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»Das Grundeinkommen weitet Sinn und Verstand«

Die Idee eines »bedingungslosen Grundeinkommens« gibt es schon seit Jahrhunderten, doch so aktuell wie heute war sie noch nie. Die Corona-Krise hat Millionen Menschen in existenzielle Bedrängnis gebracht. In absehbarer Zukunft könnte der digitale Wandel massenhaft Jobs vernichten. Ein Grundeinkommen würde Menschen nicht nur materiell absichern, meinen die Befürworter. Es könnte uns auch ein für allemal vom Arbeitszwang befreien, der weite Teile unseres Lebens bestimmt. Ein solches Einkommen wäre nicht finanzierbar, meinen die Gegner, zudem würde es die Arbeit entwerten.

Ist die Zeit jetzt reif, das Experiment zu wagen, wie es einige Petitionen auch für Deutschland fordern? Der gemeinnützige Verein „Mein Grundeinkommen e.V.“ startet nun ein Pilotprojekt: 120 Menschen erhalten drei Jahre lang 1200 Euro im Monat. Das Experiment wird mit einer Studie begleitet, die die Auswirkungen eines bedingungslosen Grundeinkommens untersuchen will. Um Teilnahme bewerben kann man sich hier.

Wäre das Grundeinkommen gerecht? Und wie würde es unsere Einstellung zur Arbeit verändern? Die beiden Philosophen und Ökonomen Philip Kovce, 33, und Birger P. Priddat, 70, haben sich zu diesem Thema für HOHE LUFT die Köpfe heißgeredet. Beide lehren an der Universität Witten/Herdecke. Gemeinsam haben sie ein Buch mit Grundlagentexten zum bedingungslosen Grundeinkommen herausgegeben. Und doch haben sie ganz unterschiedliche Positionen. Ein Streitgespräch.

HOHE LUFT: Die Corona-Krise bedroht Millionen Menschen in ihrer wirtschaftlichen Existenz. Viele glauben, ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte helfen. So hat die Modedesignerin Tonia Merz eine Petition für ein sechsmonatiges »testweises« Grundeinkommen gestaret und bisher rund eine halbe Million Unterschriften gesammelt. Ist die Zeit jetzt reif für ein solches Experiment?

BIRGER P. PRIDDAT: Ökonomisch gesehen hat Frau Merz zwar recht, derzeit eine Art Überbrückungsgeld für alle zu fordern. Aber diese Forderung ist mit der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens nur insofern identisch, als bedingungslos gezahlt werden soll. Abgesehen davon unterscheidet sich das Grundeinkommen grundsätzlich von krisenbedingten Sofortmaßnahmen, weil es auf Dauer angelegt ist. Man soll sich mit dem Grundeinkommen ja gerade entscheiden können, ob man arbeitet oder lieber anderen Tätigkeiten nachgeht. Diese Wahl besteht mit einer zeitlich befristeten Existenzsicherung nicht.

PHILIP KOVCE: Gerade weil das bedingungslose Grundeinkommen auf Dauer angelegt ist, sollte es nicht überstürzt eingeführt werden. Das Grundeinkommen ist ein neues Grundrecht, kein akutes Schmerzmittel. Das heißt natürlich nicht, dass wir derzeit kein Notfall-Grundeinkommen benötigen. Schließlich gilt es, unverschuldete Einkommenseinbußen möglichst schnell und unbürokratisch abzufedern. Das gelingt leider nur mehr schlecht als recht, weshalb immer klarer und deutlicher wird: Hätten wir bereits jetzt ein Grundeinkommen, würde uns jede Menge sozialstaatlicher Flickschusterei erspart bleiben. Das sollte uns für die Zukunft eine Lehre sein: Wer das Existenzminimum jedes Einzelnen wirklich garantieren will, der muss sobald wie möglich ein Normalfall-Grundeinkommen etablieren.

Wenn es ein bedingungsloses Grundeinkommen gäbe: Würden Sie beide dann noch arbeiten gehen?

PRIDDAT: Ich würde weiterhin arbeiten, ja. Ich kann gar nicht anders. Für mich ist Arbeit eine Lebensform.

KOVCE: Obwohl ich anders könnte, würde auch ich weiterhin arbeiten. Ich will einen Beitrag zum großen Ganzen leisten. Wobei ich schon heute versuche, nichts zu tun, wovon ich mich mit einem bedingungslosen Grundeinkommen befreien müsste.

