Wer will schon echte Kritik hören, wenn er sich an einem kalten Mittwochabend aus seinem Ohrensessel quält? So nutzen die vier Freunde, die an der selben Hochschule lehren und forschen, den Abend lieber zu einer obszönen Schau ihres enormen kulturhistorischen Wissens. Das Publikum darf in der Mannschaftsdusche Mäuslein spielen, wenn es mal wieder heißt: Wer hat den Größten?

Bazon Brock begrüßt das Publikum mit „Hallo Sterblinge“. Eine seltsam unangemessene Betitelung, sitzt hier doch keine Avantgarde, sondern die Rollkragen-und-roter-Schal-Aristokratie. Und wie heißt es bei dem U-Literaten G.R.R. Martin: Was tot ist, kann niemals sterben. Doch vielleicht ist das auch alles Absicht, und die Begrüßung nur der Auftakt einer subversiven Performance über Inkohärenz.

Die versprochene inhaltliche Kritik interpretiert Beat Wyss immerhin als Einladung, über vergangene Spaziergänge durch Rom zu sinnieren. Munter springt er dabei von Keynes zu vitalistischen Neo-Nitzscheanern, um anschließend Kronos’ Entmannung als Blaupause des Christentums zu interpretieren. Der Jongleur belustigt den Pöbel.

So könnte es ein herrlich selbstbeweihräuchernder Abend sein, wäre da nicht Sloterdijk. Sloterdijk scheint der einzige zu sein, der wirklich Interesse daran hat, sein Buch zu kritisieren. Was ihm durchaus gelingt, wenn er denn mal zu Wort kommt. In der Diskussion seiner eigenen Schrift offenbart sich ein anderer Sloterdijk, als der Autor der schrecklichen Kinder, der dem Leser begegnet. Sloterdijk tritt dort auf als beleidigter Bildungsbürger, der sich in die gute alte Zeit zurück sehnt, eine Zeit, wo jeder seinen Platz kannte – so wie vor der französischen Revolution. Was muss das für ein Paradies gewesen sein, als selbstzufriedene Aristokraten noch nicht von einer sich professionalisierenden Avantgarde verdrängt wurden. Als man es sich leisten konnte, seine Talente verkümmern zu lassen, weil man sich als Endstufe einer geistigen Entwicklung wähnte.

In der Denkerei hingegen zeigt Sloterdijk ein neues Gesicht: Den ironisch Konservativen. Als Lektüreschlüssel bietet er uns eine autobiographische Verordnung an. Wer wie Sloterdijk in den 60er Jahren jung war, besaß keinen geistigen Stammbaum, sondern stand vor einem genealogischen Abgrund. Eine Anbindung an das Erbe der Vorgängergeneration war unmöglich. Ist es da verwunderlich, dass manch einer loszieht, um in der Geschichte nach verwertbarem „Strandgut“ zu suchen, wie Sloterdijk es nennt? Er, dem kein Erbe ausgehändigt wurde, will schlichtweg alles prüfen – und behalten, was gut ist. Das ist ein ehrlicher und angemessener Umgang mit Tradition und Erbe. Er würdigt die Herkunft ohne Angst vor Selektion.

Das Meer spült vieles an. Die Kunst ist, die richtige Auswahl zu treffen. Sloterdijk hat ein feines Gespür. Er könnte einer der bedeutendsten öffentlichen Intellektuellen Deutschlands seien, könnte wichtige Impulse im gesellschaftlichen Diskurs setzen. Stattdessen zieht er es immer noch vor, mit Freunden Muschelsammlungen zu vergleichen. Schade eigentlich.

Robin Droemer

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