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Mehr, noch mehr, alles!

Der Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe HOHE LUFT widmet sich dem Thema Wachstum. Auch bei den Sieben Todsünden geht es letztlich um (übersteigertes) Wachstum – und dessen Schattenseiten. Ein guter Anlass, über sie nachzudenken.

Text: Rebekka Reinhard

Der Mensch ist ein zwischen Tugend und Laster schwankendes Mängelwesen. Die Mitte zwischen zwei Extremen zu halten, fällt ihm schwer. Ab und zu muss er über die Stränge schlagen und richtig böse werden; sonst, wie es scheint, kann er das Leben nicht aushalten.

Für Aristoteles (384–322 v. Chr.) waren Laster das Ergebnis schlechter Gewohnheiten; Thomas von Aquin (1224–1274) sah sie als sündhafte Opposition menschlichen Willens gegen Gottes Willen an. Immanuel Kant (1724–1804) wiederum schrieb Fehltritte bestimmten Charaktertypen zu: dem Geizigen, Wollüstigen oder Hochmütigen.

Dass Sündhaftigkeit und Charakterlosigkeit auch Vorteile haben, das glaubte der niederländische Arzt, Philosoph und Sozialtheoretiker Bernard de Mandeville (1670–1733). In seiner berühmten »Bienenfabel« vertritt er die provokante These, dass es nicht die christliche Nächstenliebe ist, die das Gemeinwohl fördert, sondern der Neid und das Konkurrenzdenken des Einzelnen.

Gegen die Kargheit des Christentums setzte de Mandeville die Opulenz als Signum des (kollektiv) gelungenen Lebens: Denn erst das stete über bloße Bedürfnisbefriedigungen Hinauswachen, meinte er, ermögliche eine solide Wirtschaft mit entsprechenden Sozialleistungen.

Im 19. Jahrhundert wurde Kants Anthropologie zur wissenschaftlichen Grundlage der psychiatrischen Forschung. Nun ging es nicht mehr um Charaktertypen, sondern um Psychopathologien. Aus dem »Bösen« wurde der »Geisteskranke«. Was früher Todsünde war, gilt heute als Sucht, Störung oder Inkompetenz. Oder, alternativ – und ganz im Sinne de Mandevilles – als spätkapitalistische Tugend.

Zorn. Ein unkontrollierter Gefühlsausbruch mit großem Zerstörungspotenzial, der aus dem Konflikt mit sich selbst und der Welt erwächst. Wenn ein Kind zornig wird, ist dies meist auf eine kurzfristige existenzielle Erschütterung zurückzuführen, etwa ein ihm vorenthaltenes Stück Kuchen. »Tatsächlich gedeiht also der Zorn am besten dort, wo zügellose Genusssucht und Scheu vor jeglicher Anstrengung herrschen«, schrieb Seneca (0–65 n.Chr.). Neigt ein Erwachsener zum Rumbrüllen und Umsichschlagen, muss man davon ausgehen, dass er emotional unreif ist, Probleme hat, sich in die Leistungsgesellschaft einzugliedern und schlimmstenfalls zur Kriminalität neigt.
Was man auf individueller Ebene mit dem psychiatrischen Begriff »antisoziale Persönlichkeitsstörung« belegen kann, zeigt seine ganze Sprengkraft erst auf der Ebene des Kollektivs. Die zornige Masse ist tierisch, sie tobt ohne Verstand. Ihre Enthemmung hat etwas zutiefst Sexuelles – zumindest nach der Bedeutung des griechischen Worts orghé, das auf Orgie und Zorn zugleich referiert. Der brutale Mob der Trumpisten, der im Januar 2021 das Washingtoner Kapitol stürmte, ist das beste Beispiel dafür, was Zorn anrichten kann. Verwüstung. Demütigung. Tod. Die Eliminierung jeglicher Zivilisation.

