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Unser digitales Image

Wenn jemand bei Facebook „postet“, dann löst er etwas von sich ab, und unterstellt es der Begutachtung und Bewertung all jener, denen der Einblick gewährt ist. Diese Ablösung vollzieht sich ohne dasjenige, was nunmehr einsehbar durch den Stream läuft, ganz von sich abtrennen zu können. Man erfährt eine Verdoppelung: Einen dafür ausgesuchten Teil von sich hat man der Öffentlichkeit „zur Verfügung gestellt“, „der Rest“ der Person verbleibt „dahinter“. Deshalb weist, was einem als Aktion erscheint, eher den Charakter einer Re-Aktion auf. Denn wer agiert, um einer (digitalen) Öffentlichkeit etwas von sich zu präsentieren, antizipiert notwendig erhoffte Reaktionen. Nichtsdestoweniger gibt, wer dergestalt re-agiert, etwas von sich frei. Zugleich bleibt er (potentiell) jederzeit mit dem, was einem digitalen Stream übermittelt worden ist, in Verbindung. Insofern steht das Gepostete einerseits unkontrollierbar im Netz; da man andererseits darauf reagieren kann, bleibt es zugleich jederzeit kontrollierbar.

Obschon wir außerstande sind, unsere Hand an ihm zu benetzen, ist das Bild des Flusses für den Stream überaus zutreffend. Dieser Fluss fließt durch die Mitte all jener, die ihn dadurch, dass sie Informationen in ihn einspeisen, erst fließen lassen. Jeder, der postet, sitzt an einer seiner unzähligen Quellen, treiben lässt man ihn gemeinsam. Da, wer ein Posting präpariert, sich auf ihn beziehen muss, könnte man von einem „ontologischen Fluss“ sprechen, der auch das eigene Denken durchfließt. Wohl pachtet er dieses nicht gänzlich für sich, dennoch kommt, wer in ihm interagiert, nicht umhin, ihn mitzudenken. Insofern die Informationen, die ein jeder von uns in ihn einspeist, solche sein müssen, von denen wir wollen, dass sie von Anderen gesehen werden, vermitteln sie diesen ein Bild von uns selbst. Wird das Image als ein in Termini anerkannter Eigenschaften umschriebenes Selbstbild begriffen, als ein Bild, das Andere übernehmen können,[1] ist sein digitales Image das, was ein einzelner Poster in diesem digitalen Fluss von sich ablegt.

Unser digitales Image entgeht einer Doppelbewegung, einer Öffnung, die immer auch schließt: Wenn wir Anderen nur bestimmte ausgesuchte Informationen von uns offenbaren, schließen wir etwas aus ihrem Zugriff aus, was zugleich meint, dass wir etwas von uns in uns einschließen. Die Tatsache allein jedoch, dass wir „Inhalte“ von uns öffentlich darbieten, bedingt eine gewisse Öffnung und das auch dann, wenn das so von uns Präsentierte mangelhaft oder trügend ist. In diesem digitalen Fluss treten wir einander demzufolge als digitale Erscheinungen gegenüber, nicht als „Dinge an sich“.[2] Man muss sich in der digitalen Welt wechselseitig als das nehmen, als was man sich einander präsentiert: Als digitale (Re-)Präsentation. Auch Spekulationen über das, was „eigentlich dahintersteht“, bleiben auf das präsentierte Bild angewiesen.

In ein Image einfügen

Als eine Art vorangehende Kontrolle gebietet der ontologische Fluss so über all jene, die ihn durch sich fließen lassen (müssen). Denn so wie wir ihm zusehen, so guckt er uns an. Was einer konkreten Existenz entbehrt, kann eigentlich nicht (zurück-)schauen und doch tut dieser Fluss genau das, wenn auch nur indirekt: Die je Anderen observieren uns durch ihn. Da wir ihnen etwas von uns präsentieren wollen, lasten ihre verinnerlichten beobachtenden Augen schon auf uns, bevor wir posten. So ist dieser Fluss insoweit unwirklich, als er ungreifbar ist, zugleich ist er insoweit überwirklich, als er zu gewissen Maßen über unser ganz konkretes Handeln verfügt. Dergestalt fertigt die internalisierte Beobachtung durch Andere ein vorgefertigtes Image an, in das sich jemand zwangsläufig einfügt, der etwas postet. Dieser innere digitale Beobachter kann einen durchaus auch dann (ver-)folgen, wenn man nicht online ist, das tut er bereits dann, wenn man sich gedanklich mit seinem digitalen Auftritt auseinandersetzt. Wer glaubt, im Stream sich zu zeigen, taucht unvermeidlich in etwas ein, das für ihn vorgefertigt worden ist. Das gilt auch für jene, die sich glauben lassen, sie würden sich in ihrer Selbstdarbietung solchen impliziten Forderungen verweigern. Denn sie setzen sich zwingend gedanklich mit dem Gegenstand ihrer Weigerung auseinander. An vorgängige Erwartungshaltungen bleibt man auch dann gebunden, wenn man diese überschreiten will. Der Poster kommt nicht umhin, die digitale Kontrollstruktur in sein Denken aufzunehmen. Er schleppt einen dauernden Beobachter seiner selbst mit sich herum.