PRIDDAT: Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde uns tatsächlich vom Arbeitszwang befreien. Doch genau da fängt bei mir die Skepsis an: Was passiert, wenn Arbeit auf einmal nur noch Freiwilligendienst ist? Wie ändert sich dann das Verhalten der Gesellschaft? Würden dann noch alle notwendigen Aufgaben erledigt? Diese Fragen sind für mich ungeklärt.

KOVCE: Seien wir doch froh, dass uns das bedingungslose Grundeinkommen endlich vom Arbeitszwang befreit! Was, bitte schön, sollte am Arbeitszwang gut sein? Ich halte ihn sowohl politisch als auch psychologisch und ökonomisch für längst überholt. Politisch deshalb, weil das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das vom Bundesverfassungsgericht immer wieder gestärkt wurde, eigentlich keine Leckerei für fleißige Arbeitstiere, sondern eben ein Grundrecht ist. Psychologisch konditioniert Arbeitszwang eher brave Befehlsempfänger als mündige Bürger und motivierte Mitarbeiter. Das ist nicht zuletzt ökonomisch gesehen ebenso absurd wie die Tatsache, dass wir weiterhin ein Trauerspiel des Mangels inszenieren, obwohl der Überfluss – Krise hin oder her – zumindest bei uns aus allen Nähten platzt.

»Arbeit hat für viele etwas Heiliges.«

PRIDDAT: Das kann man natürlich so sehen, und es klingt auch sympathisch. Aber unterschätzen Sie nicht die kulturelle Bedeutung der Arbeit. Arbeit hat für viele etwas Heiliges. Deshalb wird der Arbeitszwang auch nicht unbedingt als Zwang, sondern eher als Pflicht wahrgenommen. Mit dem Grundeinkommen wird Arbeit plötzlich zu einer Option. Wer gewohnt ist, dass Arbeit den Alltag strukturiert und Sinn stiftet, der ist mit dieser optionalen Freiheit womöglich überfordert. Sie stellt jedenfalls die Grundfesten der Arbeitsgesellschaft infrage. Abgesehen davon spielt die Höhe des Grundeinkommens eine entscheidende Rolle: 1000 Euro monatlich, wie häufig diskutiert wird, sind in meinen Augen zu wenig. Das ist ja nicht viel mehr als Hartz IV plus Wohngeld heute. Das setzt den Verheißungen der Freiheit klare Grenzen.

KOVCE: Ich will weder die Arbeit unter- noch das Grundeinkommen überschätzen. Natürlich ist das Grundeinkommen kein Lottogewinn, der schnurstracks ins Schlaraffenland führt. Das Grundeinkommen soll ein bescheidenes, aber menschenwürdiges Leben ermöglichen. Wer sich dafür in Deutschland an der Pfändungsfreigrenze, der Armutsgrenze oder dem Grundfreibetrag der Einkommensteuer orientiert, der landet aktuell bei rund 1000 Euro im Monat. Wer sich damit nicht zufriedengibt, der wird schon allein aus diesem Grund mit einem Grundeinkommen weiterhin arbeiten. Aber er wird nicht länger zu der Verzweiflungstat genötigt, sich in sinnlosen Bullshit-Jobs ausbeuten zu lassen. Lohnsklaverei, wie wir sie heute noch kennen, wird mit einem Grundeinkommen endgültig abgeschafft. Das repressive Hartz-IV-Regime ebenso.

Was würden die Menschen denn wirklich tun, wenn sie ein bedingungsloses Grundeinkommen hätten?

KOVCE: Entsprechende Umfragen kommen immer wieder zum gleichen Ergebnis: Die allermeisten geben an, dass sie selber mit einem Grundeinkommen weiterhin arbeiten würden. Anderen wird dagegen weitaus häufiger Faulheit unterstellt. Ich bin fleißig, du bist faul: Selbstbild und Fremdwahrnehmung klaffen auf diese Weise eklatant auseinander. Wenn man jedoch bedenkt, dass Studien schon heute zeigen, dass Zwang ein schlechter Motivator und Freiwilligkeit die beste Voraussetzung guter Leistung ist, dann gibt es aus meiner Sicht wirklich keinen Grund, den schwarzpädagogischen Arbeitszwang aufrechtzuerhalten. Ich halte es da ganz mit dem großen Aphoristiker Elazar Benyoëtz, der schreibt: »Was getan werden muss, wird auch ohne Müssen getan.«