Trägheit. Eine Lähmung von Körper, Geist und Seele, die sich einstellt, wenn der Mensch wie ein Stück Gemüse auf dem Sofa liegt, weil er aufgehört hat, das Geringste zu begehren. Die Acedia ist eine tiefe, zu nichts mehr fähige Melancholie. Der Philosoph Slavoj Zizek nennt sie »die Sünde der Nullstufe«: »nicht die schlichte (anti-)kapitalistische Faulheit, sondern eine in Verzweiflung bestehende ‚Krankheit zum Tode‘«. Gemeint ist die Resignation angesichts des Sinndefizits der Moderne; dieser großen Leere, die der Träge mit verzweifelt-maßlosem Nichtstun beantwortet.
Die zur chronischen Stumpfheit gesteigerte Langeweile wird von der Psychologie als »Interesselosigkeit« beziehungsweise »Antriebslosigkeit« verniedlicht. Beide gelten als typische Anzeichen für eine der häufigsten seelischen Störung von Erste-Welt-Bewohnern überhaupt: die Depression. Sie ist das Symptom einer Gesellschaft, die ihren Mitgliedern ein Übermaß an Autonomie, Leistung, Fortschritt abverlangt und ihnen gleichzeitig suggeriert, der Sinn des Lebens bestünde im Shoppen. Mit der Trägheit schrumpft das Bruttosozialprodukt. Was wächst und immer weiter anschwillt, ist der existenzielle Überdruss.

Neid. Ein nagendes und auf Dauer zermürbendes Gefühl persönlichen ökonomischen und/ oder ästhetischen Ungenügens, das aus dem Vergleich mit Besitztümern anderer resultiert. Neid ist die wohl einzige Todsünde, die keinen Spaß macht, da in der Konkurrenzgesellschaft mit ihren »Vertikalspannungen« (Peter Sloterdijk) stets nur nach oben verglichen wird – was krasse Unzufriedenheit bewirkt. Der Neider versagt den Beneideten ihren menschlichen Wert, indem er sie ganz auf das reduziert, was sie haben; indem er sich selbst auf das reduziert, was er nicht hat. Was er hat, ist vergleichsweise immer zu wenig. Wer nicht einen besseren Job, ein begabteres Kind, einen sportlicheren Körper hat als die Nachbarin, der Kollege oder Joggingpartner, wird sich auf schmerzvollste Weise des eigenen Ungenügens bewusst.
Zwar kann Neid den persönlichen Ehrgeiz wecken und so ein bedeutender Motor kapitalistischen Wachstums werden. Aber Neidischsein ist und bleibt ein Tabu. Niemand will seinen Neid zugeben. Denn das würde die Angst befeuern, den eigenen Mangel outen und damit die Hoffnung auf Respekt und Bewunderung begraben zu müssen. Im Umkehrschluss heißt das: Der, der beneidet wird, kann sich viel darauf einbilden. Besonders hierzulande. »In Deutschland ist die höchste Form der Anerkennung der Neid«, schrieb Arthur Schopenhauer (1788–1860).

Hochmut. Wie der Neid ist auch der Hochmut eine wesentlich »relationale« Todsünde – sie existiert nur in Beziehung zu denen, die man als positive oder negative Feedbackgeber missbraucht. Die Hochmütigen brauchen andere bloß als Spiegel der eigenen fantasierten Großartigkeit. Dabei ringen sie ebenso verbissen um Anerkennung wie die Neidischen. Während letztere aber ihre Disposition in der untersten Schublade des Privaten verbergen, nutzen erstere jede Gelegenheit, um öffentlich zu machen, was sie von sich glauben: nämlich dass sie (»Ich!«) die Größten, Klügsten, Schönsten, Besten überhaupt seien.
Hochmütige gibt es überall, in der Wirtschaft und Politik, im Kinderzimmer, auf Twitter – nur nennt man sie nicht mehr so. Man sagt: »Narzisst!«, wenn man wieder einmal einen enttarnt hat; wenn einem schlagartig klar wird, dass derselbe Mensch, den man für so irre begabt, erfolgreich, generös und lieb hielt, längst weltberühmt ist für seine Arroganz und Eitelkeit. Der wohl erschreckendste Fall eines »malignen Narzissten« war und ist der ehemalige US-Präsident Donald Trump. Mit seiner durch nichts zu begründenden Gewissheit, dem Rest der Menschheit überlegen zu sein und andere ausbeuten zu dürfen, um seine Interessen durchzusetzen, gelang es ihm in nur vier Jahren Amtszeit, die ökonomische, gesundheitliche, demokratische und seelische Verfassung seines Landes bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen.

