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Die unheimliche Macht des Begehrens

Worum geht es wirklich in der #metoo-Debatte? Auf den ersten Blick scheint die Sache klar zu sei. Seit Monaten reden wir über sexuelle Übergriffe, über Sexismus und sexualisierte Gewalt. Doch wir reden zuwenig über das eigentliche Thema, das hinter all dem steht. Wir reden zuwenig über Sex, genauer: über sexuelles Begehren.

Beginnen wir mit einer scheinbar banalen Feststellung. Menschen wollen Sex, sie begehren die Körper anderer, sie verfolgen sexuelle Absichten. Und sie haben sogar die bemerkenswerte Fähigkeit, sich Sex mit einer beliebigen anderen Person vorzustellen. Niemand kann sich ganz sicher sein, ob der Arbeitskollege, die Arbeitskollegin nebenan nicht gerade das heftige Verlangen verspürt, mit ihm Sex zu haben.

Seit Jahrtausenden wissen wir, was sexuelles Begehren anrichten kann. Es kann Menschen blind machen, ihren Verstand aushebeln, sie sogar in den Wahnsinn treiben. Für ein bisschen Sex setzen Menschen – ja, vor allem Männer – ihre Ehen und ihre Karrieren aufs Spiel. Sexuelles Begehren kann also gefährlich sein, es kann Menschen in Schwierigkeiten bringen, ihr Leben zerstören. All das ist heute so bekannt, dass wir es schon fast wieder vergessen haben.

Einst war sexuelles Begehren beschränkt durch soziale Unterschiede, Konventionen und Tabus. In unserer heutigen freien Gesellschaft kann theoretisch jeder mit jedem auf alle erdenklichen Weisen Sex haben; und täglich geraten wir in Situationen, die das auch praktisch ermöglichen. Die nahezu unbegrenzte sexuelle Freiheit schafft aber auch neue Möglichkeiten für Übergriffe – oder auch nur einschlägige Missverständnisse.

In der #metoo-Debatte, so behaupte ich, geht es im Kern um sexuelles Begehren. Das heißt natürlich nicht, dass es nicht auch um Macht geht, um die Geschlechterbeziehungen, um Sexismus oder Misogynie. Wir müssen klare Unterscheidungen treffen zwischen verschiedenen Formen der sexuellen Annäherung. Dennoch verstehen wir das Problem nicht richtig, wenn wir nicht verstehen, was sexuelles Begehren ist und was es mit uns macht.

Sexuelles Begehren verdinglicht

Sexuelles Begehren und Liebe sind bekanntlich nicht dasselbe. Man kann jemanden sexuell begehren, ohne ihn oder sie auch nur sympathisch zu finden. Man kann sogar mit jemandem  Sex haben, ohne seinen oder ihren Namen zu kennen, sein oder ihr Gesicht zu sehen. Diese Unverbindlichkeit, ja Anonymität von Sex mag man heute als befreiend sehen. Es liegt darin aber auch etwas Beunruhigendes.

Sex hat immer auch eine verdinglichende Dimension. Im sexuellen Begehren machen wir andere Menschen zu Objekten, und bisweilen sogar uns selbst, man denke an Vergewaltigungsfantasien, von denen manche Frauen berichten. Die Gefahren einer solchen Verdinglichung hat – lange vor den Feministinnen – schon Immanuel Kant gesehen.

Wer eine andere Person nur aus »Geschlechterneigung« liebe, so heißt es in seiner »Vorlesung zur Moralphilosophie«, der mache sie zum »Objekt ihres Appetits« – und das sei eine »Erniedrigung des Menschen«. Kant fand es daher notwendig, das sexuelle Begehren durch das Institut der Ehe einzuhegen, auf das allein das Recht gründe, von der »Geschlechterneigung Gebrauch zu machen«. Dass viele Vergewaltigungen innerhalb der Ehe stattfinden, kam Kant dabei allerdings nicht in den Sinn.

