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Na logisch! Der Pappkamerad

Na logisch #3: Der Pappkamerad. Kolumne von Daniel-Pascal Zorn

Wenn Sie mit jemandem ernsthaft über ein Thema diskutieren und auf seine oder ihre Argumente antworten wollen, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Die erste Möglichkeit besteht darin, sich auf den Wortlaut seines Arguments zu beziehen. Die zweite Möglichkeit ist, sein Argument noch einmal mit eigenen Worten zu wiederholen und auf diese Wiederholung zu antworten. Die erste Möglichkeit führt oft zu Nebendiskussionen über Formulierungen, die als „Wortklaubereien“ wahrgenommen werden. Die Wiedergabe eines Arguments mit eigenen Worten, so die Vorstellung, zeigt an, dass man es auch richtig verstanden hat.

Aber mit dieser Vorstellung gibt es ein Problem. Denn derjenige, der ein Argument mit eigenen Worten wiedergibt, muss es dazu immer schon erst interpretiert haben. Er hat die Worte des Arguments durch eigene Worte ausgetauscht und kann dem Anderen dann z. B. unterstellen, so habe er es „eigentlich gemeint“. Die Praxis der Wiederinterpretation kann hilfreich sein, wenn beide Versionen nebeneinander betrachtet werden. Wenn ich sage: „In der Philosophie geht es um logische Explikationen“ und mein Gegenüber sagt mir, er übersetze das für sich vorläufig mit: „In der Philosophie geht es um das Verstehen pragmatischer Sprechweisen“, dann können wir beide in unseren jeweiligen Begriffsrahmen verbleiben und uns trotzdem verstehen. Sobald mein Gegenüber aber sagt: „Eigentlich meinst Du doch: Die Philosophie ist nichts anderes als Logik“, hat er sich mein Argument in seiner Interpretation angeeignet. Mein Argument ist unter seiner Interpretation verschwunden. Wird nun damit begonnen, diese Interpretation zu widerlegen, spricht man in der argumentativen Rhetorik von einem „Pappkameraden“ oder einem „Strohmann“.

Der Pappkamerad oder Strohmann heißt so, weil er ein bequemes Ziel darstellt. Ein unbewegliches Ziel aus Pappe kann man leichter treffen als ein bewegliches aus Fleisch und Blut. Und den Strohmann baut man auf und fackelt ihn dann unter großem Getöse ab.

Wenn jemand in einer Diskussion einen Pappkameraden einsetzt, dann kann das ganz verschiedene Fehldarstellungen des Arguments betreffen. Man kann jemandem z. B. eine All-Aussage unterstellen, die nie gemacht wurde. Aus dem Satz „Ich wurde gestern von einer alten Dame mit dem Regenschirm angegriffen“ wird „Alle alten Damen sind gewalttätig“. Oder man unterstellt jemandem eine Folgebeziehung, die er nicht behauptet hat. Aus dem Satz „Der Hund hat mich gebissen und ich hatte eine Wurst in der Hand“ wird der Satz „Der Hund hat mich gebissen, weil ich eine Wurst in der Hand hatte.“

Solche Fehldarstellungen unterlaufen häufiger im mündlichen Dialog, weil man in der schriftlichen Auseinandersetzung leichter das Gesagte nachprüfen kann. Dafür überwiegt im Schriftlichen die Unterstellung eines „eigentlich Gemeinten“. Wer etwa Falschbehauptungen im Internet zur Ausländerkriminalität widerspricht, dem wird unterstellt, er würde „eigentlich meinen“, dass es diese Form der Kriminalität gar nicht gibt. Das „eigentlich Gemeinte“ wird zu einem hermeneutischen Einfallstor für beliebige Interpretationen. Das kann dazu führen, dass ein noch so oft geäußertes Argument in einem bestimmten Diskurs nicht mehr wahrgenommen werden kann. Es erscheint vielmehr nur noch in der Gestalt, die der betreffende Diskurs ihm von vornherein verliehen hat.

