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Was können wir gegen die Ohnmacht der Vernunft tun?

Die Vernunft hat es gerade schwer. Sie wird übertönt von rechtspopulistischen Parolen, von postfaktischen Reden, Fake-News und Stimmungsmache. Die HOHE LUFT-Redaktion hat Gedanken dazu gesammelt, was wir angesichts der Ohnmacht der Vernunft tun können. Was sind Ihre Vorschläge? Schreiben Sie uns, hier in den Kommentaren, auf Facebook, Twitter oder an redaktion(at)hoheluft-magazin.de. 

Pure Vernunft ist zu wenig

Wir sind die Verfechter der Vernunft. Auf der anderen Seite stehen die Idioten, die blind ihren Gefühlen folgen. Wir müssen ihnen die Augen öffnen für das Wahre und Gute! – Wer so denkt, verliert. Er zementiert die Kluft, die unsere Gesellschaft gerade spaltet. Er wird Undank ernten und den Vorwurf, arrogant zu sein und kein Ohr für die Sorgen »der Menschen« zu haben.
Ja, die vernunftgeleitete Suche nach der Wahrheit kommt derzeit zu kurz. »Gefühlte Wahrheit« hat zu viel Gewicht. Aber der Weg aus dieser Schieflage besteht nicht darin, das Gefühl mit der Vernunft zu besiegen – sondern darin, Gefühl und Vernunft wieder miteinander zu versöhnen.
Beim »wieder« in »wieder versöhnen« denke ich an den guten alten Platon, der in seinen Dialogen Mythos und Logos meisterlich miteinander verwoben hat. Die Dualität von Mythos und Logos ist zwar nicht identisch mit der von Gefühl und Vernunft. Aber beide Dualitäten sind verwandt. Menschen denken nicht nur in Tatsachen, Beobachtungen und Argumenten, sondern auch in Geschichten und Bildern – in Mythen eben. Diese Geschichten mögen nicht wörtlich wahr sein, und die Bilder nicht getreu der Wirklichkeit entsprechen. Aber in ihnen sind Muster des Menschlichen niedergelegt, die uns Orientierung geben können.
Orientierung ist gerade, wonach sich viele Menschen heute sehnen. Die Geschichten von früher – »Liberalismus bringt Wohlstand für alle«, »Europa wächst zusammen«, »Jesus erlöst uns«, usw. – funktionieren nicht mehr. Populisten wie Trump, die Brexit-Befürworter und die AfD erzählen Geschichten: schlechte, irreführende Geschichten. Oft sind es Geschichten von gestern, nationalistisch und autoritär. Man kann gegen diese Geschichten vernünftig argumentieren, aber das wird nicht reichen. Wir brauchen nicht nur mehr Vernunft, wir brauchen auch neue Mythen.

Tobias Hürter

Die deutsche Vernunft läuft dem Esprit hinterher

Wo Bilder, Atmosphären, Stimmungen regieren, hat da die Vernunft überhaupt noch eine Chance? Einst war es der Bildungsbürger, der auf das Veränderungspotenzial der vernünftigen Ideen einer rechtfertigungsfähigen öffentlichen Meinung setzte. An seine Stelle ist »die Elite« getreten, ein bunter Haufen Statusbewusster. Die Elite glaubt, mit der Autorität ihrer Ratio »das Verhältnis von natürlicher Überlegenheit und natürlicher Unterlegenheit ungetrübt abbilden« (Heinrich Popitz) zu können. Zwar fehlt es der deutschen Elite nicht an Gewissenhaftigkeit – wohl aber an Tempo.
Während die nationale Intelligenzija noch an ihren Argumenten feilt, hat Björn Höcke schon zehn »erinnerungspolitische Wendungen« gefordert, während sie noch dabei ist, die globalen Zusammenhänge rational zu durchdringen, hat Donald Trump tausendfach getweetet. Der amerikanische Präsident setzt auf Dekrete und eine neue, minder gelbstichige Haartönung – die deutsche Elite versucht es mit Vernunft. Und mit Humor. Leider scheint sie dabei in einem permanenten Treppenwitz gefangen. L’esprit d’escalier: so nannte Denis Diderot den geistreichen Gedanken, der einem erst am Fuße der Treppe durch den Kopf schießt (wenn die Tür schon zugeschlagen ist). Stufe um Stufe läuft die deutsche Vernunft dem Esprit hinterher. Bevor sie ihn packt, überlegt sie erst mal: Wie lacht man am klügsten über die Para-Logik von Populisten und anderen Verrückten?
Diverse erratische Bewegungen treppauf, treppab zeugen von einer Aufbruchsstimmung in der nationalen Humor-Industrie. Gesucht wird ein neuer, zeitgemäßer Witz – tot oder lebendig. Sibylle Berg erhebt plötzlich den Zeigefinger gegen die »aktuellen Angstmacher«. Und Michael Mittermeier zieht nicht mehr nur die CSU, sondern auch den Rassenhass durch den Kakao. Vielleicht ist »ernst« jetzt das neue »lustig«. Darf man da lachen? Soll man es tun? (Jetzt gleich oder lieber später, nachdem man alles sorgsam durchdacht hat?) Die Elite weiß: »Witz« kommt von »Wissen«. Alles Wissen aber nützt ihr nichts, wenn sie nicht gleich in der Tür ihr Hirn aufschlägt. Wenn die Vernunft eine ernstzunehmende Macht sein soll, müssen die Vernünftigen noch witziger werden. Noch schneller.