Die gesellschaftliche Verhältnisse haben sich seit Kant natürlich geändert; Sex außerhalb der Ehe halten heute nur noch wenige für unmoralisch. Gleichwohl hat Kant einen Punkt, der für die #metoo-Debatte von Bedeutung ist: Sexuelles Begehren für sich genommen läuft immer Gefahr, die andere Person zum reinen Lustobjekt zu degradieren. In seinem verdinglichenden Charakter liegt bereits eine Disposition zur Grenzüberschreitung, zum sexuellen Übergriff. Zum Glück sind wir allerdings nicht nur sexuell begehrende Wesen, sondern können andere Personen auch mit Respekt behandeln.

Menschen wollen Sex mit anderen haben. Nicht nur Männer, auch Frauen, intersexuelle Menschen und Trans-Menschen begehren. Das kann zu Missverständnissen und Verletzungen führen. Sexuelles Begehren kann, in bestimmten Konstellationen, auch gefährlich sein. Wer Macht über andere hat, der kann sein Begehren gegen den Willen einer anderen Person durchsetzen. Das sind dann Fälle wie Harvey Weinstein oder Dieter Wedel, von denen wir in der#metoo-Debatte reden. Das sind auch die vielen »alltäglichen« Fälle von sexueller Belästigung, etwa am Arbeitsplatz – also all jene Fälle, in denen sich vor allem Männer das »Recht« herausnehmen, sich das zu holen, was sie begehren.

Für eine zweite sexuelle Aufklärung

Wir brauchen sicherlich gewisse Regeln, um Menschen, vor allem Frauen, vor sexuellen Übergriffen zu schützen. Nicht alle können das selbst. Aber wir sollten es mit diesen Regeln zum einen nicht übertreiben. Zu unserem heutigen Verständnis von Freiheit gehört auch das Recht, anderen sexuelle Avancen zu machen; dazu gehört aber ebenso das Recht, solche Avancen zurückzuweisen. Bei all dem sollten wir menschlich bleiben, und das heißt hier zunächst: das sexuelle Begehren als ein zutiefst menschliches anerkennen, und zwar gerade in seiner ganzen Ambivalenz, in seiner beglückenden wie zerstörerischen Kraft.

Die sexuelle Aufklärung im biologischen Sinn haben wir gemeistert. Was wir heute brauchen, das ist eine zweite Aufklärung – eine sexuelle Aufklärung in einem neuen, humanistischen Sinn. Wir müssen ein Gespür entwickeln für die vielen Situationen, Kontexte und Konstellationen, in denen wir heute mit Sex, mit sexuellem Begehren konfrontiert sein können.

Jeder dieser Kontexte ist anders. Da ist die Wirkung von Alkohol oder Drogen, da ist ein Machtverhältnis, da die lockere Stimmung auf einer Betriebsfeier. Da sind die Myriaden von Pornovideos im Netz, von denen wir bis heute nicht genau wissen, wie sie unsere Vorstellung von Sex beeinflussen. (siehe auch:  Thomas Vašek: »Die totale Explizitmachung«, in der aktuellen Ausgabe 02/18)

Sexuelles Begehren können (und dürfen) wir nicht verbieten. Aber auch und gerade wenn wir sexuell begehren, müssen wir vertrauens- und respektvoll miteinander umgehen. Wir dürfen andere nicht bedrängen oder sie (und uns selbst) in verfängliche oder gar unangenehme Situationen bringen. Was geht und was nicht, das wissen wir eigentlich aus der Erfahrung des menschlichen Miteinanders. Die #metoo-Debatte erinnert uns daran, deshalb ist sie, trotz mancher Übertreibungen, eine der wichtigsten Debatten der letzten Zeit.

So frei wie heute war das sexuelle Begehren noch nie. Genau deshalb sollten wir aber in der #metoo-Debatte nicht nur über Sexismus und sexuelle Belästigung reden – sondern auch und nicht zuletzt über sexuelles Begehren und darüber, was es mit uns macht.   Thomas Vašek

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