PRIDDAT: In der aktuellen Diskussion wird eines zu wenig beachtet: Wenn alle ein Grundeinkommen erhalten, dann ändern sich sämtliche Relationen auf dem Arbeitsmarkt. Der Arbeitgeber, der weiß, dass der Staat jedem Bürger bedingungslos 1000 Euro überweist, zahlt natürlich nicht mehr den gleichen Lohn wie zuvor. Statt bisher beispielsweise 3000 Euro sind es dann nur noch 2000 Euro. Die Kapitalisten klatschen mit einem Grundeinkommen in die Hände: Endlich können die Löhne im großen Stil gedrückt werden! Wer intrinsisch motiviert ist, der ist das erste Opfer dieser Form von Ausbeutung – gerade weil es ihm nicht ums Geld geht.

KOVCE: Wer freiwillig bereit ist, umsonst zu arbeiten, der wird doch nicht ausgebeutet. Ansonsten müsste jede ehrenamtliche Tätigkeit schon heute die reinste Ausbeutung sein! Was den Arbeitsmarkt betrifft, so gilt natürlich grundsätzlich: Damit die Preise nicht in Höhe des Grundeinkommens steigen, müssen die Löhne in Höhe des Grundeinkommens sinken. Wohlgemerkt: Das Individuum verliert dabei unterm Strich kein Geld. Es gewinnt vielmehr an Macht. Die Macht der Bedingungslosigkeit des Grundeinkommens verleiht je nach Ausgangslage auch die Marktmacht, deutlich höhere Arbeitseinkommen zu beziehen. Das gilt vor allem für Branchen, die systemrelevant und strukturell unterbezahlt sind. Sie würden mit einem Grundeinkommen auch finanziell besser gestellt.

PRIDDAT: Warum glauben Sie das?

KOVCE: Wo heute die Arbeitsbedingungen schlecht sind, während die Nachfrage groß ist, da werden sich mit einem Grundeinkommen sowohl bessere Arbeitsbedingungen als auch höhere Löhne durchsetzen lassen. Beispiel Pflege: Der Personalbedarf ist riesig, Arbeitsbedingungen und Bezahlung sind dagegen miserabel. Das Grundeinkommen würde professionelle Pflege aufwerten und zugleich die Pflege eigener Angehöriger erleichtern helfen.

PRIDDAT: So einfach ist das leider nicht mit den Löhnen. Die Margen im Pflegebereich sind nicht so üppig, dass es Spielraum für deutliche Lohnerhöhungen gibt. Vielmehr würde sich mit einem Grundeinkommen das Arbeitsangebot verknappen. Das wäre der Beginn eines Teufelskreises: Wer zahlt nun die steigenden Pflegekosten? Das Grundeinkommen allein genügt dafür nicht. Also landen wir am Ende wieder beim heutigen Arbeitszwang oder bei einem Grundeinkommen, das so hoch sein müsste, dass es sich nicht finanzieren lässt.

Ein klassisches Argument gegen das bedingungslose Grundeinkommen lautet: Ohne Leistung kein Anspruch auf Gegenleistung, das wäre ungerecht. Der Philosoph John Rawls meinte einmal, wer in Malibu surfen wolle, der solle das tun, aber er müsse es sich eben selbst finanzieren.

PRIDDAT: Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen wird der Wohlfahrtsstaat in der Tat abgewickelt. Der Wohlfahrtsstaat garantiert jedem Bürger Unterstützung in Notlagen. Anstelle der Nothilfe treten mit dem Grundeinkommen bedingungslose Transfers für alle. Ein Transfer ist eigentlich ein Geschenk, eine Gabe. Ich gebe etwas, ohne dafür etwas zurückzufordern. Jeder kann mit seinem Grundeinkommen tun und lassen, was er will. Das entspricht nicht mehr dem Wohlfahrtsstaat, der die Bürger zur Solidarität verpflichtet, sondern einem Transferstaat, der ihnen die freie Wahl zwischen Egoismus und Altruismus lässt. Ökonomisch gesehen muss der Transferstaat ein leistungsstarker Staat sein, der genügend Wertschöpfung hervorbringt, um ein Grundeinkommen zu finanzieren.