Rebekka Reinhard

»Gelegentlich sind wir alle dumm«

Wenn die Vernunft ohnmächtig ist, wer ist dann mächtig? Oft wird das Gefühl als Gegenspieler auf die Bühne gebracht. Aber es gibt noch andere, Eitelkeit zum Beispiel. Davon spricht der Schriftsteller Robert Musil in seiner Rede »Über die Dummheit«. Er hielt sie 1935 in Wien zum ersten Mal und brauchte damals den Faschismus in Europa gar nicht zu nennen, wenn er von den Verblendungen des Wir und »Affekten«, die »die Vernunft zerdrücken« sprach, war das schon ziemlich deutlich. Passenderweise wurde sie gerade neu verlegt.
Als wichtigstes Mittel gegen dieses Zerdrücken der Vernunft machte Musil etwas aus, das heute komisch klingt: »Bescheidung«. Was er meinte, war die Fähigkeit, sich vom Gegenteil überzeugen zu lassen. »Gelegentlich sind wir alle dumm«, sagt Musil, »wir müssen gelegentlich auch blind oder halbblind handeln, oder die Welt stünde still.« Unser Wissen und Können sind nunmal begrenzt und »wollte einer aus den Gefahren der Dummheit die Regel ableiten: ‚Enthalte dich in allem des Urteils und des Entschlusses, wovon du nicht genug verstehst!‘, wir erstarrten!« Aber wir müssen uns unbedingt bemühen, diese Fehler in »Grenzen zu halten und bei Gelegenheit zu verbessern, wodurch doch wieder Richtigkeit in unser Tun kommt.«
Vernunft bedeutet auch, über seinen Schatten springen zu können, Stolz und Eitelkeit zugunsten eines guten Arguments zu überwinden. Dafür ist eine Kultur wichtig, in der es kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke ist, öffentlich zu sagen: »Das wusste ich nicht«, »So habe ich das noch nicht gesehen« oder »Ich glaube, da haben Sie Recht«. Sturheit, Stolz oder eitle Eigen-PR als »Standhaftigkeit« zu bejubeln, führt nämlich auch in die Erstarrung.
Musil hat versucht, diesen Zusammenhang von Vernunft und Bescheidenheit auf eine Formel zu bringen und die klingt so: »Handle, so gut du kannst und so schlecht du musst, und bleibe dir dabei der Fehlergrenzen deines Handelns bewusst!«

Maja Beckers

When they go low, we go high!

Die Forderung nach einem linksliberalen Populismus, nach charismatischen Meinungsführern, die nicht den Verstand, sondern die Herzen ansprechen, scheint zwar die logische Reaktion auf den Rechtspopulismus zu sein und wahrscheinlich kommt man in bestimmten Kontexten mit Argumenten wirklich nicht weiter – beispielsweise, wenn es darum geht, überhaupt Aufmerksamkeit für sein Anliegen zu bekommen.
Wir sind keine rein-rationalen Wesen. Wenn vielleicht auch solche Menschen, denen Politik vorher völlig egal war, gerade eine erhöhte Dringlichkeit spüren, sich zu positionieren, ist das eine Chance, die bestimmt nicht nur auf Vernunftgründen basiert. Auch die Verfechter der offenen Gesellschaft haben Angst – vor einer geschlossenen Gesellschaft.
Trotzdem gehören wir nicht nur zur linksliberalversifften Gutmenschen-Lügenpresse, sondern unser Metier ist auch noch die Philosophie. Würden wir die Vernunft jetzt völlig aufgeben, weil sie offenbar gerade in einer Krise steckt und sich niemand mehr um sie schert, würden wir nicht weniger als unser Kerngeschäft aufgeben – ohne behaupten zu wollen, dass Philosophen sich lediglich mit Vernunft befassen oder ein Monopol darauf beanspruchen könnten.
Vernunft? – haben wir probiert, hat nicht geklappt. Die Leute wollten lieber einfache Antworten, eindeutige Feinde und ein zusammengesponnenes Weltbild, das sich gut mit dem Bauchgefühl verträgt. Trotz der Gefahr, pathetisch und auch etwas trotzig zu klingen, plädiere ich dennoch für eine jetzt-erst-recht-Mentalität. Trump und Co. mögen sich die Welt zurechtbiegen wie sie wollen und dafür gefeiert werden, deswegen ist es noch lange nicht richtig.
Es ist vielmehr so, dass wer sich selbst auf das kritisierte Niveau begibt, seine Glaubwürdigkeit verliert. Das hat Michelle Obama in ihrer Rede auf dem Parteitag der Demokraten im letzten Jahr so gut in dem Satz verpackt: When they go low, we go high! Wenn Populisten an die niedersten Regungen und Ängste appellieren, machen wir es ihnen nicht nach, sondern bleiben dabei, dass es uns nicht darum geht, Feindbilder zu schaffen, sondern um eine lebenswerte Gesellschaft für alle.

Greta Lührs

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Tipp: Unser ehemaliger Kolumnist Daniel-Pascal Zorn befasst sich seit längerer Zeit mit Logik, Argumentationstheorie und Rhetorik und untersucht die Argumentationen von Rechtspopulisten auf Pappkameraden, Bestätigungsfehler und andere Tricks und Fehlschlüsse. Gerade ist sein Buch »Logik für Demokraten« erschienen, in dem er uns Denkwerkzeuge an die Hand gibt, »um sich den Gegnern und Feinden demokratischen Denkens entgegenzustellen«. 

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