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Alice und Bob #8: Wann ist ein Berg ein Berg?

Wenn die Wanderung nicht ganz so anstrengend war, sprang Bob gern von einer kleinen Anhöhe zur nächsten und stieg auf jeden Stein am Wegesrand. Jedes Mal rief er „Schon wieder bin ich auf einen Berg gestiegen“ oder „Ich habe schon wieder einen Gipfel erklommen!“ Alice lächelte nachsichtig und sagte: „Das sind weder Berge noch Gipfel. Du kannst nicht jede kleine Erhebung als Gipfel oder gar als Berg bezeichnen!“

„Aber warum nicht? Gibt es eine allgemeine Definition, die ich anerkennen müsste?“

Am Abend recherchierte Alice im Internet und kam zu dem Schluss: „Eine allgemeine Definition gibt es wohl nicht. Aber man versucht schon, festzulegen, wann eine Erhebung als Berg oder als Gipfel zählt.“

„Das ist doch aber merkwürdig, findest du nicht?“ fragte Bob. „Ich meine, wir reden so sicher davon, dass der Watzmann z.B. ein Berg ist, der drei Gipfel hat. Man weiß sogar ganz genau, wie viele 8.000er es gibt, obwohl da bestimmt mehr einzelne Felsspitzen stehen. Aber es gibt keine genaue Definition?“

„Selbst wenn es eine gäbe,“ erwiderte Alice, „warum solltest du sie für dich anerkennen? Wer soll uns beiden vorschreiben, wann wir etwas als Berg anerkennen? Schließlich gibt es kein objektives Kriterium, so etwas ist immer Verabredung. Denk an die Sache mit den Planeten, da wurde entschieden, dass Pluto kein Planet mehr ist, nur, weil er ein bisschen zu klein ist!“

„Aber wenn in den Zeitungen steht, dass eine Bergsteigerin alle 8.000er bestiegen hat, dann muss es doch eine allgemeine Bestimmung geben, nach der man festlegen kann, dass genau diese Gipfel als 8.000er gelten!“

„Na klar, das wird festgelegt, und wenn alle sich an die Festlegung halten, dann ist es eben so. Da wird dann eben gesagt, dass im Himalaja alle Erhebungen mit einer Schartenhöhe von mindestens 500 m eigenständige Berge sind, und schon kannst du durchzählen, wie viele davon über 8.000 m hoch sind.“

„Vorausgesetzt, man einigt sich auch noch darüber, wo genau die Null-Höhe ist, von der aus man misst…“

Beide schwiegen. Dann sagte Bob: „Meistens ist es also bloße Verabredung, eine Festlegung von irgendeiner Autorität, wenn wir in der Natur ein einzelnes Ding als Individuum ansehen und von anderen abgrenzen. Und man benötigt das nur, weil man irgendwas bewerten oder vergleichen will. Das würde bedeuten, dass die Natur gar nicht aus Einzeldingen besteht! Es gibt gar keine Berge, auch keine Ozeane oder Kontinente, was genau dazu gehört oder ob nicht alles fließend ineinander übergeht, ist irgendwie nur willkürlich festgelegt. Und nur, weil wir das in der Praxis akzeptieren, wird es ‚real‘. Was für eine merkwürdige Realität!“

Alice sinnierte: „Ganz so kann es auch nicht sein. Schau, wir standen gestern vor einem Berg, auf den wir steigen wollten, wir konnten darauf zeigen, und waren einig, dass das ein Berg ist. Und als wir oben waren, waren wir auch sicher, dass wir auf einen richtigen Berg gestiegen waren.“

„Stimmt,“ antwortete Bob, „wir können uns sozusagen an sicheren Beispielen sicher darauf einigen, dass das wirklich so ein Ding von der Sorte ist, wie unser Begriff es sagt. Aber es hängt dann doch immer noch von unserer Sprache und unserer Verständigung ab. Als ob das Ding dadurch zum Berg würde, dass wir es so nennen!“

„Und dadurch, dass wir draufsteigen und übers Land schauen und uns über die Aussicht freuen, denn man von dieser Höhe aus hat. Das ist es ja auch, was den Berg zum Berg macht: Die Möglichkeit, hochzusteigen, sich dabei anzustrengen und dann die Aussicht zu genießen.“

„Und stolz darauf zu sein, was man gemacht hat! Was scheren uns die Definitionen der Autoritäten? Ein Berg ist die Anstrengung beim Hochsteigen und die Freude beim weiten Blick übers Land und der stolz auf das, was man da getan hat.“

Jörg Phil Friedrich schreibt über Fragen der Praktischen Philosophie, aber auch über Themen der Softwarewelt. Demnächst erscheint sein neues Buch „Ist Wissenschaft, was Wissen schafft?“

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