KOVCE: Das klassische gerechtigkeitstheoretische Argument für ein bedingungsloses Grundeinkommen stammt aus der Aufklärungsphilosophie, unter anderem von Thomas Paine: Jeder Mensch, so Paine, habe jenseits von Leistung und Bedarf ein Anrecht auf einen Teil der Früchte der Natur, da kein Mensch die Erde erschaffen habe und sie somit ursprünglich allen gleichermaßen gehöre. Der Gegenwartsphilosoph Philippe Van Parijs fordert, daran anknüpfend, dass auch Malibu-Surfern ein Grundeinkommen zugestanden werden müsse, wenn wir reale Freiheit für alle garantieren und grundsätzlich keine Lebensform diskriminieren wollen.

»Wer im Hamsterrad gefangen ist, der kann nicht über den eigenen Tellerrand schauen.«

PRIDDAT: Eine historische Epoche endet gerade. Wir haben Arbeit und Einkommen so eng miteinander verkoppelt, dass wir bei denen, die nicht arbeiten, im Grunde genommen bezweifeln, dass sie berechtigte Einkommensansprüche haben. Das ändert sich im Zuge zunehmender Digitalisierung und Individualisierung weitgehend. Wobei es für viele Leute sehr schwer ist, sich auf diesen Wandel einzulassen. Sie haben jenseits der Lohnarbeit keine Vorstellung vom gelingenden Leben und definieren sich deshalb über ihre Arbeit. Arbeit ist in diesem Falle eine Schrumpfform gelingenden Lebens.

Könnte das bedingungslose Grundeinkommen nicht die nötige existenzielle Sicherheit bieten, um aus dem Hamsterrad herauszukommen – und sich überhaupt einmal bestimmte Fragen zu stellen?

KOVCE: Gewiss. Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen lauten die drängendsten Fragen ja nicht mehr: Wie komme ich am besten über die Runden? Und wie spanne ich andere möglichst geschickt dafür ein? Sie lauten vielmehr: Was will ich eigentlich? Und was brauchen eigentlich die anderen? Diese Fragen sind bestimmt nicht weniger krisenhaft, aber ganz sicher weniger perspektivlos. Wer im Hamsterrad gefangen ist, der kann nicht über den eigenen Tellerrand schauen. Das Grundeinkommen weitet Sinn und Verstand. Das hat auch ökologische Konsequenzen: Wer Erfüllung in sinnvollen Jobs findet, der ist weniger auf verzweifelte Shopping-Selbstverwirklichung angewiesen.

PRIDDAT: Mag sein. Wobei es genauso gut sein könnte, dass die Leute mit dem bescheidenen Sicherheitsversprechen eines Grundeinkommens herumwurschteln, ohne sich mit großen Fragen und andauernden Ungewissheiten auseinanderzusetzen. Zwar gewährleistet das Grundeinkommen ein gewisses Maß an Existenzsicherheit, aber die Unsicherheit freier Märkte und der permanente Abstimmungsbedarf offener Gesellschaften bleiben ja bestehen. Je weniger sich dafür interessieren, weil sie mit dem Grundeinkommen der Biedermeierei verfallen, desto eher erodiert das Gemeinwesen.

Aber wenn das Grundeinkommen von wirtschaftlichen Existenzsorgen befreien könnte – wäre damit dann nicht viel erreicht?

PRIDDAT: Ja und nein. Ich halte das Grundeinkommen für ein Dispositiv, das eine Zwischenlösung darstellt. Arbeit wird ihren hohen Stellenwert über kurz oder lang nicht behaupten können. Viele Tätigkeiten, die heute noch Menschen ausführen, werden künftig maschinell erledigt. Das ist ein gewaltiger Vorgang, der nicht einfach durch Konjunkturprogramme oder Substitutionsprozesse aufzuhalten ist, wie uns manche Beschwichtiger weismachen wollen. In diesem Kontext stellen sich die Fragen, was wir tun, wenn wir nicht mehr arbeiten, und welches Einkommen wir dann beziehen.