Der Pappkamerad betrifft aber nicht nur Neuformulierungen oder Unterstellungen von Gemeintem. Noch häufiger anzutreffen ist das Zurechtmachen des Anderen durch persönliche Angriffe oder Unterstellungen. Erstere betreffen Eigenschaften der Person, von denen angenommen wird, dass sie von vornherein jede Äußerung verzerren. Beliebt etwa sind Herabwürdigungen von Aussagen, die von Studenten oder Professoren bzw. Wissenschaftlern getroffen werden. Regelmäßig kann man dann vom „akademischen Elfenbeinturm“ lesen, dem die Erfahrung in der „wirklichen Welt“ vollkommen abgeht. Oder ein Student wird pauschal disqualifiziert, weil er „der Allgemeinheit auf der Tasche liegt“. Das Spiel funktioniert aber auch anders herum. Dem „Hartz-IV-Empfänger“ wird Bildung oder soziale Verantwortung pauschal abgesprochen und so der Versuch gemacht, seine Aussage zu entwerten. Rechtschreibfehler, Bildungslücken oder der bloße Unwille zur insgesamt ironischen Haltung werden zum Anlass genommen, Argumente durchzustreichen.

Pappkameraden durch Unterstellungen betreffen unliebsame Ideologien oder gleich Versuche, den Anderen als irrational darzustellen. Man behauptet dann, er sei „nicht ganz richtig im Kopf“ oder bittet ihn, sich zu „beruhigen“ oder sich „nicht so aufzuregen“ (was denken Sie wohl, welche Wirkung allein mein Nachname auf bestimmte Diskussionen hat).

Pappkameraden entstehen aber nicht immer aus schlechten Absichten. Das zu unterstellen, wäre selbst ein Pappkamerad. Weit häufiger ergeben sie sich sogar aus dem Versuch heraus, ein Argument zu verstehen. So können sich hitzige Diskussionen um eine einzige Formulierung entspinnen: Wenn der Argumentierende sich nicht richtig wiedergegeben sieht – und derjenige, der sein Argument wiedergibt, sich diesen Versuch des Verstehens nicht nehmen lassen will. Pappkameraden mit dem Ziel, den anderen zu disqualifizieren, sind wiederum für Beobachter einer Diskussion deswegen interessant, weil sie Auskunft über seine Vorstellungswelt geben. Die Pappkameraden, die jemand verwendet, verraten oft mehr über ihn als das, was er in der Diskussion an Argumenten vorbringt. Sie verraten unausgesprochene Voraussetzungen oder Überzeugungen, die er als Kriterien an die Rede anlegt.

Die einfachste Weise, mit Pappkameraden umzugehen, besteht darin, sie als solche anzusprechen. Man kann das sehr diplomatisch tun, indem man dem anderen anzeigt: Ich fühle mich von Dir falsch wiedergegeben. Ist der Andere wirklich am Verstehen interessiert, wird er den Ausgleich suchen und der Dialog geht weiter. Werden Pappkameraden in polemischer Absicht eingesetzt, macht es Sinn, sie für andere Teilnehmer als solche zu markieren. Denn wer mit festen Feindbildern operiert, der wird diese Feindbilder auf kurz oder lang immer wieder einsetzen. Die Beliebigkeit dieses Einsatzes entlarvt dann das Argument auch für den stillen Mitleser als polemisches Mittel der Herabsetzung einer anderen Meinung allein deswegen, weil sie eine andere Meinung ist. Darin liegt der Feedback-Effekt des Pappkameraden: Weil er sich so bequem gegen eine Reihe von pauschal eingeordneten Argumenten einsetzen lässt, reduziert er umgekehrt die Vielfalt der Antworten. Er zeigt in seiner Wiederholung die Begrenztheit desjenigen an, der ihn einsetzt.

Ist es also besser, zur ersten Möglichkeit, dem genauen Bezug auf den Wortlaut, zurückzukehren? In Diskussionen, die keine akademische Aufmerksamkeit erfordern, dürfte das kontraproduktiv sein. Zumindest dann, wenn das gemeinsame Ziel nicht in der Analyse von Argumenten besteht. Man kommt aber ganz ohne Wortklauberei und ohne Pappkameraden aus, wenn man dem Argumentierenden einen neuen Kontext vorschlägt, in dem man sein Argument verstehen kann. Stimmt er zu, hat man vielleicht genau den Zugang gefunden, den man benötigt hat.

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