Darin unterscheidet sich das digitale Image nicht wesentlich vom „normalen“, vom analogen. Der ontologische Fluss, an den es gebunden wird, ist immer schon geflossen, nur war er noch nie so gut sichtbar, wie er das in seiner digitalen Form ist.[3] Man kann sein digitales Image „live“ verfolgen und überprüfen, ob es einem gelingt, das offenbarte Selbstbild durchzusetzen. Das eigene digitale Doppel starrt einen durch den ontologischen Fluss regelrecht an. Zu entgehen ist ihm nicht, denn noch wer sich über den Verstoß gegen die digitalen Spielregeln definieren will, muss just dafür wahrgenommen und anerkannt werden. Da er in seiner internalisierten Form in uns präsent ist und uns deshalb andauernd überwachen kann, handelt es sich um eine Art verbessertes Panoptikon, dessen wahrer Effekt es ist, so zu sein, dass selbst wenn niemand da ist, das Individuum sich nicht nur beobachtet glaubt, sondern beobachtet weiß, und konstante Erfahrung darin hat, in einem Zustand für einen Blick zu sein.[4]

In die Widersprüchlichkeit einer digitalen Freilaufzelle steckt das digitale Image auch seinen nicht-verrückten Träger; denn auch bei der digitalen Version des Images handelt es sich um eine Anleihe von der Gesellschaft: Es kann entzogen werden, es sei denn, man verhält sich würdig. So machen anerkannte Eigenschaften und ihre Beziehung zum Image aus jedem Menschen seinen eigenen Gefängniswärter; es ist dies ist ein fundamentaler sozialer Zwang, auch dann, wenn ein Mensch seine Zelle gerne mag.[5] Der digitale Fluss steht so für die unumgängliche körperlose Verkörperung der je eigenen Unterwerfung unter die je Anderen. Dabei ist jeder Einzelne immer sowohl Beobachter wie auch Beobachteter und dadurch immer sowohl Unterwerfer wie auch Unterworfener.

Dieses digitale Gefängnis wirkt also auf den Körper des „Freilauf-Gefangenen“ ein, und zwar so, dass es den „Häftling mit beschränkter Haftung“ zur Annäherung an eine Verhaltensnorm, ein Modell des Gehorsams.[6] Doch gerade weil dieser durch alle fließende Fluss vereinheitlichend wirkt, wohnt dem digitalen Freilauf-Gefängnis zugleich etwas Befreiendes inne: In den fast unerschöpflichen Möglichkeiten der Ausgestaltung der je individuellen Zelle liegt ein „principium individuationis“. Wiewohl unser digitaler Auftritt ein unvermeidlich mit Vorgaben beladener ist, nennen wir jederzeit die Chance unser eigen, selbst an ihm zu feilen.

„Selbst“-Präsentation, die uns verschwinden lässt?

Obschon wir unzweifelhaft handeln, wenn wir posten, werfen die so unvermeidbaren wie subtilen Unterwerfungsprozesse des digitalen Images die Frage auf, inwieweit tatsächlich wir es sind, die da agieren, wenn wir in den ontologischen Fluss eintauchen. Da ihm die verinnerlichte Beobachtung zwingend vorgängig ist, entlassen wir weniger von uns aus Informationen in die Welt, als schon bestehende Informationen durch uns zirkulieren, weshalb Posten keine Handlung ist, deren Urheberschaft einem selbst zugeschrieben werden kann. Es ist ja unumgänglich, dass die je anderen, uns schon beobachtenden Partizipanten dabei massiv auf uns einwirken. Je eher ein Einzelner sich deshalb auf dieses Spiel einlässt, desto raumeinnehmender werden diese digitalisierten Beobachter in ihm, desto eher kann diese „Selbst“-Präsentation ihn selbst zum Verschwinden bringen. Je tiefer man in ihn eintaucht, desto gewaltiger durchströmt einen der ontologische Fluss – vor den eigenen Augen! –, um sukzessive das wegzuschwemmen, von dem man glaubt, es entspräche einem selbst. Insofern die innere Beobachtung einem den Raum zwar zu Teilen gibt, ihn insgesamt aber eher nimmt, wird über das so generierte digitale Image Transparenz hergestellt: Indem es unser Inneres ausleuchtet, gleicht unser je „individuelles“ digitales Image uns Menschen einander an.