KOVCE: Sie werden nicht müde, lieber Herr Priddat, den hohen Stellenwert von Arbeit zu betonen. Das ist im ausklingenden Industriezeitalter sicherlich nicht falsch. Aber es lenkt zugleich davon ab, dass Arbeit schon heute keineswegs alternativloser Garant gesellschaftlicher Anerkennung ist. Die Bundesrepublik ist beispielsweise entgegen allen Behauptungen gerade nicht als Arbeitsgesellschaft verfasst. Arbeit spielt in den 146 Artikeln des Grundgesetzes so gut wie keine Rolle – außer in Artikel 12, der die freie Berufswahl und das Verbot von Zwangsarbeit regelt. Staatsbürgerliche Anerkennung muss hierzulande nicht erarbeitet werden, sondern geschieht um ihrer selbst willen. Dies ist nicht zuletzt insofern bedeutsam, als das Grundeinkommen exakt dieser Anerkennungsstruktur entspricht: Es geht dabei nicht um Leistung und Gegenleistung, sondern um Freiheit und Menschenwürde.

Besteht der eigentliche Wert des Grundeinkommens also darin, dass es über sich selbst hinausweist – und dazu führt, dass wir grundlegende Fragen unseres Zusammenlebens diskutieren?

KOVCE: Das kann man so sagen. Das Grundeinkommen erschöpft sich nicht in seiner bloßen Forderung. Es geht nicht nur ums individuelle Einkommen, sondern auch um ein neues gesellschaftliches Übereinkommen – darum, wie wir künftig miteinander leben und arbeiten wollen. Die Diskussionen darüber, die im Zuge der Einführung eines Grundeinkommens geführt werden müssen, verlebendigen unsere Demokratie …

PRIDDAT: … und thematisieren auch spannungsreiche soziale Statusdifferenzen, etwa zwischen denen, die arbeiten, und jenen, die nicht arbeiten. Worauf Sie abzielen, lieber Herr Kovce, das ist ja eine Art Sharing Economy: Wir werfen alles, was wir produzieren, in einen Topf und teilen – zumindest in Höhe des Grundeinkommens – nach Kriterien der Lebensqualität, nicht der Arbeitsleistung. Das setzt voraus, dass sich die Gesellschaft gesellschaftlicher denkt. Und das ist keineswegs sicher.

Könnte man das Grundeinkommen nicht graduell einführen?

KOVCE: Viele Wege führen zum Grundeinkommen. Dementsprechend gibt es neben der Big-Bang-Theorie der sofortigen Einführung auch zahlreiche Stufenmodelle. Ich würde sogar sagen, dass wir uns längst auf dem Weg der stufenweisen Einführung eines Grundeinkommens befinden. Mit Kindergeld und Grundrente kennen wir mehr oder weniger bedingungslose Leistungen am Lebensanfang und Lebensende. Außerdem werden zunehmend ursprünglich beitragsfinanzierte Sozialleistungen steuerfinanziert. Der Staat sorgt also nicht nur für öffentliche Daseinsvorsorge, sondern auch für individuelle Einkommen. Das ist kein Wunder, denn in Zeiten fortschreitender Digitalisierung und Individualisierung lassen sich gerade auf diese Weise sowohl die Freiheit des Einzelnen als auch der Zusammenhalt der Gesellschaft ermöglichen.

PRIDDAT: Wenn wir das bedingungslose Grundeinkommen früher oder später tatsächlich einführen wollen, dann müssen wir seine Finanzierung kapitalistischer angehen. Es geht nicht nur um Umverteilung, sondern auch um Investments. Ich würde für einen großen Staatsfonds plädieren, der selber Aktien platziert und aus den Erträgen ein Grundeinkommen finanziert. Das missfällt zwar vielen Befürwortern eines Grundeinkommens, weil sie antikapitalistisch eingestellt sind und Kapitalmärkte nicht mögen. Aber wir müssen Grundeinkommen und Kapitalismus zusammendenken, wenn das Grundeinkommen keine Ersatzlösung für die verpasste Revolution, sondern eine Weiterentwicklung der modernen Gesellschaft sein soll.

Moderation: Thomas Vašek

Lektüre: Birger P. Priddat, Philip Kovce (Hrsg.) Bedingungsloses Grundeinkommen. Grundlagentexte. (Suhrkamp, 2019): Sammlung von Grundlagentexten zur Idee des Grundeinkommens von Bertrand Russell bis John Maynard Keynes.

Dieses Gespräch ist in HOHE LUFT Ausgabe 5/2020 erschienen. Hier können Sie das Heft sowie ältere Ausgaben versandkostenfrei bestellen.

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