Gier. Das Gegenteil von Großzügigkeit und Freigiebigkeit, welches Bernard de Mandeville als conditio sine qua non gesamtgesellschaftlicher Vorteile lobte. »Gier ist gut«, lautet eines der berühmtesten Zitate der Filmgeschichte. In den Mund gelegt wurde es Michael Douglas alias Gordon Gekko, dem Finanzhai aus »Wall Street«. Seit 1987, dem Jahr, aus dem der Film stammt, ist die Gier der Kapitalmärkte um Einiges gewachsen – und, anders, als Bernard de Mandeville annahm, durchaus nicht zum Vorteil des Gemeinwohls. Gier ist nicht nur der Ursprung der Lemann Brothers und der Gig Economy. Sie ist auch eine Todsünde, der auch völlig unauffällige Spießer lustvoll anheimfallen. Weil sie glauben, wenig sei nie genug. Was für Gordon Gekko Limousinen waren, ist für Ottonormalverbraucher das Schnäppchen.
Gier ist gut, und Geiz ist geil. Im Schnäppchenjäger verbindet sich der Geist des Hortens mit der Sehnsucht nach einem gelebten Leben. Ein Ziel, das er nie erreichen kann. Was andere Glück nennen, ist für ihn die kurze Befriedigung, für möglichst wenig Geld möglichst viel geshoppt zu haben. Zwischen dem Nichts und der Payback-Karte wählt der Schnäppchenjäger selbstverständlich die Payback-Karte.

Völlerei. Das maßlose In-sich-Hineinfressen von Nahrungsmitteln diversester – gern glutenhaltiger – Nahrungsmittel, welches nicht nur die enge Verwandtschaft des Menschen zum Tier zeigt (das Schnuppern, Schlürfen, Schmatzen, Rülpsen!), sondern auch schwere Gesundheitsschäden nach sich ziehen kann. Wer dieser Todsünde anheimfällt, wird entweder dick oder fett. Beides aber gilt heute nicht mehr als Zeichen von Reichtum, sondern von mangelnder Disziplin. Wer wie Obelix gewohnheitsmäßig Wildschweine vertilgt, wird unter den Generalverdacht einer Essstörung gestellt. Zur Auswahl stehen die psychiatrischen Diagnosen Adipositas (Fettsucht), Bulimie (Ess-Brecht-Sucht) und Binge Eating Disorder (Ess-Attacken-Störung). Das sündhafte Fressen dient nicht dem Genuss, sondern der Betäubung. Der dem natürlichen Hungergefühl entfremdete Zivilisationsmensch verschlingt Pizzaecken und Soft Cakes, als fräße er um sein Leben.
Der Negativabzug der Völlerei ist das freiwillige Hungern, auch Anorexie (Magersucht) genannt – die Königsdisziplin unter den Essstörungen, der wichtige spätkapitalistische Tugenden eigen sind. Steht sie doch für alles, was dem Wildschweinfetischisten abgeht: Kontrolliertheit, Leistungsbereitschaft, Willenskraft – Veganismus. Dass auch Anorexie tödlich enden kann, geschenkt!

Wollust. Alle Maßnahmen zur Steigerung des sexuellen Verlangens. An die Stelle der Wollust ist der distanziert-aseptische Begriff »Hypersexualität« getreten, volkstümlich auch Sexsucht genannt. Seit pornografische Inhalte im Internet frei zugänglich sind, ist die Wollust gesamtgesellschaftlich normalisiert und normiert. Jeder und jede kann heute eine Peitsche oder eine Liebesschaukel im Sexshop seines/ ihres Vertrauens erwerben, ohne fürchten zu müssen, anschließend als Hexe oder Ketzer verbrannt zu werden.
Der interessanteste Teil der Wollust ist bis heute die Schamlosigkeit. Wer wie Heidi Klum launig seine sexuellen Vorlieben ausplaudert und sich mit dem knackigen Ehepartner auf Instagram in den Daunen wälzt, ist nicht sündhaft, sondern »authentisch«. Kein Wunder, dass (wie Studien belegen) die heutige Jugend ihre Jungfräulichkeit so lange wie möglich behalten will (Trau keinem über 30!) Keusch ist das neue Cool. Sündhaft sind nur immer die Erwachsenen.

Stimmt schon. Denn seien wir mal ehrlich – was werden wir der Nachwelt schon hinterlassen? Einen Schuldenberg – und die Klimakatastrophe.

LEKTÜRE

Aviad Kleinberg
Die Sieben Todsünden
Insel, 2010
Ein Essay über die Sünde damals und heute

Umberto Galimberti
I vizi capitali e i nuovi vizi
Feltrinelli, 2003
Exzellente Darstellung der Aktualität der Todsünden aus Sicht eines Philosophen und Psychologen (italienisch)

Martin Seel
111 Tugenden, 111 Laster
S. Fischer, 2011
Eine philosophische »Revue« der bekanntesten (Un-)Tugenden

Dieser Artikel ist in kürzerer Form in HOHE LUFT 3/2021 erschienen.

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