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Das Alltägliche ist nicht schlecht

Beim Symposion versammelten sich die Freunde des Sokrates, um in Ruhe und Gelassenheit sowie mit der gebotenen Ausführlichkeit ein Thema zu diskutieren. Dieses Ziel verfolgt auch das HOHE LUFT Online-Symposium: Nacheinander kommen mehrere Stimmen zu einem Thema zu Wort, nehmen aufeinander Bezug und kritisieren die Argumente des anderen. Dieses Mal schreibt Jörg Phil Friedrich über den Wert des Alltäglichen. Die Antwort von HOHE LUFT-Chefredakteur Thomas Vašek folgt in Kürze. 

Es gibt in der Philosophie einen Hang zum Außergewöhnlichen. Diesen Hang findet man schon in Platons Höhlengleichnis: uns interessiert der Außergewöhnliche, der, der sich aus den Ketten befreit und sich ans Licht kämpft, nicht seine Kameraden, die in der Höhle bleiben und über die Schattenspiele nachdenken. Der Trend setzt sich bis in die moderne Philosophie fort. Wittgenstein meinte, ein philosophisches Problem habe die Form „Ich kenne mich nicht aus“ – aber warum? Warum ist nicht eher der Satz „Ich kenne mich aus“ ein philosophisches Problem?

Immerfort geht es in der Philosophie um die ganz großen und damit die ganz außergewöhnlichen Dinge: Die Möglichkeiten der Erkenntnis, das Erleben des Schönen, die Entscheidung für das Gute. Im Alltag hingegen geht es selten um große Erkenntnisse, da gehen wir ganz selbstverständlich mit unserem Halbwissen und unseren Vorurteilen durch die Welt. Wir stehen auch nicht immerfort staunend vor den großartigen Kunstwerken und genießen ihre ästhetischen Eigenschaften, stattdessen finden wir dies und das schick und meinen, dass die neuen Schuhe des Freundes cool aussehen. Und schließlich haben wir auch nicht jeden Tag zu entscheiden, ob wir den Mörder belügen dürfen oder ihm den Freund ausliefern müssen, um dem Kategorischen Imperativ zu genügen, vielmehr haben wir hin und wieder flüchtig Gewissensbisse und akzeptieren das „Tut mir Leid“ der Freundin ohne lange zu fragen, ob es auch ernst gemeint ist.

Wenn wir verstehen wollen, was uns Menschen wirklich zu Menschen macht, dann müssen wir uns vielleicht viel mehr mit diesem alltäglichen Auskennen in der Welt beschäftigen, damit, wie gut wir im ganz normalen Leben doch durchkommen, Entscheidungen treffen, mit denen wir zufrieden sind, mit Freunden fröhlich sind und unsere Umgebung alles in allem ganz schön finden. Bei dieser Beschäftigung muss es gar nicht darum gehen, dieses alltägliche Zurechtkommen zum Problem zu machen und etwa zu enthüllen, dass es „in Wahrheit gar nicht funktioniert“. Vielmehr könnten wir als fröhliche Philosophen auch ganz unbeschwert fragen: Ist nicht gerade dieser unbeschwerte Alltag das, was ein erfülltes, gutes Leben ausmacht. Und kommt es nicht darauf an, zurecht zu kommen? Ist nicht der Maßstab für die Wahrheit der alltäglichen Urteile – ob sie nun die Wahrheit, die Schönheit oder das Gute betreffen – dass sie uns erfolgreich darin machen, unser Leben zu leben?

„Ich kenne mich aus“ als Form eines philosophischen Problems zu lesen, heißt keineswegs, dass man daraus ein intellektuelles „Stimmt ja gar nicht!“ machen muss. Es ließe sich ganz wunderbar darüber philosophieren, was es heißt, sich auszukennen – und damit Recht zu haben, ohne über Wissenschaft, Ethik und Ästhetik tiefgreifend gegrübelt zu haben.

Eine solche Philosophie des alltäglichen Sichauskennens hätte also nicht das Ziel, die Alltagsvernunft zu widerlegen und ihr eine echte, bessere Vernunft entgegenzusetzen. Diesen Fehler hat Martin Heidegger gemacht, der in Sein und Zeit zwar eine umfassende phänomenologische Beschreibung der Alltäglichkeit unternommen hat, diese aber sogleich als defizitär gekennzeichnet, und den verschiedenen Formen des alltäglichen Lebens, die wir „zunächst und zumeist“ praktizieren, sogleich die Weisen des „eigentlichen Daseins“ entgegengesetzt.

Trotzdem war Heideggers Buch einer der wichtigen Schritte zu einer Philosophie, die sich dem Alltäglichen nicht nur annahm, sondern es als das eigentlich menschliche Sein begriff: Der phänomenologischen Philosophie der Existenz. Emmanuel Levinas schreibt in „Die Spur des Anderen“: „Die phänomenologische Beschreibung sucht die Bedeutung des Endlichen im Endlichen selbst.“ Als Beispiel führt er an: „Wenn dem Gefühl als Tatsache des psychologischen Lebens Dunkelheit zukommt, so wird die phänomenologische Beschreibung diese Dunkelheit als ein positives Merkmal des Gefühls aufnehmen, sie wird sie nicht bloß als verminderte Helle denken“. (Alber Studienausgabe, S. 85).

Diese Art zu philosophieren setzt also dem, wie die Menschen wirklich sind nicht eine ideale, im besten Falle außergewöhnliche und irgendwie bessere Version eines „möglichen“ Menschen vor, sondern sie bemüht sich, den Menschen so zu begreifen wie er ist.

Im deutschsprachigen Raum wird der Phänomenologie immer noch mit Skepsis begegnet. Das betrifft weniger die akademische Philosophie, sondern die Erwartungshaltung des Publikums, welches sich klare und trennscharfe Begriffe und zwingende, formale Logik in den Schlussfolgerungen wünscht. Das kann eine Philosophie, die die Wirklichkeit in all ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit verständlich machen will, nicht bieten. Aber gerade, wenn wir uns mit Systemen beschäftigen, die dieser klaren Logik gehorchen und uns fragen, ob diese dem Menschen in irgendeinem Sinn überlegen werden könnten und ob wir das wünschen können, müssen wir unser alltägliches Mensch-Sein erst einmal verstehen und schätzen lernen. Dabei kann diese Philosophie sicher helfen.

Jörg Phil Friedrich lebt in Münster und ist Philosoph und IT-Unternehmer. Er schreibt und spricht vor allem über technik-und wissenschaftsphilosophische Themen und Fragen der praktischen Philosophie (Ethik, politische Philosophie, philosophische Ästhetik). 

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