Insofern die je einzelnen Menschen sich einer um den anderen in ihm einlassen, müsste der ontologische Fluss das Menschengeschlecht theoretisch auf einen Endzweck zufließen lassen.[7] Nach und nach nimmt er alles in sich auf und gleicht es durch die gegenseitige Permanentbeobachtung einander an. Doch kann die fast zwingend angestrebte Gleichheit nicht erwirkt werden. Denn auch ein vermeintlich störungsfreies digitales Dahinfließen bleibt potentiell von dem bedroht, was ihm entgegenfließen könnte, weshalb es sich dagegen absichern muss. Denn gäbe es nichts, was „überflossen“ werden müsste, wäre das Fließen selbst (fast) obsolet. Die immer mögliche Abweichung der Richtung hält das Fließen, oder besser: die Fließrichtung, offen. Auch einem digitalen Fluss ist daran gelegen, all das, was sich nicht von ihm mitreißen lässt, zu erfassen und zu überspülen, um den möglichen Raum des Verstoßens sukzessive zu verkleinern. Die Bedingung der Erhaltung des Flusses wäre demnach eine permanente Reinigung dessen, was ihm widerstrebt.

Schließlich kann er kaum anders, als das nie restlos Kontrollierbare unter eine möglichst perfekte Kontrolle zu bringen. So fließt er zwar konstant, er bleibt aber insoweit ungesichert, als seine Fließrichtung jederzeit veränderlich ist. Wiewohl er eine Marginalie ist, kann jeder einzelne Teilhaber diese potentiell umlenken, und sei es nur durch ein einzelnes, immenses Aufsehen erregendes Posting. So beinhaltet der Kampf um Aufmerksamkeit, der dem Posten notwendig innewohnt, immer auch ein Tauziehen, in welche Richtung der Fluss zu fließen hat. Wer sich imstande zeigt, dessen Fließrichtung zu bestimmen, der wirkt auf etwas ein, an dem die je Einzelnen schlechterdings nicht vorbeikommen, wenn sie ihr eigenes digitales Image ausgestalten.

Jene, die die Fließrichtung dirigieren wollen, müssen darauf achten, dass diese ungefähr beibehalten wird. Das geschieht über Strafdrohung. Deshalb sollte ein Shit-Storm, der bei einer Überschreitung impliziter digitaler Regelwerke erfolgt, als eine Art digitale Strafe begriffen werden, die zwar an ihre ausführenden Akteure gebunden ist, dabei aber eher vom ontologischen Fluss aus vollzogen wird. Sie zwingt ein ausscherendes digitales Image zurück in sein digitales Gehege. „Unserem“ uns vorangehenden digitalen Image wohnt etwas uns partiell Neutralisierendes inne.

Insofern die Angst vor Imageeinbußen durch einen Shitstorm dazu führt, dass man sein digitales Gehege gar nicht erst verlässt, liegt dessen eigentliche Wirkung weniger in ihm selbst, als in der Einschüchterung, die er auslösen kann. Folglich wäre die digitale Strafe das, was den digitalen Fluss eigentlich fließen lässt, das in ihrer konkreten Wirkung als nachträgliche Strafe nach erfolgtem Verstoß, vor allem aber in ihrer vorwegnehmenden Wirkung in der schieren Angst vor ihr. So verweist die qua Shitstorm erfolgende Strafe zurück auf eine Unsicherheit: Wäre der Fluss schon sicher eingebettet, bedürfte er kaum solcher Sanktionsmaßnahmen, um sich am regelmäßigen Fließen zu halten. Desweiteren deutet die mitschwingende Straflust daraufhin, dass die ihn ausführenden Personen durchaus nicht so überzeugt sind von dem, was sie da verteidigen, sondern eher überzeugt erscheinen müssen, ansonsten bestünde kaum Anlass, eine Verweigerungshaltung derart abzustrafen. Ihr digitales Image lässt sie sich selbst zu Teilen zuwiderhandeln – und dafür lassen sie Andere büßen. Man müsste also davon ausgehen, dass dieser digitale Fluss einer ist, der auch von Straflust und Strafangst durchströmt ist… Er würde wohl auch dann nicht anders können, wenn er noch wollen würde…

Manuel Güntert hat Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaften an der Universität Konstanz studiert und dort auch promoviert. Er veröffentlicht demnächst ein Buch über den ontologischen Gottesbeweis und schreibt einen Blog

 

 

[1] E. Goffman, Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt am Main 2010: S. 10.

[2] I. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Hamburg 1976: S. 147.

[3] Für Armin Nassehi speist sich das Unbehagen an der digitalen Kultur denn auch aus dem Sichtbarwerden dieser grundlegend modernen Erfahrung: Die Gesellschaft entdeckt sich mit Hilfe des digitalen Blicks. Es sind gerade die digitalen Mustererkennungstechniken, die wirklich ernst machen mit der alten geisteswissenschaftlichen Grundüberzeugung, dass sich hinter dem Rücken der Akteure Strukturen und Regeln finden lassen, die diesen weder bewusst sind, noch sich in deren Selbstbeschreibung niederschlagen. A. Nassehi, Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München 2019: S. 42 und 59.

[4] M. Foucault, Die Macht der Psychiatrie. Vorlesungen am Collège de France 1973-1974: S. 117.

[5] E. Goffman, Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt am Main 2010: S. 15.

[6] J. Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main 2001: S. 82.

[7] U. Jochum, Kritik der neuen Medien. München 2003: S. 11.

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